Читать книгу Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1 - Astrid Rauner - Страница 11

Heimkehr

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Der Wallach keuchte mindestens so sehr wie auf der Hinreise. Obgleich nun die Abendsonne als roter Glutball über dem Horizont hing, war es nun das Gewicht zweier Menschen, das das falbfarbene, kleine, aber im Grunde doch stämmige Tier belastete. Aigonn kraulte ihm immer wieder den Widerrist unter der dunkelbraunen Mähne, während das Tier den Hang des Hügels hinabtrabte.

Der Wald, der Aigonn und die junge Frau umfing, war licht – sonst wären sie wohl nicht mit einer solchen Geschwindigkeit vorangekommen. Von weitem erkannte Aigonn, wie der Strom der Rur die nahen, leicht sumpfigen Flussauen durchschnitt. Bis die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, würden sie die Siedlung der Bärenjäger erreicht haben. Aigonn hoffte dies zumindest.

Die ersten Schreie der Waldkäuze durchbrachen das Dämmerlicht des Abends. Aigonn fühlte die erste, frische Kühle auf seinen Armen, während nur der Atem gegen seine Haare und der Griff um seine Taille verriet, dass die junge Frau noch immer hinter ihm auf dem Pferd saß.

Schweigend verfolgte sie den Ritt, in ihre eigenen Gedanken versunken. Aigonn hatte es aufgegeben, ein Gespräch mit ihr zu beginnen – geschweige denn tiefere Fragen zu stellen. Denn sie antwortete nicht. Aigonn blieb somit allein mit seinen Gedanken – und den Erinnerungen, die ihn weiter verfolgten.

Die Wirkung des Erlebnisses an diesem Nachmittag war immer noch nicht von ihm gewichen. Seine Finger fühlten sich unsicher an, während sie die Zügel festhielten. Es wurde Zeit, dass sie die Siedlung erreichten!

Während die Sonne hinter den Horizont sank, fiel es Aigonn immer schwerer, den Weg zu erkennen. Er verließ sich zum Teil auf den Instinkt des Pferdes, das ihm schon einmal in einer solchen Lage gute Dienste getan hatte. Doch als die ersten Nebelschwaden im Zwielicht aufstiegen, musste er sich eingestehen, dass sie vom Weg abgekommen waren.

Erst als er unruhig zu werden begann und immer wieder an markanten Wegpunkten Halt machte, um sich umzusehen, fragte die junge Frau: „Haben wir uns verirrt?“ Ihre Stimme zeigte keinerlei Beunruhigung. Viel mehr erweckte es den Anschein, als erwache sie gerade aus einem langen Schlaf – was Aigonn jedoch bezweifelte. Seine Antwort sollte sicher klingen: „Wir haben einen kleinen Umweg genommen, stelle ich fest. Ich glaube aber zu wissen, wo wir sind.“

„Schön.“ Ihre Stimme verriet dezenten, aber amüsierten Spott.

„Ich weiß es wirklich!“, bestärkte er seine Worte mit Nachdruck, während er zu ihr nach hinten sah. „Wir sollten uns nur vorsehen, den Jägern der Nacht nicht zu begegnen.“ … und was sich sonst noch alles herumtreibt.

Damit lenkte Aigonn das Pferd herum, suchte sich einen Weg in der Nähe des Waldrandes – noch weit genug entfernt davon, um nicht in einen möglichen Sumpf zu geraten – und folgte im Zwielicht einer Mischung aus Wissen und Ahnung, wohin sie zu reiten hatten.

Als die Rur wieder zwischen ihren Flussauen auftauchte, war Aigonn erleichtert. Die Bäume und der dichte Uferbewuchs verrieten ihm, dass der Boden an Stabilität gewann und sie bald würden im Freien reiten können. Je weiter er jedoch der Flussaue folgte, desto mehr beschlich ihn ein Gedanke. Das Strauchwerk, das eigentlich überall wachsen sollte, war von Menschenhand entfernt worden. Kleinere Äcker bestätigten diese Ahnung. Wir können noch gar nicht so weit geritten sein. Die Äcker unserer Siedlung sind anders gelegen, die Rur nimmt einen anderen Lauf. Hier beginnt nicht unser Siedlungsland!

