Читать книгу Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1 - Astrid Rauner - Страница 13

Am Grab eines Freundes

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Die Bäume schienen zu flüstern, als der Wind lau über das Wasser strich. Morgengrauen war angebrochen. Die Hitze des Sommers hatte den Kampf mit den Frühnebeln noch immer nicht gewonnen, sodass eine feuchte, klamme Kühle über den Wiesen lag. Für Aigonn schien es in diesem Moment nichts Passenderes zu geben. Die Morgenröte lag zwischen Wolkenfetzen verborgen. Das rote Licht drang nur wie ein Schleier zu der kleinen Prozession hindurch, die sich vor einer Zeit lang bereits aus der Siedlung der Bärenjäger zur Totenaue begeben hatte.

Aigonn fröstelte es, als er seinen Blick über das Land schweifen ließ. Die Totenaue war eine leicht sumpfige Wiese. Hohe Gräser wuchsen in der Schwemmwasserzone eines Sees, dessen Schilf sich immer weiter ins Land vorkämpfte. Aigonn selbst hatte mehrmals nur mit Mühe den kaum sichtbaren Schlickrinnen in Ufernähe ausweichen können. Denn mit jedem Regen eroberte der See ein Stück mehr der an einem Waldrand gelegenen Wiese zurück.

Lediglich die Sommerhitze vermochte ihn zu bremsen. Einmal im Jahr, um die Sommersonnenwende herum, wich das Wasser weit genug, um alte, von den Naturgewalten zu Fall gebrachte Menhire wieder zum Vorschein zu bringen, die das Wasser längst unter sich begraben hatte.

Ein Schauer jagte Aigonn über den Rücken. Die alten Steine schienen wie Boten aus ferneren Zeiten zu ihm hinüberzusehen – anklagend, weil man dieses ehemalige Heiligtum so widerstandslos dem See zurückgegeben hatte. Die Totenaue hatten schon die Ahnen der Bärenjäger als den heiligen Ort erkannt, der er war, so nah an diesem See, dessen wahre Tiefe niemand kannte. Schon als Kind war es Aigonn leicht gefallen, sich vorzustellen, wie die Seelen der Verstorbenen durch das Wasser direkt das Tor zur Anderen Welt erreichten. Wenigstens würde Tarages es nicht weit haben.

Rowilan lief den Bewohnern des kleinen Dorfes voran. Danach folgten ihm Behlenos und Tarages’ Vater, die zusammen den Toten auf einer Trage trugen. Das Zwielicht des Morgens machte die Blässe im Gesicht des jungen Mannes kaum sichtbar. Es schien Aigonn, als brachte man soeben einen Schlafenden zu dem offenen Grabhügel, der den Ahnen seiner Familie schon als Ruhestätte gedient hatte.

Aigonn hatte sich niemals die Mühe gemacht, alle Gräber zu zählen, die in vielen verschiedenen Jahrhunderten von Vorfahren und deren Nachfahren errichtet worden waren. Wie eine Stadt der Toten lag das Ufer da – und mit ihm so viele nicht erzählte Geschichten, dass sie für Aigonn zum Leben zu erwachen schienen. Immer wieder blickte er verstohlen über die eigene Schulter. Da er an diesem Morgen vor lauter Müdigkeit beinahe verschlafen hatte, folgte er mit Efoh der Prozedur an letzter Stelle – was ihn zum einen verdrießlich stimmte, zum anderen aber genug Raum für seine Verklärtheit bot. Wie mechanisch stimmten seine Lippen in den monotonen Sprechgesang ein, den die Menschen über die feuchte Wiese trugen. Er verstummte erst, als Rowilan vor dem offenen Erdhügel zum Stehen kam.

Schwarz sah der Eingang des von innen mit Baumstämmen abgestützten Erdhügels in den frühen Tag hinaus. Das Grab, das man in Eile mit einer weiteren Kammer ausgestattet hatte, war kaum höher als der Schamane selbst und wirkte armselig neben den stolzen Ruhestätten von Kriegern und Fürsten aus anderen Jahrhunderten.

