Читать книгу Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1 - Astrid Rauner - Страница 15

Zurückgekehrt

Оглавление

Als Rowilan in den Vormittag hinaustrat, schäumte er vor Wut. Seine Beine fanden den Weg zurück zu seiner kleinen Hütte, die abseits des eigentlichen Dorfes gelegen war, fast von allein. Ein Bachlauf unterbrach dort die Palisaden und machte einen eigenen Wachposten nötig, der dort täglich eine besondere Runde abschritt. Denn selbst wenn es einem gepanzerten Krieger nicht gelingen würde, unbemerkt in die Siedlung einzudringen – groß genug für eine Frau oder ein Kind war der Durchlass allemal.

Der Schamane grüßte den Krieger flüchtig, bevor er die Tür seiner Hütte aufriss. Der vertraute Duft getrockneter Kräuter, die wie Trophäen überall von der Decke hingen, bezähmte sein erhitztes Gemüt. Hier, in seinem Reich, geschahen die Dinge nur so, wie er es wollte. Hier gab es keinen Ärger, keine sinnlosen Debatten über Ehre, Vertrauen und Stolz. Nur den murmelnden Bach, dessen Geister in stiller Zufriedenheit über die schlammige Erde glitten, überall dorthin, wohin sie gehen wollten. Wasser hielt man nicht auf.

Abgespannt ließ sich der Schamane auf sein Schlaflager fallen. Der Ärger über den Jungen Aigonn nagte noch immer an seinem Stolz. Er kam sich verhöhnt vor, an der Uneinsichtigkeit dieses jungen Mannes gescheitert. Am liebsten hätte er irgendeines seiner Tongefäße gegriffen und auf dem Boden zerschlagen. Doch es wäre vergebens gewesen.

Deshalb entschied sich Rowilan, einen Moment lang neue Konzentration zu finden. Er verdrängte die Außenwelt aus seiner Behausung. Ohne auf die Geräusche der Siedlung zu achten, trank er lediglich den Anblick seiner Einrichtung in sich hinein: Die Kräuter, die an den Deckenbalken festgebunden waren, der niedrige Dachstuhl, die unzähligen Regale an seinen Wänden, wo sich Tontöpfchen und Fläschchen häuften, die Fässer neben seinem aus ganzen Stämmen geschnittenen Tisch, der halb unter unordentlich hingeworfenen Tüchern verborgen lag, die Wandnische mit den heiligsten Kultgegenständen, sein Hocker …

Dort hielt Rowilan inne. Auf dem Hocker saß Behlenos. Der Fürst begann schelmisch zu grinsen, als er sich endlich der Aufmerksamkeit seines Schamanen gewiss war. Rowilan hingegen legte die Stirn in Falten.

„Du weißt, ich mag es nicht, wenn du ohne meine Erlaubnis dieses Haus betrittst!“

„Und du hast noch nie so lange gebraucht, um meine Anwesenheit zu bemerken! Dieser Junge muss dich ganz schön geärgert haben.“

Rowilan schüttelte mit dem Kopf. „Es ist nicht zu fassen. Ich kann gar nicht verstehen, was dir Grund zu solcher Gelassenheit gibt.“

„Die Dinge gelassen zu betrachten, bedeutet nicht, ihnen weniger Bedeutung zuzuweisen. Hast du etwas ausrichten können? Wenigstens eine Kleinigkeit?“

Auf Behlenos’ Frage hin stieß der Schamane angespannt die Luft aus. Der Fürst war nicht viel älter als er selbst. Sie standen beide kurz vor dem dreißigsten Lebensjahr. Während jedoch Behlenos’ athletischer Körper Schwielen und Überbelastungen aufwies, die mehr einem Bauer als einem Krieger entsprachen, war der hagere Schamane schlank wie ein Jüngling. Hätte er Zeit und Geduld, sich den struppigen, unsauberen Bart aus dem feinzügigen Gesicht zu schneiden, könnte er den Lichtfeen nacheifern, wenn er wollte.

