Читать книгу Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1 - Astrid Rauner - Страница 8
Geopfert
ОглавлениеSeine Lider flackerten, als Aigonn versuchte, die Augen aufzuschlagen. Die Bilder hatten jeglichen Fixpunkt verloren, sodass Schwindel in ihm aufstieg, je länger er hinsah. Unwirsch schloss er die Augen wieder, versuchte, zurück in den wohligen Schlaf zu fallen, der ihn von all diesen Unannehmlichkeiten fernhielt. Doch es gelang ihm nicht. Aigonn konnte dem Schmerz nicht mehr entkommen, der dumpf und unbarmherzig in Rippen und Arm zu pochen begonnen hatte. Seine Kehle wollte zu würgen beginnen, doch sein Wille war stark genug, um sich im Zaum zu halten.
Aigonn war müde. Er war so unendlich müde, dass er weder denken noch sich bewegen wollte. Am liebsten hätte er geschlafen, bis zum Ende seines Lebens, doch etwas in seinem Kopf hielt ihn bei Bewusstsein. Er wusste nicht, was es war, doch in Gedanken verfluchte er es unzählige Male.
Erschöpft fielen seine Augen zu, während er die Stirn in Falten legte. An seinen Rücken schmiegte sich ein Tierfell – vermutlich dasselbe Schafsfell aus seinem Zelt im Heerlager, das irgendjemand mit sich genommen hatte. Leise Stimmen drangen gedämpft bis zu ihm hervor. Mehrere Menschen – scheinbar fast eine ganze Versammlung – unterhielten sich leise, doch in hörbar erregtem Ton. Aigonn wollte nicht darüber nachdenken, was Ursache dafür war.
Plötzlich stutzte er. Seine Lider schossen so schnell in die Höhe, dass ihn der Schwindel zum zweiten Mal überkam. Die Schlacht! Sie war vorüber, er in Sicherheit. Die Eichenleute hatten sie ziehen lassen? Aigonn wollte es kaum glauben. Es wäre fast zu schön gewesen, wenn sie alle dieselbe Halluzination gehabt hätten wie er – eine geopferte Frau, die aus ihrem Grab auferstanden und wie eine Kriegsgöttin über die Feinde hergefallen war. Die sinneserweiternden Kräuter, welche der Schamane in der Opfergrube und überall rund herum verbrannt hatte, mussten seine Wahnvorstellungen begünstigt haben. Immerhin – Nebelgeister mochte er wirklich sehen können. Was allerdings die Toten betraf, so wagte er dies doch zu bezweifeln.
Das leise Schleifen einer Tür auf dem mit Strohmatten belegten Boden ließ Aigonn aufsehen. Er bereute die abrupte Bewegung sofort – denn scheinbar hatte sein Schädel die Schlacht schlechter überstanden, als er geglaubt hatte. Neuer Schwindel betäubte seine Sinne und verwandelte die Gestalt, die sich Aigonn auf Zehenspitzen näherte, in kaum erkennbare Farbmuster.
„Aigonn?“ Die flüsternde Stimme war ihm vertraut. Als er die Welt um sich – ein abgedunkeltes Zimmer mit mehreren Schlaflagern, Vorratskrügen, nur von einer einzigen Fackel erhellt – endlich richtig erkannte, entdeckte er dort auch einen jungen Mann, der sich ihm erst vorsichtig, dann mutiger näherte. „Ah, du bist wach! Ein Glück, ich hatte schon Angst, dich wecken zu müssen. Bei den Tränken, die Rowilan dir eingeflößt hat, wäre das kein Vergnügen geworden!“
Rowilan …, Tränke, … Die Stimme gehörte Efoh. Aigonn konnte nicht leugnen, erleichtert zu sein, als ihm das schmale Gesicht seines jüngeren Bruders mit den großen, braunen Augen und den halblangen, dunklen Haaren entgegensah. Efoh war kaum älter als sechzehn. Jung noch für einen Krieger. Aigonn hatte sich beinahe mehr um ihn gesorgt als um sich selbst, als sie gemeinsam in die Schlacht gezogen waren. Eine unschöne Schnittwunde wurde auf seiner linken Wange sichtbar, als der junge Krieger neben dem Schlaflager in die Knie ging, und Aigonn noch mit leichtem Schwindel fragte: „Aufwecken? Wieso, was ist passiert?“
„Geht es dir wieder gut? Diese Eichenleute haben dir einen ganz schönen Schlag auf den Hinterkopf versetzt. Rowilan hat den Verband abgenommen und nur lose ein Tuch unter die Wunde gelegt, weil sie so genässt und sich ständig verklebt hat. Ich glaube, es ist besser, wenn du dich wieder hinlegst …“
