Читать книгу Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1 - Astrid Rauner - Страница 10

Wiederkehrer

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Das Grab der Götter war eine Gruppe von vier Monolithen, die – teilweise dreihundert Fuß hoch – schon von weitem über den Wipfeln des Waldes zu sehen waren. Aigonns Wallach schnaubte in der Hitze des Nachmittags. Seit dem späten Vormittag hatte das steile, hügelige Land Tier und Reiter zu schaffen gemacht. Sobald man die fruchtbaren Auen um Aigonns Heimatsiedlung verlassen hatte, trat man ein in das ungezähmte, wilde Land seiner Ahnen. Riesige Wälder bildeten eine fast geschlossene Decke über der hügeligen Region. Lediglich Niedermoore und sumpfige Feuchtwiesen unterbrachen das Dickicht, bevor die Bäume sich Land und Boden zurückeroberten.

Beklemmung hatte Aigonns gesamten Körper erfasst. Es war dasselbe Gefühl, das jeden Menschen überkam, wenn er sich der ruhenden Kraft dieser Wildnis bewusst geworden war. Hier hatte kein Mann, keine Frau mehr Macht über den Lauf der Dinge. Die Wälder und Moore waren das Reich der Geister und menschenscheuen Wesen, die nur die wenigsten je mit eigenen Augen gesehen hatten.

Prüfend blickte Aigonn über die Wiese hinweg, die vor ihm lag. Sauergras und Heidelbeere verrieten ihm, dass tückische Sumpflöcher unter der dünnen Schicht Bewuchs verborgen sein konnten. Mit Missfallen hörte er das Schmatzen des Bodens unter den Hufen seines Pferdes. Er würde bald absteigen müssen.

Unbarmherzig brannte die Nachmittagssonne vom wolkenfreien Himmel. Aigonn erkannte von weitem das Gestein der vier Monolithen, das mit seiner goldgelben Farbe im Sonnenlicht leuchtete wie der Festschmuck der Fürsten. Es war eigenartig. Gäbe es nicht immer noch diese eine Erinnerung, die sich mit jedem Schritt voran immer schwerer verdrängen ließ, so hätte die Schönheit dieses Anblicks Aigonn wohl gefangen gehalten.

Doch das vermochte das Grab der Götter nicht mehr. Faszination und Ehrfurcht hatten einer Bedrückung Platz gemacht, die jeden Baum, jeden Strauch auf dem Weg zu den Monolithen zu umgeben schien. Immer wieder huschte Aigonns Blick nach hinten, zur Seite. Er wusste, dass so nah an der Grenze zur Anderen Welt nicht nur Damwild, Bären und Wildschweine die Wälder bewohnten – dazu die Monolithen wie vier steinerne Wächter über den Baumkronen.

Unwillkürlich kam Aigonn die alte Sage in den Sinn, welche diesem Ort ihren Namen gegeben hatte: Ein Krieg, am Anfang der Zeit, hatte zwischen den Mächten der Erde getobt. Ein Krieg um die Ordnung in der Welt, der Chaos und Verwüstung gebracht hatte, bis es den Göttern gelungen war, einen Stillstand zu erringen, eine Ordnung auf der Erde, die der heutigen gleichkam. Dutzende hatten ihre letzten Kräfte bei diesem Versuch gegeben. Und es sollen vier Geschwister gewesen sein, die auf dem Hügel, den Aigonn soeben bestieg, kraftlos zur Erde gesunken waren.

In Gestalt vierer Felsen warteten sie nun dort, bis die alte Ordnung wieder ins Wanken geraten, das Firmament auf die Erde stürzen, das Land sich auftun und schließlich das Meer alle Reste ihres großen Werkes verschlingen würde. Dann würde der Kampf von Neuem beginnen und ihm ein ungewisses Ende folgen – so wie jeder Mensch wiedergeboren wurde.

Das war es, was die Bärenjäger sich seit Generationen erzählten. Und als Aigonn den Wald vor sich aufgehen sah und die vier gewaltigen Felsen vor ihm lagen, schien es, als ob der letzte Hauch dieser alten Tage noch immer Teil des Ortes wäre.