„Vater Himmel, Mutter Erde, Mächte von Vergehen und Ewigkeit, die ihr uns geschaffen habt, eure Kinder grüßen euch!“

„Wir grüßen euch!“, folgte das einstimmige Echo von Rowilans Worten aus allen Mündern der Anwesenden. Dann legte sich eine Stille über die Aue, die Aigonn Gänsehaut auf die Arme trieb. Rowilan hatte den Kopf gen Himmel gereckt. Aigonn konnte es von weitem nicht erkennen, doch er wusste, dass sich langsam die Pupillen des Schamanen wegzudrehen begannen. Der heilige Trank, der Zwiesprache mit den Göttern erlaubte, begann Wirkung zu zeigen. Sein Körper versteifte sich. Ein feines Zucken ließ erkennen, dass sich kein Glied der berauschenden Kraft mehr entziehen konnte.

Fast reglos stand er da. Und obgleich Rowilans Bewusstsein längst die Grenze des Menschlichen überschritten hatte, schien seine Stimme noch aus dieser Welt zu kommen. „Vater Himmel, Mutter Erde, ein Sohn unserer Gemeinschaft hat die Welt der Menschen verlassen. Als Held ging er von uns im Kampf gegen unsere Feinde. Ehre und Ruhm ruhen auf seinem Haupt. Wir bitten euch, öffnet die Tore zur Anderen Welt! Wir bitten euch, nehmt ihn in eure Reihen!“

„Wir bitten euch“, echote die Menge abermals. „Öffnet die Tore zur Anderen Welt! Wir bitten euch, nehmt ihn in eure Reihen auf!“

Behlenos, der unmittelbar hinter Rowilan stand, ergriff eine Trommel. Der gleichmäßige, monotone Takt ergriff Aigonns Körper wie sein eigener Herzschlag. Es war zwecklos, sich ihm entziehen zu wollen. Wie von einer fremden Hand geleitet, fielen alle Menschen des Dorfes in seinen Rhythmus ein und wiegten sich, während sie immer und immer wieder die Bitte wiederholten: „Wir bitten euch, öffnet die Tore zur Anderen Welt! Wir bitten euch, …“

In einer kleinen Tonschüssel, die er in einer Hand hielt, entzündete Rowilan eine Flamme. Die Kräuter, die er darin verbrannte, verbreiteten ihren Rauch über der ganzen Aue. Aigonn wurde schwindelig. Von weitem schien es ihm, als könnte er nun die Seele des toten Tarages erkennen, ein flackerndes Licht, leicht abseits des Leichnams. Zwei Teile eines großen Ganzen, das nie wieder zusammenfinden würde. Die letzte Stufe eines Kreislaufs, der an dieser Stelle geschlossen werden sollte.

Der Trommelschlag gewann an Tempo. Aigonn klammerte sich an eine Tonschüssel, die sein Abschiedsgeschenk für Tarages verwahrte. Jeder hatte einen letzten Gruß für den Toten mit sich genommen. Und dieser schien nun mit wachen, neugierigen Augen darauf zu spähen, was man ihm mitgebracht hatte.

Unschuldig wie ein Kind, entkam es Aigonn. Und als er dies zu Ende gedacht hatte, schien die Seele des Toten ihren unsichtbaren Blick direkt auf ihn gerichtet zu haben. Er lächelte. Es gab nichts, an dem man diese Behauptung festmachen konnte. Doch Aigonn wusste es. Nur einen Herzschlag lang begegneten sich die beiden Freunde zum letzten Mal, dann wandte Tarages sich ab und blickte zum See hinaus.

Plötzlich stolperte Aigonn zwei Schritte nach hinten. Eine Druckwelle jagte über den See, heftig, wie ein Erdbeben, doch von keiner einzigen Welle verraten. Ihr folgte eine Kraft nach, eine Kraft, die nichts Böses in sich trug, doch die von einer solchen Stärke und ungewohnten Beschaffenheit war, dass es Aigonn die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Schwer atmend sah er zum See hinaus. Ein blasses Licht schimmerte in dessen Zentrum. Er brauchte Rowilan nicht, um zu wissen, dass die Götter ihre Bitten erhört hatten. Dieses Tor zur Anderen Welt stand offen.