„Er ist beharrlich und stur, wie eh und je. Zwar hat Aigonn gestanden, dass er die Andere Welt sehen konnte, als ich das Tor geöffnet habe. Aber ich glaube immer noch, dass er mir nur die halbe Wahrheit erzählt. Es ist zum Verzweifeln!“

„Moribe hatte schon immer großen Einfluss auf ihre Kinder. Als sie nach Deronas Tod den Verstand verloren hat, konnte Aigonn ja gar nicht anders, als alles Vertrauen in dich zu verlieren.“

„Dass diese Menschen immer noch glauben, ich hätte sie geopfert!“ Die Wut hatte Rowilan eingeholt. So oft er diese Worte auch ausgesprochen hatte, sie brannten in seinem Mund wie beim ersten Mal. „Ich habe diese Frau geliebt! Derona wäre die Gefährtin an meiner Seite gewesen, nach der ich mein Leben lang gesucht habe! WEISST DU, WAS ICH GEBEN WÜRDE, WENN ICH SIE ZURÜCKHOLEN KÖNNTE?“

„Ich weiß es.“ Behlenos’ Tonfall änderte sich kaum. „Du warst damals ein sehr junger Schamane, kaum aus der Lehrzeit entlassen. Ich selbst habe meinen Vater ermahnt, dass du noch nicht reif genug sein könntest, um gleich die höchste Position deines Standes zu übernehmen.“ Diese Worte versetzten Rowilan einen Stich. Widerwillig spürte er seine Lippe zucken, als der Fürst weitersprach: „Aber du warst gut, besser als viele andere. Ich kannte dich, und du weißt, dass ich dir immer vertraut habe. Doch es ist nicht das erste Mal gewesen, dass ein geliebter Mensch zugunsten deines Wissensdurstes auf der Strecke geblieben ist. Und bis heute bist du der einzige, der weiß, weshalb Derona sich in den Tod gestürzt hat!“

„ICH WEISS ES NICHT, BEI ALLEN BÖSEN GEISTERN DIESER WELT!“

„Wirklich nicht?“ Behlenos erhob sich. Als ob der zornesrote Schamane vor ihm ein brüllendes Kind wäre, lief der Fürst ungerührt in Richtung Tür und verharrte dort nur kurz, um zu sagen: „Du weißt, was wir beschlossen haben. Mir ist es egal, mit welchen Mächten du dich anlegst, solange es uns nicht schadet. Denn ich weiß, dass es dir nicht aus den Händen gleitet. Aber bitte bring diesen Jungen unter deine Kontrolle, bevor etwas Schlimmeres passiert als der Verlust seines Lebens!“

Damit ging der Fürst. Rowilan starrte ihm mit geweiteten Augen nach, der Atem bebend, als wäre er über die Wiesen gerannt. In seinem Kopf tobte es. Er brauchte drei tiefe Atemzüge, bevor er aufsprang, zur Tür rannte, aber dort verharrte. Behlenos war gerade zwischen den ersten Häusern des Dorfes verschwunden. Der Bach plätscherte ungerührt in den Tag hinaus, während der wolkenlose Himmel werdende Sommerhitze versprach.

Rowilan wusste nicht, was er tun sollte. Der Zorn wurde zu einer Ohnmacht, die ihn nur noch mehr in Rage brachte. Gerade wollte er die Tür hinter sich zuschlagen, als eine Stimme ihn aufhielt: „Rowilan!“

Der Schamane wandte sich um. Aehrels bärtiges Gesicht blickte ihm von der Dorfseite aus entgegen, während die linke Hand des Kriegers das Leinen seines Hemdes knetete. „Du wolltest mich heute nach der Prozession sprechen, damit ich dir zur Hand gehen kann. Wenn du aber lieber für dich sein willst, werde ich …“

„Nein, nein.“ Rowilan mäßigte sich gezwungen. „Ich lasse mir von diesem Narr nicht alles aus dem Ruder werfen, das ich anpacken wollte. Komm mit hinein!“

„Vielleicht solltest du mich zuerst zum Tor begleiten. Was der Wachposten dort entdeckt hat, könnte dich interessieren!“

„Was soll das sein?“ Rowilan horchte auf. Der alte Krieger sprach jedoch nicht weiter, sondern winkte den Schamanen nur zu sich und folgte dem Weg zum Ausgang der Siedlung.