Er nahm einen tiefen Atemzug, als er seinen Wallach anhielt und sich langsam auf den Boden rutschen ließ. Dort war er. Dort, wohin ihn die Nebelfrau gewiesen hatte. Der südlichste der vier Monolithen leuchtete golden in der Nachmittagssonne. Windböen verfingen sich immer wieder in den kleinen Ausbuchtungen und winzigen Felshöhlen, während der Wald leise flüsterte. Das Pferd schnaubte unruhig. Irgendwo, weit entfernt, hörte er Vögel in den Baumwipfeln singen. Doch viel näher als sie schien ihm ein feines, unterschwelliges Wispern – nicht auszumachen, woher es kam.

Beklommen ließ Aigonn den Strick seines Pferdes ins kniehohe Gras sinken. Sein Wallach rannte ihm nicht davon. Und wenn ihn an einem Ort wie diesem doch zu große Furcht übermannen würde, wollte er das Tier nicht halten.

Vorsichtig trat er fünf Schritte auf die kleine Lichtung hinaus, die sich nahe der Monolithen wieder in einem Wald mit undurchsichtigem Strauchdickicht verlor. Hier war er. Die Erinnerungen in seinem Kopf verselbstständigten sich beim Anblick dieses Ortes. Es wurde plötzlich Nacht in seinen Gedanken, die bedrückende Dunkelheit eines wolkenverhangenen Himmels. Nur fahles Mondlicht zwischen den Wolkenfetzen und das flackernde Licht einer Fackel erhellten die Lichtung. Damals hatte er sich geängstigt, hatte kaum mit seiner Mutter Schritt halten können, die voller Panik vorausgeeilt war …

Unwirsch schüttelte Aigonn den Kopf. Er war nicht hierhergekommen, um dieser längst vergangenen Nacht zu gedenken, sondern hatte den Weg auf sich genommen, um jemanden zu finden. Es stimmte ihn ärgerlich, dass dieser eigentliche Auftrag für ihn so schnell an Priorität verloren hatte.

Entschlossen ließ er das Pferd auf der Lichtung zurück und ging weiter auf das Dickicht zu. Nirgendwo verriet ein abgebrochener Ast oder niedergetrampeltes Gras, dass jemand vor Aigonn hier gewesen war. Doch es musste nicht sein. Das Schlachtfeld, auf welchem die Bärenjäger und Eichenleute zusammengetroffen waren, lag weiter westlich. Lhenia hätte genauso gut von einer anderen Seite das Grab der Götter erreichen können.

Aigonn hatte sein Schwert gezogen, um sich mit dessen stumpfer Seite einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Von Moos und Flechten bewachsen harrte der südliche Monolith, der Sternenfänger, zu seiner Rechten. Mit jedem Schritt, der Aigonn von der Lichtung mit seinem Reittier entfernte, schien die wirkliche Welt ein Stück weiter in die Ferne zu rücken. Unwirklich wiegten sich die Wipfel der Holunder-, Hasel-, Vogelbeer- und Dornensträucher im lauen Wind. Es schien Aigonn, als summten sie mit dem Wald eine alte Melodie. Die Vertrautheit, die ihr innelag, war ihm unheimlich. Immer mehr schien sie dem Wiegenlied zu gleichen, das seine Mutter gesungen hatte. So gut es ihm möglich war, lenkte er seine Aufmerksamkeit nach vorn, versuchte auf die Spuren der Wirklichkeit zu achten, dieser Welt, nicht der Anderen, die irgendwo, vielleicht direkt vor ihm, beginnen konnte, wenn seine Gedanken sich zu sehr von seiner Heimat entfernten.

„Lhenia?“ Der Ruf hallte leise von der Steilwand des Monolithen wider. Allmählich erkannte Aigonn vor sich die anderen drei Felsen aufragen, mächtig und bedrückend, als ob acht Augen jeden seiner Schritte verfolgten.