Auf einmal durchbrach flackernder Feuerschein die aufziehende Dunkelheit. Aigonn spürte, wie ihm das Herz in den Magen zu rutschen schien. Selbst von weitem erkannte er in dem zuckenden Fackellicht die gewaltige Eiche, die am Rand einer schlecht befestigten Siedlung thronte.

Sie waren es, die Eichenleute. Niemand sonst grub jene mächtigen Bäume aus dem Boden der Wälder, um sie in die eigenen Siedlungen zu pflanzen. Es dauerte kaum zehn Herzschläge mehr, bis er das erste Echo leiser Stimmen vernahm. Die Nachtwache lief heiter und scheinbar leicht angetrunken an den Palisaden vorbei. Die Fackeln in ihren Händen wanderten, als ob Sterne vom Himmel fallen würden.

So leise er konnte, zügelte Aigonn sein Pferd und brachte es augenblicklich zum Stillstand. Er hörte Besorgnis in ihrer Stimme, als die junge Frau in sein Ohr raunte: „Es scheint nicht so, als ob wir in deiner Heimat angekommen wären.“

„Nein, wahrhaftig nicht.“ Lautlos drückte Aigonn seinen linken Fuß gegen das Fell des Pferdes, worauf dieses zurück in Richtung Waldrand lief. „Hier wohnen Menschen des Stammes, vor dem du uns gerettet hast, als du so unvermutet in die Schlacht eingegriffen hast.“

Als Aigonn die frisch aufgeschütteten Grabhügel erkannte, die nahe der Palisaden wie verlassene Wohnstätten ihrer Ahnen in der Dunkelheit lagen, fügte er in Gedanken hinzu: Und ich glaube nicht, dass sie erfreut sein werden, uns zu sehen.

Er hörte den Herzschlag in seinen Ohren pochen, als die Dunkelheit ihn und die junge Frau wieder verschluckt hatte. Einen Feuerstein hatte er mit sich genommen – nur wollte Aigonn nicht so töricht sein und sich durch ein offenes Feuer verraten. Würde er allerdings weiterhin im Dunkeln reiten, konnte er nicht sehen, wo knackende Äste und raschelnde Sträucher wuchsen. Sein Pferd konnte ja nicht ahnen, was sie gerade riskierten – auch wenn es Aigonns Anspannung spürte.

Mit jedem Schritt durch das Unterholz schickte Aigonn ein Gebet gen Himmel und in die Erde hinab. Sein Blick verfolgte wie gebannt die beiden Wachposten, deren Fackeln ihre Position verrieten. Zwar wusste er, dass er damit sein Pferd verwirren und womöglich noch in die falsche Richtung lenken konnte, doch die unterschwellige Panik in ihm war stärker als sein Wille.

Langsam entfernten sich die Wachposten, sie zogen an der Siedlung vorüber. Aigonn atmete auf.

Plötzlich aber scheute der Wallach. Ein Lichtfleck, eine Fackel, schoss so unvermutet aus dem Dickicht des Waldes hervor, dass das Pferd vor lauter Schreck aufwieherte und mit den Vorderhufen ausschlug.

Aigonn konnte sich kaum auf dem Pferderücken halten. Die junge Frau sog scharf die Luft ein, während sich ihr Griff um seine Taille verstärkte. Einen Herzschlag lang wedelte er hilflos mit den Zügeln, bevor das Pferd seine Vorderbeine wieder auf den Boden setzte – und er erkannte, was ihnen unvermutet vor die Hufe gekrochen war.

