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Warum kreisen Planeten?

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Pierre Simon Laplace (1749–1827) machte auf das Problem der Drehimpulserhaltung aufmerksam und entwickelte daraus eine Theorie zur Erklärung der Planeten. Sie ist die erste mathematisch durchdachte Theorie der Entstehung des Sonnensystems. Laplace ging von einem Urnebel aus, der wie eine Atmosphäre die Sonne umgab. Weil sich der Nebel abkühlte, schrumpfte er, und weil der Drehimpuls erhalten blieb, rotierte der Nebel immer schneller. Dadurch flachte sich die Atmosphäre zu einer Scheibe ab. Die Fliehkraft wurde immer größer. Am äußeren Scheibenrand wog sie schließlich die Schwerkraft der Sonne auf, sodass sich ein Gasring vom Nebel löste, der ohne weitere Kontraktion kreiste. Nach einer Weile wiederholte sich der Vorgang, bis die Sonnenatmosphäre auf ihre heutige Größe schrumpfte. In den Ringen verdichtete sich die Materie zu Klumpen, wie das Immanuel Kant (1724–1804) schon 50 Jahre vor Laplace vorgeschlagen hatte. In jedem Gasring, so Laplace, war eine Verdichtung dominant und lagerte sich kleinere Nachbarn an. Sie wuchs zum Planeten. Weil der Gasring um die Sonne kreiste, musste dies mit gleicher Geschwindigkeit auch der Planet tun. Dieser zog weiteres Gas an, und nun geschah dasselbe nochmals im kleineren Maßstab. Es bildeten sich kleinere Körper, die den Planeten umkreisten und sich zu seinen Monden vereinten. Das restliche Gas blieb schließlich übrig als Planetenatmosphäre.

Die Theorie von Laplace wurde zu seiner Zeit stark beachtet. Kaiser Napoleon ließ ihn zu sich kommen. Diese Szene ist aus einer Anekdote bekannt, die Victor Hugo überliefert hat.8 Napoleon stellte ihn zur Rede, wie er die ganze Schöpfung erkläre, ohne je von Gott zu reden. Laplace gab die berühmte Antwort: »Sire, je n’avais pas besoin de cette hypothèse.«9 Anscheinend ging Laplace davon aus, dass er nun alle Erklärungslücken geschlossen habe. Die Aussage hatte eine für die damalige Zeit besondere Brisanz, widersprach sie doch den Vorstellungen eines Gottes, der wie ein Uhrmacher die Welt vor dem Anfang der Zeit erschuf und dessen Tätigkeit unerklärbare Lücken hinterlassen haben müsste.

Aber auch das Modell von Laplace ließ selbst für seine Zeitgenossen noch mindestens eine Frage offen: Wenn eine interstellare Wolke kontrahiert und als rotierende Scheibe ins Gleichgewicht kommt, kann diese nicht weiter zu einem Stern schrumpfen. Sie müsste genau wie ein Planet oder der Ring des Saturns – so warf James C. Maxwell (1831–1879) später ein­ – für immer kreisen. Die Erhaltung des Drehimpulses kann zwar erklären, wie sich kreisende Planeten bilden, verhindert aber die Entstehung von Sternen. Es schien keinen Grund zu geben, warum die Akkretionsscheibe zu einem Stern kontrahieren konnte. Warum blieb der Drehimpuls der Planeten konstant, jener der Sonnenmaterie aber ging verloren? Die Kant- Laplace-Theorie konnte das Entstehen der Planeten erklären, nicht aber wie die Sonne und andere Sterne aus dem Gas einer Akkretionsscheibe entstanden sind. Der Kritikpunkt war so überzeugend, dass sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine andere Hypothese in den Vordergrund drängte, die Idee einer Streifkollision mit einem anderen Stern, bei der die Planeten herausgeschleudert wurden.10 Heute wissen wir, dass Sternkollisionen äußerst selten sind. In unserer immerhin rund 13 Milliarden Jahre alten Milchstraße mit rund drei hundert Milliarden Sternen ist dies erst etwa hundert Einzelsternen wie der Sonne passiert.

Lange Zeit blieb die Entwicklung von Akkretionsscheiben zu Sternen völlig rätselhaft. Die heutige Astrophysik hat erst in den 1960er Jahren begonnen, die Ideen von Kant und Laplace weiter zu entwickeln. Seit zwanzig Jahren sind zwei reelle Möglichkeiten bekannt und zum Teil beo­bachtet worden, wie eine Akkretionsscheibe Drall abgeben und somit weiter schrumpfen kann.