„Lhenia? Ich bin es, Aigonn. Nur ich. Ich bin allein. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben!“

Das Raunen des Waldes, das Singen des Windes, das Wispern der Sträucher, aber sonst hörte Aigonn nichts. Niemand antwortete. Nicht einmal ein Rascheln zwischen den Sträuchern, die so eng standen, dass keine Bewegung ungehört bleiben würde, gab einen Hinweis darauf, dass die junge Frau wirklich hier war.

Als Aigonn dem Zentrum zwischen den vier Steinen immer näher kam und seine Rufe keinerlei Reaktion hervorriefen, beschlich ihn allmählich eine düstere Ahnung. Sie ist gar nicht hier. Die Nebelfrau hat mich hierher gelockt, obwohl sie wusste, dass Lhenia nicht hier ist.

Doch was war, wenn Aigonn sich nun getäuscht hatte? Die Nebelfrau hatte das Grab der Götter an sich niemals erwähnt. „Aber sie kann keinen anderen Ort gemeint haben“, flüsterte er zu sich selbst. „Nirgendwo sonst ist man der Anderen Welt so nahe …“

Aigonn verstummte. Er konnte diesem Gefühl keinen Namen geben, doch es war – wie ein Fremdkörper – ihm plötzlich so nahe, dass sich all seine Körperhaare aufstellten. Ein Schauer überkam ihn. Ohne, dass er etwas dagegen tun konnte, versank der dämmernde Nachmittag in der Schwärze einer bewölkten Nacht. Er spürte die klamme, feuchte Kälte auf den nackten Armen unter seinem kurzärmeligen Hemd. Aigonns Atem ging stoßweise, während er seiner Mutter hinterherstolperte. Seine Mutter, die auf all seine Rufe nicht achtete und einfach vorwärtseilte. Sie hatte ganz vergessen, dass ihr eigener Sohn auf seinen kurzen Kinderbeinen nicht nachkam. Er teilte nicht dieselben Ängste wie sie. Er hatte nur bruchstückweise gehört, wie Rowilan zu seiner Mutter geeilt war, gesagt hatte, Derona wäre verschwunden …

In dieser Nacht hatte er sich nur gefürchtet, das Licht der Fackel in der Hand seiner Mutter aus den Augen zu verlieren. Er hatte ihre Panik gar nicht verstehen können, sie hatte ja nichts gesagt …

Wie ein Flackern mischte sich Wirklichkeit mit Erinnerung. Aigonn spürte gerade noch so, wie seine Füße mechanisch nach vorne liefen, schneller als er wollte auf den nördlichen der Monolithen zu. Die Bilder aus der lange vergangenen Nacht zuckten immer wieder vor die Realität. Aigonn wurde es schwindelig. Er war damals denselben Weg gelaufen. Alles in seinem Kopf schrie, dass er anhalten, nicht weitergehen sollte, doch die Beine gehorchten seinem Willen nicht mehr.

Der nördliche Monolith kam immer näher. Vor seinem geistigen Auge sah er Fackeln vor dem Fuß des riesigen Felsens in der kalten Nachtluft zucken. Irgendwo raschelten Steine in der Finsternis, weit oben. Er hörte, wie seine Mutter plötzlich voller Panik einen Namen in die Dunkelheit schrie, ihre Fackel zu Boden fiel. Noch mehr Steine fielen hinab, dann eine Gestalt. Wie ein gewaltiger Vogel war sie Aigonn damals erschienen, als die junge Frau den etwas weniger als einhundertfünfzig Fuß hohen Monolithen hinabstürzte, ihr Körper gegen den harten Stein schlug.

Das Knacken hallte wie ein Donnerschlag in Aigonns Ohren wider. Das Knacken, als ihre Knochen barsten. Unnatürlich verdreht lag sie im Schein der Fackeln auf dem Boden. Aigonn erkannte sie, seine Mutter, wie sie schreiend nach vorne stürzte.