Ein junger Mann, eher ein Halbwüchsiger, saß geduckt auf dem Boden und klammerte sich an seine Fackel, als ob diese sein Leben retten würde. Erschrocken lugte er in die Dunkelheit. Eine breite Schnittwunde auf seiner Wange wirkte sonderbar unpassend in seinem jugendlichen, von Pusteln übersäten Gesicht. Zusammen mit dem Schwert an seinem Gürtel bewies sie, dass er die Kriegerweihe längst abgelegt hatte.

Für einen Moment schien die Zeit eingefroren. Die Hand des jungen Eichenkriegers zitterte wie Espenlaub, als er es wagte, die Fackel zu heben – und was er in ihrem Schein erkannte, schockierte ihn noch viel mehr.

Seine Augen schienen aus ihren Höhlen zu fallen. Er saß wie versteinert, bevor er plötzlich die Fackel fallen ließ, stolpernd auf die Beine kam und mit einer solchen Panik zur nahen Siedlung rannte, als wäre ihm ein böser Geist auf den Fersen.

Aigonn wartete nicht. Als die Schreie des Halbwüchsigen über die Palisaden drangen, galoppierte er in den Wald hinein, wie er es noch nie getan hatte. Die junge Frau hatte sich geduckt und ihren Griff nicht gelockert, sodass sie nun zwischen seinem Arm und der Armbeuge hindurchlugte, als sie fragte: „Was bitte hat er gesehen, dass er solche Angst bekommen hat? Er hätte doch als Krieger wenigstens reagieren und uns drohen können. So jung war er doch nun wirklich nicht mehr!“

„Dich vermutlich.“ Gehetzt glitt Aigonns Blick immer wieder nach hinten, wo die Dunkelheit des Waldes ihre Spuren bereits verschluckt hatte. Laute Stimmen aus der Siedlung machten deutlich, dass man die Verfolgung nach ihnen aufnahm. Doch mit jedem Herzschlag, den das Pferd am Waldrand durch das Dickicht jagte, wurde ihr Vorsprung größer.

„Ich könnte mir vorstellen, der Winzling wird bei der letzten Schlacht gegen Behlenos dabei gewesen sein. Du scheinst einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.“

„Ist das jetzt gut?“

Ihre Stimme war so ruhig und gelassen, dass es Aigonn allmählich unheimlich wurde.

„Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen.“

Der Sprung über einen umgefallenen Baum schüttelte die beiden Reiter durch, bevor Aigonn endlich die Muße hatte, um auf seine Umgebung zu achten. Die Schwärze der Nacht hatte alle Farben verschlungen. Das blasse Mondlicht, das manchmal als Lichtsäule zwischen lichten Baumkronen zu Boden fiel, ließ genügend Silhouetten erscheinen, dass Aigonn sich nicht nur auf den Instinkt des Pferdes verlassen musste.

Eine Weile führte ihr Weg ins Ungewisse, bevor im Mondschein ein alter Menhir erschien. Eine Decke aus Moos und Flechten hatte den uralten Stein überzogen, den Aigonns Ahnen vor Jahrhunderten schon an dieser Stelle aufgerichtet hatten, und gab ihm weiche, fast unwirkliche Konturen.

Erleichtert atmete er auf. Zwar hatte Aigonn die Siedlung der Eichenleute nicht gekannt, an welcher sie vorbeigeritten waren. Doch er hatte bereits geahnt, dass sie sich von dieser Richtung seiner Heimat nähern würden. Der Umweg war gewaltig gewesen. Mitternacht musste längst erreicht sein.

Er bremste das Pferd auf einen zügigen Schritt, als zwischen den letzten Bäumen des Waldrandes endlich die vertrauten Lichter von Aigonns Siedlung erschienen. Noch ein letzter Gedanke wanderte zurück zu den Eichenkriegern, die ihre Spur schon lange verloren hatten. Ob sie von der Siedlung seines Stammes wussten, die in solcher Nähe zu ihrer eigenen lag? Kannte man den Weg quer durch den Wald, würde man nicht einmal von Sonnenaufgang bis zum Vormittag brauchen, um im Feindesland zu sein. Behlenos würde diese Neuigkeit interessieren!