Zunächst eine Zwischenbemerkung zur Wahrheit von naturwissenschaftlichen Theorien: Hat sich die Nebularhypothese von Kant und Laplace bewahrheitet? Gewiss hat sie sich gegen die Kollisionshypothese durchgesetzt. Von Wahrheit zu sprechen wäre jedoch zu viel. Naturwissenschaftliche Theorien sind nicht wahr oder falsch, sondern gut oder schlecht. Eine gute Theorie kann viele Beobachtungen erklären und regt zu neuen Messungen an, an denen sie geprüft werden kann. Die Nebular­hypothese hielt diesen Prüfungen im Großen und Ganzen stand. Die Kollisionshypothese hingegen wurde nicht bestätigt. Es stellte sich zum Beispiel heraus, dass Sonne und Planeten nicht die gleiche chemische Zusammensetzung haben. Die Sonne besteht vor allem aus Wasserstoff, die Erde hingegen aus Sauerstoff, Silizium und Eisen. Das war mit chemischer Trennung in der Akkretionsscheibe leicht zu erklären, hätte aber eine komplizierte Erweiterung der Kollisionstheorie erfordert. Die Kollisionshypothese war nicht völlig falsch, wenn auch mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht auf die Sonne anwendbar. Es zeigte sich nämlich, dass in kompakten Sternhaufen, den sogenannten Kugelsternhaufen, Sternkollisionen tatsächlich eine Rolle spielen. Der Vorgang wird heute mit numerischen Simulationen in großen Computernetzwerken modelliert. Wenn Sterne in Kollisionen auseinandergerissen werden, treten interessante Phänomene auf, aber es bilden sich keine erdähnlichen Planeten. Damit ist die Kollisionshypothese zur Entstehung des Sonnensystems endgültig vom Tisch.

Andrerseits ist die Laplacesche Theorie des schrumpfenden Urnebels längst überholt. Wolkenkerne, zum Beispiel, schrumpfen nicht, sondern kollabieren im freien Fall. Trotzdem war es die bessere Theorie, denn sie führte in Richtung Wahrheit. Wahr ist eine Aussage, wenn sie mit dem Sachverhalt übereinstimmt. Stimmte eine naturwissenschaftliche Theorie mit der Gesamtheit aller möglichen Messungen vollständig überein, würden wir sie wahr nennen. Messungen und Beobachtungen, wie sie in Molekülwolken und an entstehenden Sternen gemacht werden, können jedoch nicht der vollständige Sachverhalt sein, weil wir nie alles messen können. Wir kennen nur jenen Teil der Wirklichkeit, den wir beobachtet haben. Daher führt die naturwissenschaftliche Methode zu adäquaten Beschreibungen der mit ihr fassbaren Wirklichkeit, aber nie zu einer wahren Theorie. Theorien sind menschliche Konstrukte und nicht beweisbar. Oft sind sie nur mit einem Teil der Beobachtungen verträglich. Trotz unvollständiger und mangelhafter Daten einigt sich eine Mehrheit der Fachleute meistens auf eine Theorie. Der Grund ist keine geheime Abmachung, sondern die überwältigende Evidenz der Beobachtungsbefunde. Man darf Theorien in ihrer Vorläufigkeit nicht unterschätzen. Dank guter Theorien kann eine Raumsonde zu einem Kometen fliegen und mit Bodenproben zurückkehren.

Das Szenario der Stern- und Planetenentstehung aus Molekülwolken wird heute unter Fachleuten allgemein akzeptiert. Wie dies im Detail vor sich geht, hat jedoch noch keineswegs den Status einer guten Theorie, denn es gibt noch viele Lücken. Der Grund liegt in der Komplexität der Vorgänge, von der das Folgende einen Geschmack geben soll.


Abbildung 4: Aus der dunklen Molekülwolke in der linken unteren Ecke schießt ein Jet mit dreihundert Kilometern pro Sekunde nach rechts oben. Er hinterlässt eine helle Spur von geschocktem Gas und trifft schließlich auf das ruhende interstellare Gas außerhalb der Wolke. Dort, nach 5 Billionen Kilometern, verursacht er eine Bugwelle, die unter dem Namen HH-47 bekannt ist. Der Jet transportiert Drall von der Akkretionsscheibe ins interstellare Gas (Foto: J. Morse, HST, WFPC2, NASA).

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