Читать книгу Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1 - Astrid Rauner - Страница 14

Der Schamane

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Schweigend kehrten die Bärenjäger zu ihrer Siedlung zurück. Efoh war der einzige, der Aigonn stützend neben sich herschleppte, während diesem immer wieder die Beine wegbrachen. Der junge Krieger ging unter dem Gewicht seines Bruders beinahe in die Knie. Doch außer Rowilan, der mit düsterer Miene vor ihnen herlief, wagte sich niemand näher als zwanzig Fuß an die Spitze der Prozession heran.

Mehrmals hatte Aigonn mit einer Ohnmacht zu kämpfen, bis die Palisaden des Dorfes in Sicht kamen. Die beiden Wachposten, die zurückgeblieben waren, empfingen ihre Sippenmitglieder mit verwunderten Blicken und wagten erst, Fragen zu stellen, als Aigonn, Rowilan und Efoh endlich das Haus der beiden Brüder erreicht hatten.

Erschöpft stolperte Aigonn über die Schwelle. Obgleich die schwüle, rauchgeschwängerte Luft im Inneren wie Holzspäne in seiner Kehle scheuerte, fühlte er doch die alte Sicherheit, die dieses Haus seit Kindertagen auf ihn ausstrahlte. Leise drang das Singen seiner Mutter durch den Raum. Kein Laut verriet, dass sie die Ankunft ihrer Söhne wahrnahm – auch nicht, als diese mit Rowilan bis zum Herdfeuer liefen.

Der Schamane nahm sich nicht die Zeit, die Hausherrin zu grüßen. Ungeduldig wartete er, bis Efoh seinen Bruder auf einem der Felle abgesetzt hatte, bevor er sich vor ihm aufbaute und zu sprechen begann: „So, mein junger Freund! Wenn du glaubst, weiterhin auf eigene Faust Kräfte zu erwecken, die du nicht kontrollieren kannst, unterschätzt du mich sehr!“

Rowilan sprach nicht laut, aber die Drohung war unverkennbar. Aigonns Blick flackerte, als ob er das Bewusstsein verlieren würde. Der Schamane aber gab ihm diese Gelegenheit nicht.

Mit einem Schlag auf die Wange brachte er Aigonn in die Wirklichkeit zurück. Dieser wollte protestieren, aber Rowilan schnitt ihm das Wort ab: „Verstehst du, was ich sage? Weißt du, in welche Gefahr du uns alle bringen kannst?“

„Ich habe nichts getan!“ Aigonn war nicht wach genug, um dieses Wortgefecht zu bestreiten. Das eisige Brennen in seiner Kehle hatte nachgelassen, machte jedoch keine Anstalten, ihn zu erlösen. Immer wieder verschwammen die Bilder vor seinen Augen, während er Rowilan zornesrot anlaufen sah und der Schamane seine Beherrschung verlor:

„ELENDER, VERBISSENER LÜGNER! Wann akzeptierst du endlich, dass ich dir nicht schaden will, sondern uns alle nur vor einem gewaltigen Unheil bewahren! WAS HAST DU GETAN? WIE HAST DU DIESES BÖ-SE, WAS IMMER ES SEIN MAG, GERUFEN? WELCHE GEISTER HAST DU ERWECKT?“

„BEI ALLEN GÖTTERN, ICH TRAGE DARAN KEINE SCHULD!“ Nach diesem Schrei brannte es Aigonn so sehr im Hals, dass er röchelnd zu husten begann. Efoh war vor Schreck aufgefahren und besann sich erst langsam, dass er zwei Becher voll Bier in den Händen hielt. Selbst ihrer beider Mutter war für Bruchteile eines Augenblicks zusammengezuckt und hatte in die Richtung ihres ältesten Sohnes gesehen, als hätte die Wirklichkeit sie endlich wieder für sich gewinnen können. Doch der Schein trog. Weder Aigonn noch Efoh bemerkten, wie sie sich wieder abwandte und in die Apathie verfiel, die ihre eigene Art zu leben war.