Dann verstummten die Bittrufe der Menschen. Im Takt der Trommel legte jeder sein Geschenk auf den Boden, während zwei Männer den Leichnam des Toten in den Grabhügel trugen. Vier Schritte, dann hatte die Dunkelheit den toten Körper verschlungen. Tarages’ Seele stand unbewegt da. Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen blickte er auf die Gegenstände, die man ihm darbot: Waffen, teures Geschirr, voll von kostbarem Wein, schön geschmiedeter Schmuck und kunstvoll bestickte Tücher. Sie waren alle Zeichen von Freundschaft, von jahrelanger Anerkennung. Niemand hatte den Tod dieses jungen Mannes herbeigewünscht, der kaum das Mannesalter erreicht hatte. Tarages lächelte.

Aigonn jedoch taumelte wie ein Betrunkener, als seine Tonschüssel ins Gras glitt. Kalte Schauer jagten ihm über den Rücken. Für einen Herzschlag spähte er nach oben, um zu sehen, ob er der einzige war, der diese gewaltige Kraft fühlen konnte. Und es wurde ihm mulmig zumute, als sich seine Vermutung bestätigte.

Nimm dieses Geschenk, alter Freund! Es kostete ihn Überwindung, sich auf die unausgesprochenen Worte zu konzentrieren. Seine Finger fassten das Tuch und enthüllten drei bronzene Schmuckstücke in der Schüssel. Sie waren keine Kunstwerke, nur einfache aus Draht gedrehte Armreife für das Handgelenk, die Aigonn einem fahrenden Händler abgekauft hatte. Doch trotz ihrer Schlichtheit hatte Tarages ihn immer um sie beneidet. Sie hatten ihm besser gefallen als vieler anderer Schmuck. Deshalb wollte Aigonn sie ihm überlassen.

Er schwankte, während er aufstand. Die Trance der Trommel war so undurchdringlich, dass niemand bemerkte, wie Aigonn das Schauspiel in nicht gekannter Intensität verfolgte. Als der Rhythmus noch einmal an Tempo gewann, sog Aigonn scharf die Luft ein. Aus der Kraft, die von der Mitte des Sees einen Strahlenkranz aussandte, begann sich ein Sog zu bilden. Tarages’ Seele formte einen letzten Gruß. Begleitet von den Stimmen all seiner Freunde, Verwandten und früheren Gefährten, löste er sich von dem Grabmal und schwebte hinaus, auf das Licht zu.

Plötzlich verlor Aigonn das Gleichgewicht. Ohne zu wissen, wie ihm geschah, krallte sich ein unbekanntes Etwas um seinen Hals. Sein Atem versiegte. Röchelnd schlug er ins nasse Gras, während er panisch an seinen Hals zu greifen versuchte. Doch anstatt etwas Fassbares in Händen zu halten, spürte er nur eine Kälte, die ihn so plötzlich erfasste, dass ihm das Herz stehen bleiben wollte.

Was bist du?, schrie er panisch in seinem Kopf. Wo vorher sein Hals gewesen war, spürte er nur ein Kältebrennen, dass ihm der Schädel zu platzen schien. Der Boden verlor an Substanz unter seinem Körper. Schwindel überkam ihn. Hilflos strampelte Aigonn, während sein Bewusstsein immer weiter aus der Welt der Menschen abdriftete. Nur noch durch einen Schleier sah er den kleiner werdenden Lichtkegel in der Mitte des Sees immer näher kommen. Er bekam keine Antwort. Nur ein Zischen, das niemals ein Mensch hätte erzeugen können, hing über ihm in der Luft. Irgendeine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er es verstehen konnte, wenn er wollte, doch seine Kräfte schwanden mit jedem Herzschlag.

„Nicht … kein weiterer … weiteres Mal … wirst du …wirst du mir entgehen! Erwache, Schlafender, erwache endlich!“

Aigonn glaubte, sein Trommelfell würde platzen. Die Stimme hallte so hoch in seinem Schädel wider, dass er am liebsten aufgeschrien hätte. Doch zum Schreien fehlte ihm der Atem. Das Röcheln reichte immer tiefer. Seine Lunge verbrannte. Irgendein Teil seines Kopfes hatte sich mit dem Unvermeidbaren abgefunden und besänftigte seinen Widerstand. Meine Zeit scheint gekommen zu sein …

