Читать книгу Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1 - Astrid Rauner - Страница 9
Erinnerung
ОглавлениеEs gab zahlreiche Dinge, die Aigonn in seinem Leben so gut es ging zu meiden versuchte. Einfache Belanglosigkeiten, die trotz allem ängstigen konnten. Doch als er in diesem Moment dasaß und sich immer wieder vergeblich einen einzigen Gedanken auszureden versuchte, spürte er, dass es Zeit wurde, den Schritt zu gehen, der in seinen Augen immer einer zu viel gewesen war.
Nachdenklich grub Aigonn seine nackten Zehen in die feuchte Erde. Die Grasbüschel neben dem kleinen Lehmhaus seiner Familie waren noch nass vom Regen des frühen Morgen. Die wenigen Strohhalme, die aus der Hauswand herausragten, raschelten leise, als Aigonn sich ein Stück nach hinten anlehnte.
Auf eine gewisse Weise hatte er geahnt, dass es so kommen würde. Es amüsierte ihn, dass er an einem Tag wie heute ausgerechnet zu einer solchen Erkenntnis gekommen war. Denn solange er ehrlich mit sich blieb, verstand er rein gar nichts von den Umständen, in die er sich nun verwickeln sollte. Oder vielleicht bereits verwickelt war.
Aigonn mochte mit den Nebelgeistern sprechen, seit er klein war. Das war ihm eigentlich nicht Grund genug dafür, nun eine wiederauferstandene Tote irgendwo in der Wildnis zu suchen. Doch das alles ausgerechnet an diesem einen Punkt zusammenlaufen würde – dem Teil seiner Erinnerung, den er am liebsten auf ewig gemieden hätte – hätte Aigonn niemals geglaubt.
„Es gibt einen Ort, der der Anderen Welt näher ist als der euren.“
Aigonn kannte ihn. Erst in diesem Moment war ihm klar geworden, wie tief die Nebelfrau in seine Seele gesehen hatte. Sicher, er würde ihn finden. Und schon allein diese Erkenntnis verriet ihm – auch wenn er sich dagegen wehrte – dass er ihn finden wollte. Sonst hätte er diesen Gedanken längst wieder verdrängt.
Gras raschelte neben dem kahl getretenen Pfad zwischen den kleinen Lehm- und Holzhäusern. Eine Gestalt näherte sich vorsichtig. Efoh setzte sich neben Aigonn ins Gras. Dieser sah nicht auf.
Der junge Mann beobachtete Aigonn, wartete ab, ob sein großer Bruder auf ihn reagieren würde. Doch als dieser weiterhin nur versonnen in die Leere starrte, bemerkte Efoh zögerlich: „Behlenos stellt sich das alles zu einfach vor. Ich glaube nicht, dass er sie finden wird!“
Erst jetzt sah Aigonn zur Seite. Einen Herzschlag lang starrte er seinen Bruder an, als ob er sein Kommen gar nicht bemerkt hätte, bevor er fragte: „Wen finden?“
„Lhenia. Behlenos gedenkt noch heute die Suche nach ihr zu beginnen – und erwartet von allen Männern, die in der Lage sind zu reiten, rege Mithilfe.“
Aigonn verstand die unterschwellige Botschaft dieser Worte. Nur zu gut konnte er sich vorstellen, welchen einen Mann Behlenos damit besonders ansprach. Erbost stieß er aus: „Als ob ich der Allwissende wäre, nur weil eine Tote neben mir zum Leben erwacht ist! Was bitte habe ich denn getan? Nichts! Rein gar nichts! Manchmal habe ich mir ja gewünscht, mehr Fähigkeiten als die gewöhnlicher Menschen zu besitzen, aber glaube mir, wenn ich sie wirklich besitzen würde, hätte ich sie euch nicht vorenthalten!“
Aigonn blickte zu seinem Bruder, der prüfend zurücksah. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die unterschwellige Lüge in seinen Worten Efoh nicht entgangen war. Doch der junge Mann schwieg. Sein Blick wanderte von Aigonn ins Gras, bevor er sich ihm wieder zuwandte und auf einmal tiefer Ernst in seiner Stimme lag: „Du weißt wirklich nicht, was geschehen ist?“
„Nein, bei den Göttern! Ich schwöre es dir, wenn du willst!“ Efoh nickte, als ob Aigonn mit diesen Worten einen schmerzhaften Zweifel ausgelöscht hätte. Und Aigonn tat es ebenso weh. Er mochte es nicht, wenn sein kleiner Bruder ihn für einen Lügner hielt. Trotz allem war er nicht vorbereitet, als es plötzlich aus Efoh herausplatzte: „Aber die Frau in den Nebeln hat dir irgendetwas gesagt, nicht wahr? Ich weiß, dass du mit ihr sprichst – auch wenn du dich unbeobachtet fühlst. Verrätst du es mir?“
Einen Moment lang starrte Aigonn schweigend seinen Bruder an. Dann, als er sich vergewissert hatte, dass der Weg zwischen den Häusern der kleinen Siedlung keine unerwünschten Zuhörer bot, raunte er Efoh zu: „Versprich mir, niemandem davon ein Wort zu sagen!“ Efoh nickte, bevor Aigonn fortfuhr: „Ich werde versuchen, den Weg zum Grab der Götter wiederzufinden.“
Efoh erschrak. In seinen geweiteten Augen erkannte Aigonn die Funken einer Erinnerung, die ihnen beiden gemein war. Unterschwellige Angst – eine Furcht, die viel älter war als ein zurückliegender Kampf oder Krieg, sprach aus seiner Stimme, als er flehte: „Tu das nicht! Es bringt kein Glück, einen Ort aufzusuchen, der sich so weit von der Wirklichkeit entfernen kann! Die Macht der Menschen schwindet an der Grenze zwischen den Welten. Ich brauche dir nicht zu sagen, was dort geschehen ist!“
Nein, das brauchte er wahrlich nicht. Wider Willen spürte Aigonn eine bleischwere Beklemmung in seinem Magen aufsteigen. Wenn es wenigstens nur die Wesen der Anderen Welt wären, denen ich gegenübertreten müsste!