Versprochen hatte Aehrel nicht zu viel. Rowilans Augen weiteten sich einen Augenblick, als er an die Seite des Wachpostens – oben auf dem Wehrgang – getreten war und nun hinunter auf die Wiese schaute.

„Soll ich sie einlassen?“ Der junge Krieger blickte unsicher immer wieder nach unten und von dort zurück zu seinem Schamanen. Dieser jedoch antwortete nicht.

Vor dem Tor stand Lhenia. Rowilan erkannte ihr Äußeres, auch wenn er nicht sagen konnte, was sich an ihr verändert hatte. Denn etwas gab es. Ruhig sah sie zu den drei Männern hinter den Palisaden hinauf, zu welchen sich immer mehr Schaulustige gesellten. Mit faltiger Stirn musterte Rowilan sie. Es war Lhenia. Doch auf eine gewisse Weise auch nicht. Vielleicht war es der Ausdruck in ihren Augen. Ein unheimlicher Schimmer, nicht menschlich, nicht einmal irdisch, schien von ihr auszugehen. Es war eine Aura, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Der Schamane konnte nicht sagen, wie ein Mensch sich veränderte, wenn er die Andere Welt gesehen hatte. Aber Lhenia hatte es, da war er sich sicher.

„Öffne das Tor!“, gebot er dem Wachposten und folgte diesem die Palisaden hinunter. Ein feines Lächeln umspielte die Lippen der jungen Frau, als man ihr Einlass gewährte. Der Schamane war wider Willen bereits von einer Horde neugieriger Kinder umgeben, die erwartungsvoll zwischen den Beinen ihrer nicht minder angespannten Eltern hervorlugten. Mit einer unwirschen Handbewegung hielt Rowilan die Menge auf Abstand, als sich das Tor zur Gänze geöffnet hatte und er nun die Frau von Angesicht zu Angesicht sah, die sie auf wundersame Art und Weise alle gerettet hatte.

„Sei gegrüßt, mein Kind.“ Ungewollt schauerte es den Schamanen ein zweites Mal. Obwohl Lhenia sich teilweise gewaschen und scheinbar mehrere Nächte unter freiem Himmel verbracht hatte, waren ihre Kleider noch immer dieselben, mit denen sie vor die Götter der Anderen Welt getreten war. Blut klebte braun und angetrocknet überall auf dem verdreckten Leinen, als wäre sie eine der Todesfeen, die vor jeder Schlacht die Hemden der Todgeweihten wuschen. Die Wangen waren noch immer gerötet vom heiligen Ocker. Sie trug die geweihte Farbe der Geopferten wie eine Kriegsbemalung, während sie ruhig und berechnend zu Rowilan aufsah.

Der Schamane spürte, dass Lhenia versuchte, sich zu geben, wie sie früher gewesen war – zu tun, als ob nie etwas Sonderbares geschehen wäre. Doch sie war nicht in der Lage dazu. Lhenia war anders, anders als früher. Rowilan spürte es, und noch mehr bereitete ihm Unbehagen, dass dieses junge Mädchen mit einer solchen Situation erstaunlich gelassen umzugehen schien.

Als ihm allmählich bewusst wurde, wie unverhohlen er Lhenia musterte, löste Rowilan sich aus seiner Erstarrung und forderte sie auf: „Nun komm doch herein! Niemand hat dich verstoßen, nur weil die Götter dir ein besonderes Schicksal auferlegt haben. Wir sind froh, dass du zu uns zurückgekehrt bist!“

Damit ging er auf Lhenia zu und breitete die Arme zum Willkommensgruß aus. Zögerlich erwiderte die junge Frau seine Geste. Rowilan spürte Unsicherheit, Verkrampfung, sodass Lhenia sich schnell wieder löste.