Zwei tote Augen sahen Aigonn entgegen. Der letzte Glanz des Lebens haftete ihnen noch an, bevor er sich zu lösen begann, die Schwärze ihm nachfolgte. Damals hatte er nicht schreien können. Er war gar nicht alt genug gewesen, um zu begreifen, was dort geschehen war. Doch in sein Innerstes war eine Kälte gekrochen, die ihn noch heute zu Boden zwängen wollte.

Sein Blick hing auf den leeren Augen der Frau, jung wie sie damals noch waren. Seine Mutter, die in diesem Moment innerlich zerbrach.

Zwei kalte Hände klammerten sich um Aigonns Kehle. Alle Luft schien ihm aus den Lungen zu weichen. Sein Atem verwandelte sich in ein Röcheln, als sein Hals sich zuschnürte. Er keuchte, seine Lunge verkrampfte sich. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die ungeheure Kraft, die mit der Macht aller alten Verzweiflung auf ihm haftete, solange, bis der klamme Griff, der ihm den Atem raubte, plötzlich nachließ.

Aigonn schrie. Er konnte den Gefühlen keinen Namen mehr geben, die in diesem Moment aus ihm herausbrachen. Der ganze Ort, das Singen, das Raunen, alles schien sich in nackte Wände verwandelt zu haben, von welchen seine eigene Stimme wie ein ohrenbetäubendes Echo immer wieder zurückgeworfen wurde. Ein widerliches Kreischen schien sich dazwischen zu mischen …

Dann war es plötzlich vorbei. Keuchend öffnete Aigonn die Augen. Erst jetzt schmeckte er das Blut, das aus seiner aufgebissenen Lippe lief. Eiskalte Schweißperlen rannen seine Nase entlang, während er – auf beide Hände gestützt – zu Boden starrte.

Das plötzliche Gefühl, nicht mehr allein zu sein, ließ ihn ruckartiger als gewollt den Kopf zur Seite reißen. Und dort war sie. Ihre blauen Augen vor Schrecken geweitet kniete sie halb im Gras. Der rechte Arm schien nach Aigonn greifen zu wollen, war jedoch mitten in der Bewegung erstarrt. Ihr Ausdruck spiegelte Schockiertheit wider, Unverständnis. Einen Herzschlag lang starrte sie ihm in die Augen, bevor sie stotternd hervorbrachte: „Geht … geht es dir gut?“

Erst jetzt wurde Aigonn sich bewusst, was soeben geschehen war. Alle Eindrücke der Wirklichkeit schlugen auf ihn ein – das Keuchen, der pochende Schmerz in seinem überbelasteten, verletzten Arm, die gebrochene Rippe. Es raubte ihm ein weiteres Mal den Atem, bevor er sich auf sein Gesäß fallen ließ und einen Moment nach Luft schnappte.

Die junge Frau hatte sich in der Zwischenzeit wieder gefasst. Zwar lag ihrem Blick noch immer Misstrauen inne, doch ihre Stimme wirkte gefasster, als sie bemerkte: „Du solltest vorsichtiger sein, wenn du so unbedacht einen Platz wie diesen betrittst. Orte bewahren Erinnerungen lebendiger und besser als Menschen. Das hättest du bedenken können!“

„Das habe ich bedacht.“ Endlich hatte Aigonn seine Stimme wiedergefunden. Unwirsch schüttelte er den Kopf, um wieder Klarheit zu erringen. Dann hievte er sich auf die Beine, während ihm bewusst wurde, dass er vor der Person stand, die er gesucht hatte.

Auf den ersten Blick war sie die Lhenia, die ihm am Abend der Schlacht begegnet war. Der heilige rote Ocker, der sie zum Geschenk an die Götter machte, war noch immer über ihr ganzes Gesicht verschmiert und bildete einen sonderbaren Einklang mit den rot-blonden, leicht ausgeblichenen Haaren, die kaum schulterlang waren. Ein naturfarbenes Leinenkleid, mit einem dünnen, geflochtenen Ledergürtel auf Taille gebunden, umspielte ihren schlanken, fast mageren Körper, war jedoch über ihren bloßen Füßen dreckverschmiert und beinahe bis zu den Knien eingerissen.