Sie befanden sich gerade auf Höhe der Holunderbüsche, wo die Nebelfrau Aigonn erschienen war, als die junge Frau bat: „Halt bitte an!“

Überrascht wandte Aigonn sich um. „Kommst du nicht mit mir?“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. In der Dunkelheit war ihr Gesicht nur ein schwarzer Schatten vor den grauen Umrissen des Waldes. „Es ist noch nicht die richtige Zeit dafür gekommen. Aber sorge dich nicht. Ich lasse euch nicht im Stich.“

Aigonn wusste nicht, was er antworten sollte. Im Grunde wusste er gar nichts. Die Nebelfrau hatte ihm lediglich aufgetragen, die junge Frau zu finden, bevor es andere seines Stammes taten. In dieser Welt fernab des Menschenmöglichen erhielt man ja keine Antworten auf seine Fragen!

Der kurze Verdruss verflog, als die junge Frau fast lautlos vom Rücken des Pferdes rutschte. Als Aigonn sie drei Schritte durch das hohe Gras streifen sah, erschien es ihm einen Herzschlag lang so, als ob doch Lhenia zu ihnen zurückgekehrt wäre. Anders als früher, anders als in seinen Erinnerungen, doch sie und niemand sonst.

Der Eindruck verging. Sie blickte sich noch einmal zu Aigonn um, als ob ihr noch etwas auf den Lippen läge. Doch sie schwieg. Schwieg, bis Aigonn zum Abschied nickte, sein Pferd bereits in Richtung Siedlung laufen ließ, bevor sie ihm doch noch hinterherraunte – mehr zu sich selbst: „Es scheint ja so, als ob ich nicht ganz ohne Grund hier wäre.“


Als Aigonn an den Palisaden seiner Siedlung um Einlass bat, begrüßte ihn der Wachposten mit einem angestrengten Ausdruck auf dem Gesicht. Auf eine Nachfrage von Aigonn hin schwieg er. Doch die Reaktion ließ vermuten, dass man den Bruder des Efoh bei den Bärenjägern unlängst vermisst hatte.

Gedanklich hatte Aigonn genügend Zeit, sich auf einen unschönen Empfang vorzubereiten, während er das Pferd in die nahen Stallungen brachte. Doch als er das Haus seiner Mutter betrat, war all dies zwecklos gewesen.

Die halbe Siedlung schien sich um das kleine Herdfeuer versammelt zu haben. Seine Mutter saß teilnahmslos summend dazwischen, als ob sie gar nicht dazugehörte. Links von ihr hockte Behlenos selbst auf den weichen Bärenfellen, einen Becher Met in den Händen, den er missmutig wiegte, bis er Aigonn eintreten hörte.

Seine Miene verfinsterte sich augenblicklich. Der scharfe Blick aus den Augen Rowilans, welcher an der Seite seines Fürsten saß, verhieß Aigonn nichts Gutes. Sämtliche Krieger aus dem höchsten Rat, Frauen und Alte hatten sich um seine Mutter gescharrt, hielten sie in den Armen, wie um ihr die Trauer um ihren verstorbenen Sohn zu nehmen, der in diesem Moment lebend in der Tür stand. Irgendwo saß Efoh dazwischen, eine Mischung aus Verwirrung und Missgunst über den derzeitigen Zustand im Gesicht.