Der Schamane lächelte warm und legte väterlich eine Hand auf ihre Schulter. „Und nun folge mir! Du hast viel erlebt und bist sicherlich erschöpft. Es gibt keinen Grund, dass du hier stehst wie eine Fremde!“

Wenn du wüsstest! Die Mundwinkel der jungen Frau zuckten so unmerklich, dass es dem Schamanen nicht auffiel. Sie war erleichtert zu erfahren, dass dieser Junge namens Aigonn ihr Geheimnis scheinbar niemandem anvertraut hatte. Das machte die Sache einfacher. Zwar mochte es ihr schwer fallen, eine Person zu mimen, die nur noch wie ein grauer Schleier in ihrem Schädel hing. Doch die Vertrautheit, die jenes Mädchen namens Lhenia mit diesem Ort, dem Dorf, verbunden hatte, erfasste den fremden Körper noch immer.

Das Dorf war voller Erinnerungen. Die junge Frau konnte nicht sagen, ob es die Lhenias oder vielleicht sogar ihre eigenen waren. Doch Wärme, Geborgenheit und Sicherheit machten die Ankunft in dieser Siedlung bei weitem einfacher.

Mit einem knappen Dank an das freundliche Willkommen des Schamanen folgte sie dem Mann in das Dorf hinein. Die junge Frau konnte nicht leugnen, dass sie sich trotz äußerer Gelassenheit unbehaglich fühlte, während sämtliche Menschen auf Wegen, in Hauseingängen und Gärten bei ihrem Anblick innehielten, verstummten und kurz darauf misstrauisch zu tuscheln begannen. Als ich zurückgekehrt bin, haben sie einen Eindruck von der Welt erfahren, die normalerweise nur ein Schamane in solchem Ausmaß erlebt. Und es prickelte auf ihrer Haut, als die junge Frau sich bewusst machte, dass sie – sie, wer auch immer das war – wie die alten Großmeister vergangener Tage den Sprung zwischen den Welten vielleicht nicht selbst gewagt, aber trotzdem vollbracht hatte. Sie hatte die Andere Welt gesehen. Sie war mit dem Bewusstsein ihres vergangenen Lebens und den Eindrücken aus der Welt der Götter und Geister auf die Erde zurückgekehrt – ganz gleich, wie unterschwellig und dumpf sich diese Erinnerungen verborgen hatten.

Doch als die Gedanken der jungen Frau in die Wirklichkeit abschweiften, dämpfte das ihre Euphorie. Der Schamane spürte, dass etwas geschehen war. Auch wenn er sicherlich vermuten musste, dass der Gang zwischen den Welten auch eine vertraute Seele nicht ungerührt lassen würde, schien er doch zu erkennen, dass noch mehr geschehen war als das.

Spürte er, dass sie eine andere war? Und wenn ja, war es klug, sich ihm anzuvertrauen? Die junge Frau vermochte nicht einzuschätzen, ob man diesem Mann – Rowilan, wie er gerufen wurde – nun wahrlich vertrauen konnte. Er schien eine ganz eigene Sorte Mensch zu sein – nicht der Menge nachfolgend, sondern polarisierend. Ein Mann der Macht, der nicht einen Funken davon verschenken würde.

Verstohlen huschte der Blick der jungen Frau immer wieder zu den umstehenden Menschen. Es waren vorwiegend Frauen. Viele Männer hatte sie draußen auf den Feldern arbeiten sehen. Doch auch einige Halbwüchsige und Krieger hatten sich dazwischen gemischt. Immer wieder glaubte sie, Aigonn erkannt zu haben, doch sie irrte sich. Er war nicht da. Hatte scheinbar nichts von ihrer Ankunft erfahren. Auf eine gewisse Weise wurde der jungen Frau ihr Weg dadurch schwerer. Sie fühlte sich unwohl in dieser fremden Haut, die jeder der Anwesenden kannte und mit einem Menschen verband, der längst vor die Götter getreten war. Jeder, außer Aigonn. Der einzige, dem sie sich anvertraut hatte. Innerlich musste die junge Frau sich eingestehen, dass sie ihn gern an ihrer Seite gewusst hätte. Mit jedem Schritt, den sie dem Schamanen nachfolgte, fühlte sie sich mehr so, als wollte man sie einem Richter ausliefern.