Der Aufschrei hatte Rowilan zum Schweigen gebracht. Finster wartete der Schamane, bis Aigonn zu Atem gekommen war und ließ ihm Zeit, nach einem Schluck Bier endlich seine Sicht der Dinge zu erläutern. Aigonn hatte die Augen halb geschlossen, als er mit gequälter Stimme erzählte: „Ich habe niemanden gerufen! Ich habe lediglich der Prozession beigewohnt, bis die Götter unsere Wünsche erhört haben und die Tore zur Anderen Welt aufgegangen sind. Dazu habe ich gar nichts beigetragen, nichts! Ich habe nur gewartet und mitgesprochen, nichts sonst!“

„Gar nichts?“ Rowilan blieb skeptisch. „Du hast auch nicht zufällig versucht, mit einem kleinen, selbstgebrauten Trank deine Sinne zu erweitern? Oder einem Händler irgendein Wundermittelchen abgekauft?“

„Nein, so glaubt mir doch! Ich brauche so etwas gar nicht. Es ist ganz egal, wohin ich gehe, sobald die Grenze zwischen den Welten dünner wird, kann ich die Kraft dieser Orte spüren, auch die der Anderen Welt. Ich habe es kaum ertragen können, als sich das Tor geöffnet hat. Dieses … dieses Wesen, was immer es sein mag, hat mich einfach überfallen.“

Rowilan schwieg nachdenklich. Obgleich sich die finstere Miene tief in sein Gesicht eingefurcht hatte, schien er Aigonn allmählich Glauben zu schenken. Prüfend überflog sein Blick die Gestalt seines Gegenübers, als er sich endlich vor Aigonn auf den Fellen niederließ und anmerkte: „Dass du große Kraft besitzt, weiß ich. Das wusste ich schon lange. Wenn deine Mutter es zugelassen hätte, wärst du jetzt vielleicht schon bereit, meine Nachfolge anzutreten, wenn mir etwas zustoßen würde. Doch ich kann nicht verstehen, warum irgendein Geist aus der Anderen Welt dich angreifen oder dir schaden will. Sicherlich mag es solche geben, die uns Menschen nicht wohlgesonnen sind. Aber sie würden niemals jemanden angreifen, der ihre Macht so deutlich vor sich sehen kann. Das bringt ihnen keinen Vorteil – schon gar nicht, wenn du nicht versuchst, sie zu jagen. Oder hast du so etwas probiert?“

Der scharfe Ton entlockte Aigonn ein genervtes Schnaufen. Er hatte überhaupt keinen Sinn dafür, Rowilan jetzt sein Herz auszuschütten. Es gab keinen Grund dafür, dem Schamanen zu vertrauen. Er wusste genug und hatte vor allen Dingen genug gesehen, um ihm zu misstrauen – ganz gleich, wie sehr ihn diese Geschehnisse ängstigten. Die Nebelfrau würde Rat wissen. Er würde mit ihr sprechen, gleich heute schon.

Als Rowilan keine Antwort erhielt, drängte der Schamane weiter: „Aigonn, glaub mir doch endlich, dass du beginnen musst, deine Fähigkeiten kontrollieren zu lernen! Es ist nicht zu spät, noch immer mein Schüler zu werden! Wenn du mir vertrauen und mir erlauben würdest, in einem Ritual deinen Gedanken beizuwohnen, sehen zu können, was du siehst, dann könnte …“

„NEIN!“ Plötzlich war Aigonn das Wesen, das versucht hatte, seine Seele in die Andere Welt zu ziehen, völlig egal. Eine uralte Welle des Misstrauens und der Abscheu überkam ihn so unvermittelt, dass jegliches Verständnis für Rowilan zu Staub zerfiel. Er wollte es noch immer. Dieser Mann hatte die Hoffnung auch nach all den Jahren nicht aufgegeben, dass er eines Tages Aigonns Kräfte würde kontrollieren können. Mehr wollte der Schamane doch nicht!

„Nein, Ihr kommt nicht in meinen Kopf! Niemals! Das lasse ich nicht zu!“

Die Hoffnung bröckelte aus Rowilans Gesicht wie trockener Schlamm. Wutentbrannt sprang der Schamane auf. Die Zornesröte schoss ihm in die Adern, dass er wie ein tobender Stier über Aigonn stand. Und in seiner Stimme lag nicht nur Wut, sondern auch Enttäuschung, als er durch den Raum schrie: „IHR GÖTTER HELFT MIR! Wann begreifst du endlich, dass ich nicht die Schuld am Tod deiner Schwester trage! Ich habe nichts getan! Nichts hat darauf hingedeutet, was sie geplant hat. Denkst du nicht auch, dass es mich ebenso schlimm getroffen hat wie dich selbst?“

Nein, dachte Aigonn. Und sein Blick spie puren Hass. Einen Herzschlag lang blickte Rowilan zu ihm hinunter, als hoffte er tief in seinem Innersten noch immer, auf Verständnis zu treffen. Aber als er sich klar machte, wie zwecklos all dieses Bitten und Flehen war, schüttelte er den Kopf und stürmte zornig zur Tür hinaus.