Plötzlich war sein Hals frei. Der Druck brandete so unvermutet zurück, dass Aigonn einen Herzschlag lang meinte, zurückgeworfen werden zu müssen. Wasser. Er schwebte direkt über dem See. Wo war das Wasser? Seine Kräfte ließen nach. Er konnte nicht mehr. Ein einziger, gewaltiger Atemzug war genug, dass er im Schwindel ertrank. Ein grau-weißer Lichtblitz zischte an ihm vorüber. Das ohrenbetäubende Kreischen kehrte zurück – das Kreischen, das ihn beim Grab der Götter verfolgt hatte. Und sie kamen wieder, die Bilder. Bevor die Dunkelheit ihn verschlang, sah er sie noch einmal, zwei große, tote Augen in einem verrenkten und verdrehten Körper. Derona. Derona …, rette mich!

„AIGONN!” Ein Schlag. Die Haut brannte auf seiner Wange, als Aigonn aus dem Schwindel in die Wirklichkeit auftauchte. Die farbigen Schlieren nahmen so schnell Gestalt an, dass ihm beinahe übel geworden wäre. Doch der unsägliche Schmerz in seiner Kehle betäubte jegliche weitere Empfindung.

„AIGONN, bei allen Göttern! Hörst du mich?“

„Efoh…“ Das Wort brannte in seinem Hals. Er schien so ausgetrocknet, dass der Husten ihn schneller überkam als die Beherrschung. Röchelnd spie Aigonn Schleimklumpen auf die Erde, halb ohnmächtig vor Schmerz, während die Wirklichkeit wieder Konturen annahm.

Kein Wasser. Er lag auf dem Gras direkt neben der Tonschale, die seine Geschenke an Tarages beinhaltete. Flüchtig erhaschte er aus dem Augenwinkel den letzten Lichtfunken aus der Mitte des Sees. Er lag auf dem Trockenen. Das Feuchte an seinem Körper war sein eigener, kalter Schweiß.

Alle Menschen des Dorfes hatten sich zu einer schreckensstummen Traube um ihn zusammengefunden. Als Aigonn sich vorsichtig aufzurichten begann, wichen sie erschrocken zurück, als ob etwas Böses von jeder seiner Bewegungen ausging. Aigonn wusste nicht, was er tun sollte. Der Schrecken hatte sich so tief in seine Züge gebrannt, dass er nicht sagen konnte, ob er einfach sitzen bleiben oder schreiend davonrennen sollte. Am liebsten rennen. Er wollte rennen, weg, irgendwohin, wo ihn dieses namenlose Geschöpf nicht verfolgen konnte. Seine Finger prickelten noch immer vor Kälte, als ob alle Wärme des Sommers nicht mehr zu ihm durchdringen konnte.

In sicherem Abstand standen die Menschen um ihn herum. Efoh war der einzige, der nur mit Bestürzung, nicht mit namenloser Angst zu ihm hinabsah. Für einen Herzschlag glaubte Aigonn, die Zeit würde einfrieren, bis Rowilan langsam die Menge teilte und vorsichtig auf ihn zukam.

Der Schamane schwankte – ganz gleich, wie gern er diese Tatsache verborgen hätte. Die Wirkung des heiligen Göttertrankes war kaum von ihrem Höhepunkt abgeklungen, sodass seine Augen fern und geweitet wirkten.

Mit einem undeutbaren Ausdruck sah der Schamane zu ihm hinab, bevor er vor Aigonn in die Knie ging. Schweigend fischte seine Hand eine Faust breit neben Aigonns Kopf nach einer unsichtbaren Substanz, die niemand außer ihm zu sehen schien. Einen Herzschlag lang schienen die Augäpfel aus seinen Höhlen zu fallen, bevor er sich fing, schwankend aufstand und mit klarer Stimme verkündete: „Habt keine Furcht! Das … das Böse umgibt ihn nicht mehr!“

Aigonn glaubte ein Aufatmen zu hören, aber dennoch kam niemand näher. Endlich gelang es ihm, mit heiserer Stimme hervorzupressen: „Was … war das … das Böse?“

„Das kann ich dir selbst nicht sagen!“ Rowilans Miene wurde plötzlich so finster, dass es Aigonn schauerte. „Aber du, junger Mann, entkommst mir kein weiteres Mal. Jetzt ist Schluss mit deinen Spielereien!“

Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1

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