„Efoh!“ Aigonns Stimme war so scharf, dass sein Bruder abrupt abbrach. „Was – ist – passiert?“
Efoh suchte einen Herzschlag lang nach Worten. „Die Frau, die so plötzlich auf dem Schlachtfeld erschienen ist und die Eichenleute Hals über Kopf in die Flucht geschlagen hat … Behlenos hofft, du könntest ihm etwas über sie sagen!“
Aigonn hielt einen Moment inne, um zu verinnerlichen, was er soeben gehört hatte. Ungläubig schüttelte er den Kopf, bevor er nachhakte: „Du willst mir nicht sagen, du hast sie auch gesehen!“
Efoh machte große Augen. „Wir haben sie alle gesehen. Es war kaum etwas anderes möglich, während sie über das Schlachtfeld gejagt ist: Das blutbefleckte Leinenkleid, die bleiche Hautfarbe, der heilige Ocker auf ihren Wangen, während in ihrer Kehle dieser gewaltige Schnitt geklafft … Was hast du denn geglaubt?“ Auf diese Frage gab Aigonn keine Antwort. Er stützte sich auf die Schulter seines Bruders, bevor er die Augen schloss und sich mit einem schwindelerregenden Ruck auf die Beine hievte.
Draußen erwartete die beiden eine Gruppe von gut und gern zwanzig Menschen. Der breite Raum, den sie sich zum Versammlungsort rund um einen schweren Eichenholztisch auserkoren hatten, war ohne Zweifel ein Teil des Hauses von Behlenos selbst. Eben deshalb hatte der Hausherr es sich nicht nehmen lassen, von der Stirnseite aus die Runde zu überblicken, und begrüßte Aigonn mit einem warmen, aber deutlich misstrauischen Ausdruck: „Ah, Aigonn! Wie schön, dass ein weiterer unserer wenigen Überlebenden zu uns zurückgekehrt ist. Ich hoffe, deine Verletzungen bereiten dir nicht mehr allzu viele Schmerzen!“
Aigonn verneinte, worauf Behlenos ihm einen Platz zwischen Efoh und dem Schamanen Rowilan zuwies, der ihn mit sichtlichem Interesse beobachtete. Ein Becher Met wurde ihm über den Tisch hinweg zugeschoben, dann fuhr Behlenos ohne Abwarten fort: „Nun, Aigonn, wie es scheint, haben die Götter sehr unverhofft unser Opfer erhört, als wir ihnen die junge Lhenia zum Geschenk dargeboten haben. Denn immerhin ist es ihr ganz allein durch ihr sonderbares Auftreten gelungen, dem Kampf zwischen den Eichenleuten und unserem Volk einen kleinen … Aufschub zu verschaffen.“ Er nahm einen Schluck Met, bevor er ergänzte: „Ich frage mich nur, ob du uns, Aigonn, vielleicht etwas zu diesem zweifellos göttlichen Phänomen zu sagen hast. Immerhin trug sie dein Schwert bei sich, wie man an den außergewöhnlichen Verzierungen unschwer erkennen konnte.“
Aigonn war überfragt. Er starrte mit großen Augen zu seinem Met hinab, bevor er ratlos und haarklein von dem seltsamen Vorfall berichtete, der ihm widerfahren war. Sie alle, die hohen Krieger, Behlenos, der Schamane Rowilan, Efoh, lauschten ihm schweigend, schienen am Ende seiner Ausführungen jedoch ein wenig enttäuscht.
„Das ist alles?“ Behlenos zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Sie kam dir einfach zur Hilfe, als du in Not warst? Ein schöner Stoff für eine Sage, aber ich kann nicht glauben, dass es das damit gewesen sein soll!“
„Was erwartet Ihr denn? Eine Erscheinung?“
„Vielleicht.“ Diesmal war es Rowilan, der Aigonn fragend ansah. Misstrauen stieg in ihm auf, als er erkannte, welche hintergründige Botschaft in den Augen des Schamanen verborgen lag. Aigonn hatte nie etwas von den Nebelgeistern erzählt, doch er war sich sicher, dass Rowilan von seinen sonderbaren Begegnungen wusste. Aigonn hatte oft genug vermutet, dass sich der Schamane hintergangen fühlte. Einen solchen Kontakt musste man mit ihm besprechen, ihn wenigstens darüber informieren. Doch Aigonn hatte niemals etwas davon berichtet – egal, wie oft der Schamane ihn beinahe ertappt hätte.