Doch Aigonn spürte, dass man ihm die Entscheidung längst abgenommen hatte. Irgendwann würde er sich diesem Ort stellen müssen. Doch vielleicht noch nicht heute.
Die plötzliche Entschlossenheit in Aigonns Stimme verwirrte Efoh, als er sagte: „Es hat keinen Zweck, wenn ich weiterhin davor flüchte. Aber noch bleibt Zeit. Ich bezweifle sehr, dass Behlenos es wagen wird, am Grab der Götter zu suchen!“
Damit stand Aigonn auf und lief auf den Eingang seines Elternhauses zu. Er fühlte den nachdenklichen Blick seines Bruders im Rücken. Efoh spürte wohl, dass Aigonn trotz aller Worte eine weitere Chance zur Flucht nutzen wollte. Als er im Türrahmen innehielt, wollte er sich noch einmal zu Efoh umdrehen. Doch stattdessen verwarf er den unausgesprochenen Gedanken und trat in das Haus ein.
Schummriges Dämmerlicht lag über dem einzigen großen Raum. Mehr ließen die kleinen Windaugen nicht zu. Einen Herzschlag lang beobachtete Aigonn versonnen die Staubkörner, die in einer Lichtsäule vom Rauchabzug hinabtänzelten. Auf der Feuerstelle im Zentrum des Raumes glomm nur noch der schwache Rest einer Glut. Mit dem Sommer wurde die Luft draußen warm genug, dass ein größeres Feuer überflüssig wurde.
Ein leises, melodisches Summen lag in der Luft. Aigonn suchte sich seinen Weg an den Schlaflagern vorbei bis zu einem Regal, das man aus mehreren Baumstämmen geschnitten hatte und somit Platz für allerlei Tontöpfe bot.
Dort blieb er kurz stehen und lugte vorbei. Eine Frau kniete neben einem Webrahmen auf dem Boden. Ihr ausgewaschenes Leinenkleid wurde eins mit dem gleichfarbigen Rehfell, das ihr als Unterlage diente. Faltig und locker fiel der dünne Stoff an ihrem mageren Körper hinab. Lediglich spitze Schultern erkannte man unter einem breiten Ausschnitt, die umgeben waren von einer Flut hüftlanger, schneeweißer Haare.
In Gedanken versunken glitt Aigonns Mutter die Melodie von den Lippen, während sie das Schiffchen wie mechanisch zwischen den einzelnen Fäden hin und her schob. Vorsichtig näherte sich Aigonn ein Stück. Sein prüfender Blick war ein Zeichen für seine Unsicherheit, ob er seine Mutter nun stören würde oder nicht. In Wahrheit aber kannte er die Antwort längst. Die Gewissheit versetzte ihm einen Stich. Seine Mutter störte man nicht mehr. Ihre großen, braunen Augen blickten so abwesend und leer durch den Webrahmen hindurch, dass man nicht sicher sein konnte, ob sie noch an der Außenwelt teilnahm. Aigonn bezweifelte es. Sie hatte es schon lange nicht mehr getan.
„Mutter?“
Er trat bis an den Webrahmen heran und ließ sich dort auf die Knie sinken. Die sonderbare Melodie brach nicht ab, als der Blick seiner Mutter durch ihn hindurchging. Kein Blinzeln, kein kurzes Flackern in ihren Augen verriet, dass sie ihn wahrnahm. Nur ihre Hand schien wie von selbst den Faden mit dem Schiffchen zu führen.
„Er ist schön geworden … der Stoff.“ Seine Finger tasteten über den rostroten Wollstoff. „Was willst du daraus nähen?“
„… Himmel stehen die Sterne, leuchten dort …“
Aigonn schluckte. Erst jetzt erkannte er das alte Wiegenlied, das seine Mutter ihm früher immer zum Einschlafen gesungen hatte. Noch einmal fragte er: „Nähst du dir daraus ein Kleid?“
„… allein sein. Denn ich bleibe da …“
Aigonns Blick wurde traurig. Im Grunde wusste er, dass seine Versuche zwecklos waren. Seine Mutter sprach nicht mehr mit ihm. Nicht mit Efoh und auch nicht mit irgendjemand anderem. Seit Jahren nicht mehr. Sein Blick verriet mehr Kummer, als es ihm lieb war, während er seiner Mutter sanft über die Wange streichelte. Dünn wirkte ihre Haut, wie der Kokon, den eine Raupe zurückließ, nachdem sie zum Schmetterling geworden war. Sie schien unter seinen Fingern zu zerfallen, so fühlte es sich an. Er konnte den Kloß nicht vertreiben, der ihm plötzlich im Hals steckte.
Wenn ich feige bleibe, wird damit auch nichts ungeschehen werden. Gar nichts.