Читать книгу Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1 - Astrid Rauner - Страница 12
Alte Seele
ОглавлениеDer frische Nachtwind trug Nebelschwaden über die Wiesen. Fast wie feine Wolken verbreitete sich der Dunst – nicht so dicht und undurchsichtig wie im Herbst und Winter, doch trüb genug, um so manche Gestalt darin verschwinden zu lassen.
Die junge Frau saß mit geschlossenen Augen im hohen Gras. Der volle, weiße Mond am sternenklaren Himmel hatte der Dunkelheit ihre Schwärze genommen. Silbrig und schattenhaft erkannte man Silhouetten von Bäumen, Sträuchern, der Siedlung und den Jägern der Nacht, die in der Luft oder den nahen Wiesen auf Beutezug gingen.
Sie hörte das Rascheln eines Dachses, der unweit von ihr durch das Gras strich. Er musste ihre Witterung längst aufgenommen haben. Doch mochte es ihre Ruhe sein, ihre Unbewegtheit oder jene merkwürdige Aura, die alle Menschen in ihrer Umgebung empfanden, das Tier näherte sich nicht.
Diese Tiere fürchten sich vor den Menschen. Die Gedanken der jungen Frau hallten merkwürdig laut in ihrem eigenen Kopf wider. Es schien, als habe Lhenias Tod eine gähnende Leere hinterlassen, die es nun wieder mit ihren eigenen Erinnerungen zu füllen galt. Wie gut, dass sie bisher kaum solche hatte.
Der Tod war ein Einschnitt gewesen. Der Gedanke fühlte sich sonderbar an, dass sie selbst schon einmal gestorben war, vielleicht vor Jahrzehnten, vielleicht aber erst vor gar nicht langer Zeit. Es war nicht normal, dass Menschen sich derart bewusst an dieses Detail ihrer früheren Leben erinnern konnten. Doch obgleich ihr kein Bild, keine Empfindung in den Sinn kam, spürte die junge Frau unbewusst, wie es sich anfühlte, das Sterben.
Orte tragen Erinnerungen in sich. Solange ich diese nicht wiederfinde, werde ich mich auch nicht entsinnen können, warum ich möglicherweise wieder hierher geschickt wurde – auf so ungewöhnlichem Wege, in den erwachsenen Körper einer frisch Verstorbenen und nicht als Säugling.
Der Wind schien zu flüstern, als er ihre kurzen Haare erfasste. Die junge Frau presste ihre Lider aufeinander und nahm einen Atemzug – so tief, bis sie die Kühle in ihrer Lunge spüren konnte. Sie war nicht ohne Grund hier. Kein Mensch wurde so unerwartet und abrupt wieder ins Leben gerufen, wenn es nicht etwas gab, das dieser dringend tun musste. Ihre Zeit war noch nicht gänzlich abgelaufen gewesen, als sie vor unbekannter Zeit gestorben war – dessen war die junge Frau sich jetzt sicher.
Und irgendetwas gab es an diesem Ort. Sie konnte es spüren. Eine Empfindung, die ihr sagte, dass er auch Teil ihrer Vergangenheit gewesen war. Sicherlich, wie hätte es auch anders sein können?
Doch anstatt die alten Erinnerungen wiederzufinden, blieb ihr Kopf leer. Sie spürte es, aber dem Gefühl fehlten die Bilder. Nicht einmal ob positiv oder negativ wusste sie zu sagen, obgleich sie sich – schon durch die sonderbare Begegnung mit jenem Mann namens Aigonn – sicher war, dass es etwas Wichtiges gab, an das sie sich eigentlich erinnern müsste. Eigentlich.
Der Wind frischte auf. Die Bäume erzählten flüsternd aus älteren Tagen. Geschichten, die Menschen mit ihren Ohren für gewöhnlich nicht hören konnten. Nicht mehr. Vorsichtig schlug die junge Frau ihre Augen auf. Sie spürte es. Irgendetwas hatte sich binnen eines Herzschlages geändert. Eine alte, doch zeitlose Kraft schien über dem ganzen Land zu liegen. Pulsierend und regelmäßig wie der Herzschlag der Erde. Und je mehr ihre Gedanken zum Wald hinwanderten, dem ihr Körper den Rücken zugedreht hatte, desto mehr fühlte sie, wo die Quelle lag.
„Seit wann hast du Grund, dich vor mir zu fürchten?“
Der jungen Frau schossen alle Nackenhaare in die Höhe. Ein Schauer ließ ihren Körper erzittern, während jene Stimme, fast klanglos, in ihrem Kopf widerhallte und ein Gefühl zurückließ, für dessen Beschreibung Menschen nicht genug Worte kannten.