Behlenos’ Stimme bot keinen Raum für Nachsicht, als er Aigonn voll Zorn begrüßte: „Ach, sieh an! Wer kehrt denn so spät noch von einer Reise zurück?“

Aigonn wusste nicht, was er antworten sollte. Zögerlich wagte er sich bis neben das Regal vor, bevor sein Fürst auf die Beine sprang und ihn anschrie: „WO, BEI ALLEN GÖTTERN, BIST DU GEWESEN? Warst du es nicht, der mir noch heute Nachmittag erzählte, er könne nicht mit uns reiten und seinen Kriegern beistehen, weil ihm die Verletzungen zu schwer zu schaffen machen?“

„Ich bin in den Wald hinaus gelaufen, um nach Brennholz und Kräutern für meine Mutter zu suchen.“ Etwas Geschickteres fiel Aigonn nicht ein. Widerwillig bemerkte er die Unsicherheit in seinen Worten. Und bereits, als er ihnen noch einen Satz hinzufügte, spürte er, dass niemand ihm glaubte. „Das Pferd habe ich als Lasttier mitgenommen.“

„Ach wirklich?“ Ein gefährliches Funkeln blitzte in Behlenos’ Augen auf. Drohend trat der Fürst an Aigonn heran, sein Atem fuhr ihm ins Gesicht, als wolle Behlenos ihm den Pesthauch entgegenjagen. „Vielleicht solltest du nicht vergessen, dass wir uns noch immer im Krieg befinden!“

Als die erste Wut von ihm abgefallen war, erkannte Aigonn endlich, was der wahre Grund für Behlenos’ Aufruhr war. Unruhe und Rastlosigkeit sprach aus den Zügen aller Anwesenden – mit Ausnahme seiner Mutter vielleicht, die eines der Jagdmesser seines Vaters in den Händen hielt und es leise singend polierte.

Die Stimme des Fürsten hatte etwas an Härte verloren, als er erklärte: „Die Eichenleute sind außer sich. Auf unserer Suche nach Lhenia haben wir beobachtet, wie verstreute Kriegerscharen in hellem Aufruhr in Richtung unserer Siedlungen geritten sind. Wir waren genug, um einen kleinen Trupp aufzuhalten, aber dabei sind ihnen Tarages und Rhenward zum Opfer gefallen.“

Erschrocken sah Aigonn auf. Die beiden jungen Männer waren kaum älter als Efoh gewesen. Der jüngere, Tarages, hatte ihm selbst Zeit seines Lebens immer zur Seite gestanden, war da gewesen, wenn kein anderer sonst für Aigonn eine Hilfe gewesen wäre. Taubheit legte sich über sein Gesicht. Aigonn wusste, dass kein echter Schmerz sein Fleisch erfasste. Doch jener, der so plötzlich aus seinem Inneren hervordrang, siegte über seinen Verstand.

Er hörte kaum mehr zu, als die Wut ein weiteres Mal in Behlenos aufloderte und der Fürst ihn anfuhr: „NIEMAND WIDERSETZT SICH IN DIESEN TAGEN MEINEN BEFEHLEN, verstehst du das? Und ich lasse mich schon gar nicht von einem wie dir zum Narren halten!“

Aigonns Augen leerten sich. Er sah weder seinen Fürsten, die anderen Menschen, noch Efoh, der ihm aus der Menge besorgt entgegenblickte. In seine Gedanken drängte sich eine Erinnerung, ein braunhaariger, junger Mann, hager, schweigsam, doch stets mit einem Lächeln auf den Lippen, das außer Aigonn nur wenige bemerkten. Ein Junge, den man übersah, wenn man es wollte, unauffällig, doch der einzige, dem Aigonn je alles erzählt hatte. Tarages hatte mehr gewusst als Efoh. Aigonns kleiner Bruder hatte den Gleichaltrigen immer eifersüchtig beäugt, da er wusste, welches Vertrauen Aigonn diesem im Gegensatz zu ihm entgegenbrachte. Aber wirklich viel gesprochen hatten sie all die Jahre über nicht. Tarages war kein Mensch großer Worte gewesen. Doch wann immer er gespürt hatte, dass Aigonn nach einem Vertrauten suchte – damals, als sein Vater verschwunden war und seine Mutter den Bezug zur Realität verloren hatte –, war er da gewesen. Aigonn konnte die Schuld nicht ermessen, die er dem jungen Krieger noch immer zu begleichen hatte. Und nun war er fort, Aigonns Chance vertan. Auch wenn er binnen des letzten Monats kaum mit Tarages gesprochen hatte. Die Lücke, die er plötzlich spürte, war unsäglich …

„Aigonn!“ Die scharfe Stimme seines Fürsten brachte ihn zurück in das Hier und Jetzt.