Sie war es. Auf den ersten Blick hätte sie jeder als die Lhenia erkannt, die sie gewesen war. Lediglich der Ausdruck ihres Gesichts, als wäre ihr Geist plötzlich um Jahre gereift und gealtert, wollte nicht so recht in Aigonns Erinnerung passen – ebenso wie die Stimme, die ihm tiefer erschien. Doch darin konnte er sich täuschen.

Die junge Frau für ihren Teil schien sich unter Aigonns intensiver Musterung unwohl zu fühlen – überspielte dies aber, als sie ihre Stirn in Falten legte. „Mir erschien es nicht so, als ob du das bedacht hättest. Hast du sie nicht gesehen?“

Fragend sah Aigonn auf. „Gesehen? Wen?“

Die junge Frau war überrascht. „Sie, hinter dir, an deinem Hals … wirklich nicht?“

Verwirrt schüttelte Aigonn mit dem Kopf. „Wen soll ich denn gesehen haben?“

„Schon gut.“ Sie wandte sich von Aigonn ab. Dieser wollte bereits nachhaken, bevor er an ihrer Gestik erkannte, dass sie keinerlei weitere Erklärung geben würde. Mit einem Kopfschütteln warf er den letzten Rest der Beklemmung von sich ab und vertrieb – diesmal mit Erfolg – die prägnante Erinnerung in einen Winkel seines Kopfes. Ihm kam wieder in den Sinn, weshalb er eigentlich hier war.

„Lhenia!“ Die junge Frau lief noch einen Schritt weiter, bevor ihr einfiel, dass sie sich angesprochen fühlen musste. Dann drehte sie sich um.

„Lhenia. Eigentlich habe ich nach dir gesucht!“ Aigonn machte einen Schritt auf sie zu und erforschte ihren Blick, der im Moment lediglich abwartend war. Ihre Augen hatten eine ungeheure Tiefe gewonnen, bemerkte er wie nebenbei. Aigonn konnte sich nicht entsinnen, dies je bei der kaum siebzehnjährigen Lhenia bemerkt zu haben.

„Wirklich?“ Ihre Entgegnung klang nicht wie eine echte Frage. „Das wusste ich. Und ich hatte eigentlich nicht vor, mich finden zu lassen.“

„Scheinbar doch. Du brauchst mich nicht zu fürchten. Ich bin allein gekommen. Rowilan, Behlenos und die anderen wissen nicht, dass ich hier bin.“

Eine Erinnerung schoss Aigonn durch den Kopf. Wahrhaftig. Im Grunde wusste keiner, dass er hier war. Efoh hatte sich mit dem Gedanken abgefunden, dass sein Bruder irgendwann binnen der nächsten Tage den Weg wagen und an diesen Ort reiten würde – und im Grunde hatte Aigonn das selbst geglaubt. Er konnte nicht sagen, warum er sich auf einmal – kurz nachdem er den wenig erfreuten Behlenos damit vertröstet hatte, er könne mit seinen Brüchen kaum reiten und den Männern auf der Suche nicht behilflich sein – doch auf den Weg gemacht hatte. Und etwas Wahres hatte in seinen Worten gelegen: Die Verletzungen hatten ihm den Weg beschwerlich gemacht.

Doch dies war im Moment nicht wichtig. Die junge Frau antwortete auf Aigonns Bemerkung nicht, sondern duckte sich unter den Sträuchern weg, bis sie auf einer weiteren – jedoch beinahe zugewucherten – Lichtung am Fuße des nördlichen Monolithen ankam. Ein letztes Mal zuckte die Erinnerung vor Aigonns innerem Auge vorbei, eine Leiche, tote Augen. Er erkannte kurz die Stelle, an der die Fackeln im Boden gesteckt hatten, bevor er sich schnell abwandte.

Die junge Frau lief bis an den Fels heran, lehnte ihren Kopf gegen das golden schimmernde Gestein. Sie stützte sich auf einem Moospolster ab und ihr Blick verlor sich im Leeren.