Aigonn für seinen Teil fehlte an diesem Morgen die nötige Kraft für Diskussionen. Sein Hinterkopf schmerzte, während er nicht wusste, ob es bloß an der Wunde lag oder an der Gewissheit, die er nicht wahrhaben wollte. Rowilan bedachte ihn mit einem missgünstigen Blick, als er auch seine Frage verneinte. Und nach einem Augenblick, in welchem er seinen Blick fassungslos auf dem Met in seinem Becher hatte ruhen lassen, brach es schließlich aus ihm heraus: „Was … was ist, wenn sie überhaupt nicht tot war, Lhenia … Wenn Ihr sie bei dem Opfer versehentlich nicht getötet, sondern nur … nur betäubt habt?“
„Sie hatte eine breite, klaffende Wunde in ihrer Kehle – groß genug, dass ihr der Kopf fast vom Hals gefallen wäre, wenn diese nicht wie von Geisterhand mit jedem Herzschlag mehr geheilt wäre!“ Behlenos’ Einwand erlaubte keinen Widerspruch. Sein Blick hatte deutlich an Schärfe gewonnen, als er Aigonn beobachtete. Dieser wollte es nicht glauben. Es konnte einfach nicht möglich sein, dass eine Tote aus ihrem Grab auferstand! Die Götter waren mächtig, er hatte sie niemals unterschätzt, nie an ihnen gezweifelt – aber dies, dies überstieg seinen Verstand.
Die Atemluft schien die Zweifel bis zu Behlenos zu tragen. Es war beinahe eine Drohung, als dieser in den Raum hinein verkündete: „Die Götter haben uns ein Zeichen geschickt. Es steht außer Zweifel, dass wir ein solches Wunder nicht unbeachtet dahinziehen lassen können …“
Aigonn hörte Behlenos’ Worte nur mit geteilter Aufmerksamkeit. Sein Kopf focht mit seiner Erinnerung einen fast sinnlosen Kampf darum, was er glauben oder nicht glauben sollte.
„… Aus diesem Grund müssen wir die Gelegenheit nutzen. Seit sie nach dem Kampf verschwunden ist …“
„Sie ist verschwunden?“ Aigonns Unterbrechung brachte ihm einen scharfen Blick seines Fürsten ein.
„Wie ein Geist. Wir wollen nicht hoffen, dass die Götter sie nur für diesen einen Kampf zu uns gesandt haben. Doch so fluchtartig, wie sie in die Wälder verschwunden ist, müssen wir zumindest nach ihr suchen!“
Das Unwohlsein kam schneller, als Aigonn Behlenos’ Blick auf sich haften spürte. Eine unausgesprochene Aufforderung lag in der Luft, fast einer Drohung gleich, dass gerade er sich nicht aus dieser Affäre ziehen konnte.
Die Versammlung begann sich nach einer Reihe belangloser Gesprächsthemen aufzulösen. Gerade Aigonn suchte schneller das Weite, als Behlenos es gerne gesehen hätte. Die Nerven in seinem Hinterkopf hatten wieder zu pochen begonnen – ebenso wie die gebrochene Rippe, die Rowilan so fest mit Binden verschnürt hatte, dass er sich steif, aber trotzdem fast normal bewegen konnte. Wie leblos hing der verletzte Arm verbunden an seiner Seite. Die Fleischwunde war nicht tief, doch schmerzte sie mit jeder Bewegung. Aigonn war nicht in der Lage, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, als er den Weg nach draußen suchte. Es war früher Morgen. Die Nebel von den Flussauen waren selbst durch die Palisaden der kleinen Siedlung gedrungen und krochen lautlos den erdigen Boden entlang.
Wenn ich nicht wüsste, dass es euch gibt – heute würde ich es glauben! Aigonn schmunzelte, als er glaubte, im Wind ein kaum hörbares Lachen zu vernehmen. Die Nebelgeister hörten ihn immer – so wie alle anderen Menschen. Seit seiner Kindheit hatte er sich gefragt, was das Besondere an ihm war – das Besondere, das die Nebelgeister nicht nur zuhören, sondern auch mit ihm Kontakt aufnehmen ließ. Manchmal zumindest. Rowilan musste diese Eigenschaft an ihm seit Jahren eifersüchtig beobachtet haben – ohne, dass er etwas hätte tun können. Aigonn als Sprachmedium zu den Geistern der Wälder und Wiesen zu benutzen, hätte seine eigene Unfähigkeit als Schamane bewiesen. Denn Aigonn war sich sicher, zu Rowilan hatten die Nebelgeister – wenn überhaupt – seit langem kein Wort mehr gesprochen.