„Aigonn, wo ist sie?“

„Was?“ Seine Unwissenheit war keine Schauspielerei. Aigonns Gedanken hatten so fernab jeglicher Realität verharrt, dass Behlenos ungeduldig seine Frage wiederholen musste, bevor Aigonn verstand, was man von ihm wollte.

„Wo ist Lhenia? Ich weiß, dass du sie gefunden hast. Welchen Grund hättest du sonst haben können, ohne uns aus der Siedlung zu reiten? Genauso gut hättest du uns folgen können, aber du hast es nicht getan. Also, wo ist sie?“

Einen Moment lang war Aigonn verführt, dieselbe Ausrede zu gebrauchen, die ihm schon bei seiner Ankunft in den Sinn gekommen war. Doch beim Anblick seines Fürsten und der umstehenden Krieger spürte er, dass es zwecklos war.

„Ich habe sie gefunden“, antwortete er zögerlich. „Beim Grab der Götter. Aber sie wollte nicht mit mir kommen.“

„Hast du sie nicht einfach mit dir genommen? Hat sie etwas zu dir gesagt?“ Behlenos’ Interesse war geweckt. Der Zorn schien im Angesicht dieser Informationen an hintere Stelle getreten zu sein.

„Sie hat nicht viel gesprochen. Lhenia misstraut uns und möchte nicht zurückkommen. Sie hat Angst, ihr könntet ihr wegen der merkwürdigen Umstände ihrer Wiederkehr etwas antun. Ich habe ihr versichert, dass es nicht so ist, aber sie wollte nicht.“

Die Lügen nun mit halben Wahrheiten zu spicken, fiel Aigonn leichter, als eine neue Geschichte zu erfinden. Einen Herzschlag lang gewann er den Eindruck, Behlenos würde ihn durchschauen. Doch der Fürst begnügte sich erstaunlicher Weise mit dieser Antwort. Vorerst wohl.

„Dann wissen wir wenigstens, wo wir sie finden. Ich werde mich morgen selbst aufmachen und ihr unsere guten Absichten versichern.“ Der Fürst wirkte ermüdet. Erst jetzt bemerkte Aigonn die schwarzen Schatten unter seinen Augen, die ihn optisch um Jahre altern ließen.

Trotz allem atmete er auf, als Behlenos seinen Rat zu sich befahl und sie nacheinander das kleine Haus verließen. Nur Efoh und seine Mutter blieben zurück und sahen zu – der eine mehr, die andere weniger – wie Aigonn sich auf das Bärenfell fallen ließ. Der Pelz strahlte noch immer die Wärme des Kriegers aus, der zuvor an diesem Platz gesessen hatte. Wie durch den Schleier eines Traumes hindurch musterte Aigonn die plattgesessenen Haare. Tarages war tot. Nun auch noch er.