„Ich komme aber nicht mit dir“, sagte sie nach einem Moment. „Nicht jetzt.“

„Warum nicht?“ Aigonn trat ein Stück an sie heran. „Lhenia, glaube mir, ich werde dafür sorgen, dass die anderen dich erst einmal in Ruhe lassen. Sicherlich hat es viel Aufhebens gegeben … Es erwacht ja nicht jeden Tag eine Tote zum Leben, aber … dein Vater freut sich trotzdem über alles, dass du …“

„Hör auf!“ Ihre Stimme brachte Aigonn zum Schweigen. „Hör auf damit, das hat keinen Sinn!“

„Lhenia, ich …“

„SEI STILL, HÖRST DU NICHT?“ Die junge Frau fuhr auf. Ihre plötzliche Reaktion ließ Aigonn einen Schritt zurückweichen, bevor sie ihm entgegenwarf: „Ich bin nicht Lhenia, verstehst du das? Ich bin das nicht! Diese Lhenia, wer auch immer sie gewesen sein mag, ist fort, in die Andere Welt hinübergetreten, um darauf zu warten, dass sie wiedergeboren wird!“ Ihre Stimme verlor an Härte und trug nun einen Hauch Unsicherheit mit sich. „Ich bin das nicht. Und ich weiß auch nicht, wer diese ganzen Leute sind, von denen du redest. Lass mich einfach gehen!“

Einen Herzschlag lang starrte Aigonn die junge Frau nur an. Wie, als ob es ihm helfen würde zu begreifen, wiederholte er in Gedanken. Sie ist nicht Lhenia … nicht Lhenia … Wer denn sonst?

„Wer bist du denn stattdessen?“, platzte es aus ihm heraus. Und kurze Zeit später bemerkte er, dass dies die falsche Frage gewesen war. Die Miene der jungen Frau verfinsterte sich. Sie zog sich ein Stück weiter in Richtung eines Strauches zurück und lehnte sich dabei an das riesige Moospolster am Fuße des Monolithen. „Ich fühle, wer ich bin. Wissen werde ich es bald. Ich verstehe zwar nicht, warum ausgerechnet dich das so beschäftigt, aber ich werde es dir sagen, wenn es so weit ist!“

„Kennst du die Geister, die im Nebel wohnen?“ Aigonn wusste nicht, warum er das auf einmal sagte. Selbst hatte er niemals mit einem Menschen darüber gesprochen. Doch ein Gefühl sagte ihm, dass dies der richtige Weg war. Und die Reaktion der jungen Frau bestätigte ihn. Sie horchte auf. „Die Geister, die nachts und in der Dämmerung als Dunstschwade über den Wiesen schweben? Ich glaube, du kennst sie. Und vielleicht solltest du wissen, dass sie mit mir reden.“

Die Entschlossenheit in den Augen der jungen Frau hatte zu bröckeln begonnen. Es schien, als ob Erinnerungen in ihren Gedanken aufflackerten. Einen Herzschlag lang wirkte sie angreifbar wie ein Kind, bevor sie fragte: „Was haben die Nebelgeister dir gesagt?“

„Dass ich nach dir suchen soll, alleine, hier – sonst hätte ich dich wohl nicht gefunden.“

„Und sonst?“

„Nichts.“ Die Art, wie Aigonn die Augenbrauen hochzog, verriet Missfallen. „Sie sind nicht sehr gesprächig, musst du wissen.“

Die junge Frau hielt einen Moment inne. Ihr Blick zeigte, dass der Entschluss, nicht mit Aigonn zu gehen, ins Wanken geriet. Es dauerte lange, bis sie zögerlich sagte: „Ich werde dich ein Stück begleiten.“

Mehr war es nicht. Und viel mehr sagte sie auch nicht zu Aigonn – ganz egal, was dieser fragte – bis sie den friedlich grasenden Wallach etwas abseits der Lichtung des Sternenfängers erreicht hatten.

Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1

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