Angestrengt fasste Aigonn sich an die Stirn. Die Wunde an seinem Hinterkopf hämmerte und strahlte den Kopfschmerz bis in seine Stirn. Er wollte schlafen – solange weiterschlafen, bis er genesen war. Ganz gleich, ob er wusste, dass sich dies nicht bewerkstelligen ließ.
„Aigonn!“
Er wandte sich um. Mit Stirnrunzeln erkannte er Rowilan neben einem Schuppen, während dieser mit scharfen Augen zu ihm hinübersah.
„Mein Herr Rowilan? Wie kann ich Euch helfen?“
„Indem du mir die Wahrheit sagst!“ Aigonn verstand die unterschwellige Drohung. Unbewusst wich er drei Schritte zurück, während Rowilan auf ihn zukam, das rote Haar wie ein Gewand auf die Schultern gelegt.
Aigonn wusste, dass der Schamane ihm nicht glauben würde. Doch er konnte nichts anderes antworten: „Ich habe Euch nicht angelogen! Niemals!“
„Ach wirklich?“ Rowilan schnellte so plötzlich nach vorne, dass Aigonn nicht ausweichen konnte. Ein erstickendes Keuchen entkam seinen Lippen, als der Schamane ihn am Kragen packte. Drohend zischte dieser: „Versuch nicht, mich zum Narren zu halten! Du hast weder das Wissen noch die Erfahrung, es mit einem Mann wie mir aufzunehmen, also rate ich dir …“
Ein Windzug, das Echo von Aigonns Herzschlag in seinen Ohren …
„… Sag mir, was du getan hast, um sie zum Leben zu erwecken oder zumindest, um den Göttern diese Tat abzuverlangen!“
Nun wusste Aigonn wirklich nicht, was er antworten sollte. Es erleichterte ihn, dass sein perplexer Ausdruck Rowilan kurze Zeit unsicher werden ließ. Doch der Schamane wurde nur noch zorniger, als Aigonn ausstieß: „Seid … seid Ihr verrückt geworden?“
„Vielleicht bin ich es, dass ich einen Menschen wie dich frei und hemmungslos herumlaufen lasse!“
Das scharfe Zischen hatte die Aufmerksamkeit einiger Kinder erregt. Mit großen Augen starrten sie hinter einem der kleinen Häuser zu der sonderbaren Szene und verschwanden ängstlich, als Rowilan sie verscheuchte. Dann auf einmal wurde seine Stimme weicher und sein Griff um Aigonns Kragen lockerte sich.
„Junge, versteh doch! Ich will dir nichts Böses! Vielmehr glaube ich, dass du eine herausragende Fähigkeit besitzt, mit der Geisterwelt zu kommunizieren, mit der vielleicht ein Mensch in einer Generation geboren wird.“
Aigonn wollte seinen Ohren nicht trauen. Hatte er richtig gehört? Rowilan hatte ihm soeben unterschwellig zugestanden, begabter zu sein als er selbst? Am Ausdruck des Schamanen wurde sichtbar, dass er Aigonns Gedanken erahnte. Obwohl ihm ein Hauch von Missgunst über das Gesicht huschte, ergänzte er: „Du müsstest mir nur endlich verraten, zu was du in der Lage bist!“
„Ich habe damit wirklich nichts zu tun!“, antwortete Aigonn. Nun war Rowilan ehrlich enttäuscht. Die Miene des Schamanen verhärtete sich wieder, als er abschließend sagte: „Dann soll es so sein, wenn du es nicht anders haben willst! Aber eines sage ich dir: Komm nicht zu mir, wenn du irgendwann nicht mehr kontrollieren kannst, was du tust!“
Damit ging Rowilan. Aigonn war verunsichert, als er den Schamanen in seinem aus Holz und Lehm erbauten Haus verschwinden sah. War dies soeben ein echtes Angebot gewesen? Ein Angebot ohne Haken und Hintergedanken? Aigonn bezweifelte es. Rowilan mochte kein von Grund auf schlechter Mensch sein, doch er war kaltblütig; kaltblütig auf eine Weise, dass bei dem Gedanken daran ein dumpfer Schmerz Aigonns Magen zusammenzog.
„Aigonn!“ Erschrocken stolperte er nach vorn. Die Stimme war mit dem Wind so leise und nah an seinem Ohr vorbeigerauscht, dass er reflexartig die Hand an den Kopf presste – bevor er verstand, was es bedeuten sollte. Die letzten Nebelschwaden verschwanden in der wärmer werdenden Morgensonne.