„Behlenos treibt es wirklich zu weit mit dir!“

Aigonn sah auf. Er hatte nicht bemerkt, wie einer der Krieger in der ersten Hälfte des Hauses zurückgeblieben war und nun mit finsterem Gesicht an dem Regalaufbau lehnte. „Es mag sein, dass dir ein sonderbarer Ruf anhängt und du manchmal bei ungewöhnlichen Vorfällen direkt danebenstehst, oder -liegst …“ Ein Lächeln huschte über seinen von einem Vollbart umgebenen Mund. „… aber das ist kein Grund, dich zum Sündenbock für jede übernatürliche Erscheinung in diesem Land zu machen.“

Aigonn nickte schweigend. Er kannte den Alten. Aehrel war mit seinen achtunddreißig Jahren ein reifer Mann, einer der Ältesten unter Behlenos’ Beratern und gelegentlicher Gehilfe Rowilans, verteidigte seine Position als Krieger jedoch schon seit Jahren vehement gegen alle jüngeren Anwärter. Graue Strähnen durchzogen sein struppiges, schulterlanges Haar. Doch sonst bot sein stämmiger, muskulöser Körper kaum Anzeichen dafür, wie alt Aehrel bereits war.

Als er andeutete, sich wieder zurück in die nun deutlich geschrumpfte Runde zu setzen, holte Efoh vier tönerne Becher, füllte drei davon mit frischem Bier, das er selbst gebraut und in einem Fass in einer Ecke aufbewahrt hatte, und verteilte die Getränke. Seiner Mutter füllte er den Becher mit Milch, stieß damit behutsam gegen ihre polierenden Hände und wartete, bis sie – ohne hinzusehen – danach langte. Einen Herzschlag lang beobachteten alle Anwesenden ihre ungelenken Bewegungen, als sie trank. Dann sagte Aehrel mitfühlend: „Es tut mir Leid um die beiden Jungen, die heute sterben mussten. Man wird sie morgen angemessen auf ihre Reise in die Andere Welt vorbereiten.“

Wieder nickte Aigonn nur. Seine Gedanken waren nicht anwesend, als er nippend das Bier hinunterschlürfte. Bis er schließlich blinzelte und Aehrel fragte: „Was genau ist eigentlich geschehen, dass die Eichenleute uns so zürnen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nur wegen dem Affront von Behlenos plötzlich wieder so außer sich geraten.“

„Wenn ich das wüsste!“ Aehrel lachte witzlos. „Es scheint so, als ob bei ihnen irgendetwas oder irgendjemand ihre Kinder und jungen Krieger dahinrafft – oder zumindest verschwinden lässt. Damit sind sie schon beim letzten Mal zu Behlenos gekommen. Aus irgendeiner unergründbaren Begebenheit heraus geben sie uns die Schuld daran. Unsere Schamanen wären mit den Mächten des Bösen im Bunde. Wir würden Geister aus den finsteren Zeitaltern zurückrufen und sie gegen die Eichenleute aufhetzen – oder es zumindest versuchen. Frag mich nicht, womit sie das begründen!“

Ungläubig schüttelte Aigonn den Kopf. Auch ihm war zu Ohren gekommen, dass eine Krankheit – ein Pilz im Getreide hieß es – in den Siedlungen der Eichenleute ausgebrochen sei. Doch dass man ihnen, den Bärenjägern, nun dafür die Schuld gab, war ihm unbegreiflich.

Aehrel leerte geräuschvoll seinen Becher, bevor er kurz innehielt und Aigonn und Efoh daraufhin anbot: „Wenn … wenn ihr beiden einmal Hilfe brauchen solltet … Ihr wisst, dass ihr immer zu mir kommen könnt.“

„Wir danken dir“, ergriff Aigonn für seinen Bruder das Wort. „Sollte es dazu kommen, werden wir es dich wissen lassen.“

Der Alte nickte nachdenklich. Einen Moment lang ruhte sein Blick auf Aigonns und Efohs Mutter, ein unergründlicher Ausdruck darin, bevor er aufstand und sich mit knappen Worten verabschiedete. Aigonn sah ihm nach. Er hatte die Jahre über viel Zeit mit Aehrel, dem Bruder seiner Mutter, verbracht. Er war derjenige, der sich in ihrer Rolle versucht hatte und den Trost bot, dass es zumindest noch einen gab, der ihm und Efoh nahestand.

Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1

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