Einen Moment lang herrschte Totenstille in dem kleinen Haus. Das Feuer war zu einer schwachen Glut heruntergebrannt, deren Knistern man nur noch mit Mühe hören konnte. Aigonns Mutter saß neben dem Regal und starrte mit fragendem Blick in den Raum, als kämpfte ihr Geist gegen die löchrige Barriere zur Außenwelt, die einen Teil der Auseinandersetzung hineingelassen haben mochte. Efoh hockte reglos neben dem Bierfass, den vollen Becher in der Hand, den Rowilan nicht angerührt hatte. Sein Blick ruhte auf Aigonn, der hasserfüllt zur Tür starrte, als könnte sein Blick dem Schamanen selbst durch die Hauswand einen Dolch in den Rücken jagen.

Er hatte es so oft versucht! So oft wollte er Rowilan schon Glauben schenken, dass er unschuldig war, dass er für Derona immer nur das Beste gewollt hatte. Doch die Bilder, die Aigonn vor Augen hatte, sprachen eine andere Botschaft.

Als Efoh den Becher abstellte, holte das Geräusch Aigonn in die Wirklichkeit zurück. Mit nach Bestätigung suchendem Blick sah er zu seinem Bruder, erhielt aber nur eine wortlose Antwort, die er nicht recht zu deuten wusste. Schon oft hatte Efoh bemerkt, dass er Aigonn zustimmte, dass er sich ebenso sicher war wie sein Bruder, was Deronas Tod betraf. Auch, wenn er sich ungern dazu geäußert hatte. Doch an diesem Abend gewann Aigonn den Eindruck, er hatte nie alles erfahren, was Efoh bewegte. Und was Efoh wirklich dachte, so klein er damals beim Tod ihrer beider Schwester auch gewesen war.

Die Müdigkeit war es, die Aigonn dazu brachte, nicht weiter über diese Dinge nachzugrübeln. Efoh hüllte sich in Schweigen. Und als seine Mutter wieder leise vor sich hin zu summen begann, brachte ihm die Vertrautheit seines Zuhauses endlich die Ruhe, die er sich ersehnt hatte.

Aber als er einschlief, entglitt sie ihm wieder.

Derona stand vor dem Haus im Regen. Ihre brustlangen, dunkelblonden Haare klebten wie Schlangen an ihrem triefend nassen Kleid, das ihren abgemagerten Körper wie ein Leichentuch zu umgeben schien. Jung war sie, kaum neunzehn Jahre alt. Aigonn erinnerte sich an den Anblick ihrer grünen Augen, die gehetzt nach draußen starrten, ungewiss, welche Gedanken sich dahinter verbargen. Er sah sich selbst, ein Kind, einen kleinen Jungen, der am Rockzipfel seiner Schwester zupfte, bevor sie ihn mit einer unwirschen Bewegung davonscheuchte.

Sie sprach nicht mit ihm. Auch nicht, als er zu weinen begann. Ihrer beider Mutter war nicht im Haus. Sie hatte ihre beiden ältesten Kinder voller Sorge zurückgelassen, um Efoh suchen zu gehen, der vom Spielen im Wald noch immer nicht zurückgekehrt war. Aigonn war allein mit Derona. Er hatte sich beim Schnitzen tief in den rechten Handballen geschnitten und presste weinend einen Stofffetzen auf die blutende Wunde. Seine Mutter hatte ihm immer die Wunden verbunden, mit Salben eingerieben. Doch er wusste nicht, welches Tontöpfchen er nehmen musste, denn manche von ihnen enthielten Gift, das seine Mutter gegen die Mäuse im Vorratslager verteilte.

Derona hätte ihm das richtige Döschen geben können. Doch so sehr er um ihre Hilfe bettelte, sie beachtete ihn nicht. Sie schien ihn so wenig wahrzunehmen, dass ein Hund an seiner Stelle an ihrem Rock hätte reißen können.