„Folge uns!“ Der Wind trug die Nebel durch das Palisadentor hindurch und Aigonn folgte ihnen, ohne darüber nachzudenken. Die Wachen stellten keine Fragen, die nachdenklichen Blicke in seinem Rücken spürte er jedoch noch immer, als nasses Gras Aigonns Hose streifte. Er folgte den sich auflösenden Schwaden bis in die Nähe einiger Holundersträucher, die seine Gestalt vor den Blicken der Torwachen verbargen. Erst in diesem Moment ballten sich die silbernen Schwaden. In den ersten Sonnenstrahlen des Tages kaum sichtbar erschien die Nebelfrau. Das erwachende Licht verwischte ihre Konturen. Aigonn erkannte, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, bevor sie bis zum Abend wieder von den Wiesen verschwände.
Die Nebelfrau schwieg, als Aigonn sie grüßte. Nachdem sich ihre Blicke aber trafen, erschrak er wider Willen so sehr, dass er einen Schritt zurückwich. Ihr Blick war kalt. Aigonn hatte niemals von sich behauptet, die Gefühlsregungen der Nebelgeister verstehen und erklären zu können. Doch der offensichtliche Ärger, der hinter der Kühle ihrer Iris verborgen lag, bereitete ihm Sorgen.
„Rowilan hat eine herausragende Gabe, die Dinge zu beobachten. Das muss ich gestehen.“ Die Nebelfrau sprach steif. Aigonn wurde den Eindruck nicht los, dass tief in ihr etwas zu lodern begonnen hatte, eine Wut, eine Angst, ein Drang nach irgendetwas Unaussprechlichem – und je länger er darüber nachdachte, desto weniger wollte er es wissen.
Verunsichert blickte er in die pechschwarzen Iris der geisterhaften Gestalt. Dann fragte er zögerlich: „Mir scheint es, als ob du eine Nachricht für mich hättest, Herrin.“
„Oh ja“, erwiderte sie spitz. „Dieser Tage geschehen Dinge, die euch Menschen vielleicht ungewöhnlich erscheinen, doch seit Jahrtausenden immer wiederkehren. Würdet ihr länger leben, wüsstet ihr, dass die Toten schon in anderen Epochen zurückgekommen sind.“
„Dann ist es wahr?“ Aigonn wollte es nicht glauben. „Lhenias Seele ist in ihren toten Körper zurückgekommen?“
„Womöglich.“ Die Nebelfrau zögerte. Je mehr Augenblicke verstrichen, desto schwärzer schienen sich ihre Augen zu färben. Finsternis bekam eine neue Definition, etwas Düsteres, das man nur noch im Geiste erkennen konnte. Aigonn schauerte es. Er traute sich kaum zu fragen: „Ist … irgendetwas geschehen?“
„Ich weiß, dass du dich in diesem Moment noch zu befangen fühlst, um die außergewöhnliche Gabe zu nutzen, die dir eigen ist. Doch ich rate dir, den Blick nicht von allem abzuwenden, das du nicht verstehst!“
Sie fixierte ihn. Unwirklich, als wäre die Nebelfrau nicht Teil dieser Welt, glitt eine heftige Windböe durch ihren Körper hindurch und schien Aigonn verhöhnen zu wollen, als sie ihm die dunkelblonden Haare vor die Augen wehte. Die schwarzen Iris durchbohrten ihn. Sie schienen etwas finden zu wollen, das Aigonn weder erkannte noch verstand. Und ihm kam keinerlei Erkenntnis, als die Nebelfrau sagte: „Finde die Wiedergekehrte. Finde sie, bevor irgendein anderer es tun wird! Denn ich weiß, dass du der einzige bist, der ihre Absichten verstehen wird!“
Ihr Körper begann sich aufzulösen. Aigonn schien es, als erwache er aus einem Traum, während er einwarf: „Wo soll ich sie denn finden?“
„Es gibt einen Ort, der der Anderen Welt näher ist als der euren, den du fürchtest.“ Die Nebelschwaden verflogen im Wind. „Du wirst ihn finden, wenn du es willst.“
Damit war sie verschwunden. Eine Böe trieb den letzten Dunst über die Wiese hinaus und hinterließ lediglich den Hauch unwirklicher Beklemmung. Ein altes Gefühl, dessen Facetten Aigonn einen Herzschlag lang zu verstehen glaubte, schien in der Luft zu liegen. Solange, bis der Moment vorbeizog und Ratlosigkeit hinterließ.