Langsam, als bedeutete jede zu schnelle Bewegung den Tod, wandte die junge Frau sich um. Sie wusste nicht, was sie erwartete, doch ein Gefühl in ihr flüsterte vertrauenerweckende Worte. Ihr Geist kannte die Macht, die unmittelbar hinter ihr erschienen war. Sie war allgegenwärtig, durchzog jeden Grashalm dieses Landes. Aber sie wollte nicht glauben, nun mit eigenen Augen zu sehen, was ihrer aller Geschicke gelenkt hatte – und es noch immer tat.
Die Gestalt war so unwirklich, dass man sie mit menschlichen Augen kaum erfassen konnte. Blass, durchscheinend, die Konturen weich wie die Nebelschwaden stand sie zwischen den Bäumen. Die junge Frau konnte nicht sagen, ob dieses Wesen einem Menschen, einem Mann ähnlich war. Es hatte kein Geschlecht, keinen Körper wie die Bewohner der Erde. Und doch war es realer als alles, das sie kannte.
Entfernt vermochte sie zu sagen, dass dieses Wesen einem Mann ähnelte. Das Gesicht war von Zügen geprägt, deren Alter niemand mehr schätzen konnte. Denn das Altern selber gab es in diesem Antlitz nicht. Ein Hirschgeweih, mächtiger als jedes, das man je an einem lebenden Tier gesehen hatte, ragte schummrig und unwirklich in das Blätterdach des Waldes hinein. Die junge Frau erkannte die Gestalt nur verschwommen. Doch das milde, geheimnisvolle Leuchten, das sie umgab, spürte sie deutlicher als jede Mittagssonne.
Er ist gekommen, der Herr Des Waldes. Sie wagte kaum, diese Worte in ihren Gedanken zu formen. Der Ausdruck im Gesicht des Gottes war undeutbar, als er sich mit einem Lächeln um die Lippen näherte. Die junge Frau glaubte, dem nicht mehr standhalten zu können. Seine ruhende Macht, alt wie die Zeit, schien sie zu überwältigen. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und ihr Gesicht in den Armen verborgen. Doch sie wagte nicht, sich abzuwenden.
„Ich kann fühlen, was es für dich bedeutet, wieder hier zu sein.“ Die junge Frau bekam eine Gänsehaut. „Es ist nicht üblich, einer Seele einen sterbenden Körper statt den eines Neugeborenen zu schenken. Aber manche Situationen erfordern eine solche Tat.“
„Mein Herr …“ Die Stimme der jungen Frau zitterte. „Ich bin überzeugt, es gab einen triftigen Grund.“
„Den gab es.“
Sie schauderte erneut. Obgleich es an Blasphemie grenzte, so etwas auch nur zu denken, schien in der Stimme des Gottes ein Hauch von Wut mitzuschwingen. Die Ruhe, die von seiner Aura ausging wie ein Duft, geriet ins Wanken.
„Und es bietet sich dir damit eine neue Möglichkeit, zu vollenden, was dir in deinem vergangenen Leben nicht gelungen ist.“
Die junge Frau stutzte. „Ich kann mich nicht erinnern. Was ist damals geschehen?“
„Das kann und will ich dir nicht sagen. Jeder erfährt seine Chance zu gleichen Teilen. Aber ein Mensch wie du wird schneller Antworten auf seine Fragen finden, als er glaubt.“
Die Präsenz des Gottes ließ nach. Noch immer hatte das strahlende Antlitz ihren Blick gebannt, hielt ihn gefangen, sodass sie ihn nicht abwenden konnte.
„Antworten werden kommen. Aber dir bleibt keine Zeit zum Zögern mehr.“
Damit begann die Gestalt sich aufzulösen. Die junge Frau kämpfte mit dem Drang, den Herrn Des Waldes zurückzurufen und ihm alle Fragen zu stellen, die in diesem Moment fast unerträglich auf ihrer Zunge brannten. Doch sie konnte es nicht. Sie spürte, dass dies nicht Sinn seiner Anwesenheit war. Der Glanz seiner Augen berührte sie ein letztes Mal. Sie keuchte auf, als würde er ihr wie ein Schwert tief in die Seele dringen. Sie konnte das nicht ertragen, es war unmöglich, in einer solchen Kraft bestehen zu können.
Dann war er fort. Was der Herr Des Waldes zurückließ, war ein unsichtbarer Schimmer, die letzte Spur seiner Aura, die kaum wahrnehmbar über den Grashalmen flackerte. Die Lunge der jungen Frau bebte, als wäre sie um ihr Leben gerannt. Ihr ganzer Körper zitterte. Die uralte Kraft schien wie eine Stütze aus ihrem Inneren weggebrochen – die Hand der Mutter, wenn ein Kind laufen lernt. Sie wusste, was zu tun war. Es wurde Zeit, dass das Kind auf seinen eigenen Beinen stand.