Es verging ein langer Moment, in welchem der blutende Aigonn hinter seiner Schwester ausgeharrt hatte, bis Rowilan durch den Regen seine Bitten erhörte. Rasch lief der Schamane zu ihrem Haus. Ein besorgter, furchtsamer Blick haftete auf Derona, bevor er Aigonn an der Hand nahm und ihn im schnellen Schritt ins Haus hineinführte.

„Was hast du denn gemacht?“ Der Ton des Schamanen verriet, dass seine Gedanken nicht bei der Sache waren. Als Aigonn ihm den tiefen Schnitt in seiner Hand zeigte, ließ sich Rowilan sagen, wo Aigonns Mutter die Salben verwahrte. Es brauchte nur eine kurze Geruchsprobe an verschiedenen Töpfchen, bevor er gefunden hatte, was Aigonn brauchte. Die Salbe brannte in der Wunde, und der Verband, den Rowilan aus einem Lumpen band, saß unangenehm fest. Doch bald ließ der Schmerz nach.

Der Schamane im Gegenzug vergaß den Jungen binnen weniger Herzschläge. Vorsichtig näherte er sich Derona. Aigonn sah seine Hand zittern, als Rowilan die junge Frau an der Schulter berührte, leise ihren Namen flüsterte und hinnahm, dass sie ihn ignorierte.

„Derona! Derona, hörst du mich?“ Seine Stimme war sanft. So sanft, wie Aigonn es nur von seinem Vater kannte, wenn dieser mit seiner Mutter sprach. Er wusste, dass Derona Rowilans Schülerin war – auch wenn er damals nicht begriffen hatte, worin ihre besonderen Fähigkeiten bestanden. Sie beide verbrachten viel Zeit miteinander. Mehr, als es Aigonns Mutter lieb war.

„Derona!“ Als Rowilans Hand zärtlich über Deronas Wange zu streichen begann, kehrten die Gedanken der jungen Frau einen Augenblick lang in die Wirklichkeit zurück. Ruckartig packte sie den Schamanen am Handgelenk. Der Hilfeschrei, der in ihrem Blick mitschwang, jagte Rowilan einen Schreck in die Knochen, den selbst Aigonn vom Haus aus erkennen konnte. Deronas Hände zitterten. Ihre Lippen vibrierten vor Anspannung, als sie dem Schamanen mit gebrochener Stimme zuflüsterte: „Ich bitte dich, hilf mir!“

Das Bild verschwand vor Aigonns Augen. Er konnte sich erinnern, dass es andere Tage gegeben hatte. Tage, an welchen Rowilan voller Triumph mit seiner Schülerin vor die Menschen getreten war, um ihnen zu verkünden, welche großartigen Fortschritte sie machte. Niemals hatte er sich genau ausgedrückt, was hinter den Lehmwänden seiner leicht abgeschiedenen Behausung geschah. Denn das Wissen der Schamanen war ausnahmslos den Eingeweihten vorbehalten, in jeder Hinsicht. Weder Aigonn noch seine Eltern hatten erfahren, zu was Derona in der Lage war, was sie wirklich gesehen hatte. Aigonns Mutter hatte immer geglaubt, dass Rowilan die Fähigkeiten seiner Schülerin unterschätzte, verkannte. Aber der Schamane gab nichts auf ihre Worte.

Die Monate zogen an Aigonn vorbei. Einzelne Bilder blitzten vor seinen Augen auf. Er sah seine Schwester, ihr helles Gesicht mit den klaren, strahlenden Augen, die binnen weniger Monate stumpf geworden waren, wie Edelsteine, die zu lange auf rauen Boden gerieben wurden. Er wusste, was kommen würde. Die Zukunft war so undankbar, ihm alles zu zeigen, ihn allem beiwohnen zu lassen – jetzt, wo er das Ende der Geschichte kannte, ganz gleich, ob er sie verstand.

Aigonn wusste nicht, ob er schrie, ob er sich im Schlaf wehrte. Doch er entkam ihr nicht. Noch einmal sah er sie, die grünen Augen, ein warmes, strahlendes Lächeln, das plötzlich verblasste. Das Licht erlosch wie eine Fackel.

Das Grab der Götter, der Fackelkreis, ihre Knochen, die brachen, zwei tote Augen, die ihn durch die Dunkelheit ansahen, mit einer Botschaft, die er nicht deuten konnte. Niemand wusste es, niemand hatte es verhindern können. Denn niemand hatte gewusst, wie weit Derona gegangen war, wie viel sie von der Anderen Welt gesehen hatte. Außer Rowilan.

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