Der Schamane Rowilan für seinen Teil würdigte sie keines Blickes, bis sie ein größeres Lehmhaus erreicht hatten, das sich durch die kunstvollen Schnitzereien in den Dachbalken schon von weitem von den anderen Behausungen abhob. Innen fand sie eine kleine Gruppe Männer vor, die man scheinbar auf ihren Besuch nicht vorbereitet hatte.

Ganz gleich, wie freundlich Rowilan ihnen die Nachricht verkündete, als die junge Frau in den großen Speiseraum hineintrat, starrten sie acht geweitete Augen an, als wäre sie ein Geist und kein Mensch. Es brauchte einen langen Augenblick, bis einer der Männer, den sein filigraner Goldschmuck als Mann von Einfluss auswies, aufstand und nun mehr verblüfft als bestürzt herausbrachte: „Lhenia! Lhenia …, es … es freut mich sehr, dass du zurückgekehrt bist!“

Der Mann fasste ihre Hände. Wie ein Blitz flammte eine unkenntliche Erinnerung tief im Geist der jungen Frau auf. Doch sie verschwand schneller, als dass ein Name zurückgeblieben wäre. Er ist der Fürst. Mehr konnte sie nicht sagen. Ihr Magen verkrampfte sich zusehends, als der Mann sie zärtlich am Rücken fasste und zu dem Tisch führte, wo die anderen Männer sie noch immer schweigend anstarrten.

„Mein Kind …“ Der Fürst hatte sich gefasst. Während Rowilan mit den anderen Männern undeutbare Blicke tauschte, sagte er: „Verzeih, dass wir dich so unhöflich begrüßen, aber – zugegeben – heute hat niemand mit dir gerechnet.“

„Das dachte ich.“ Ein Lächeln umspielte die Lippen der jungen Frau. Die Augenbraue des Fürsten zuckte, bevor er väterlich nach ihrer Hand griff und mit warmer Stimme fragte: „Aber nun – wie geht es dir? Ich kann mir vorstellen, dass dich die Geschehnisse sehr mitgenommen haben. Gibt es irgendetwas, das ich für dich tun kann?“

Hinter den Augen des Fürsten arbeitete es. Die junge Frau musste sich zusammenreißen, nicht berechnend zu lächeln. Sie spürte, dass die lieben Worte nur die Einleitung in ein freundlich getarntes Verhör waren. Sie wissen nicht, was geschehen ist. Sie wollen mich aushorchen. Doch der abwartende Blick des Fürsten brachte sie von ihren Gedanken ab und zu einer zögerlichen Antwort: „Ich … würde gerne meine Familie sehen.“

Das Lächeln des Fürsten wurde breiter. „Aber sicher! Bestimmt hat jemand deinem Vater bereits Bescheid gegeben. Doch … bis er kommt … wärst du mir böse, wenn ich dir einige Fragen stelle?“ Sein Blick war vielsagend. Die junge Frau musterte ihn misstrauischer, als sie es beabsichtigte. Immer wieder ermahnte sie sich: Lhenia kannte ihn, sie hätte ihm vertraut. Doch wenn es dieses Vertrauen jemals gegeben hatte, war es fort. Die junge Frau vertraute diesem Mann nicht. Sie war nicht Lhenia. Sie wusste nur, dass man ihr einen Auftrag zugedacht hatte – und solange sie nicht sagen konnte, um was es sich handelte, wollte sie diese fremden Menschen nicht einweihen. Dabei konnte ihr der Schamane bestimmt einen Rat geben. Vielleicht würde sie zusammen mit ihm die Erinnerungen an ihr eigenes Leben wiederfinden. Doch wenn sie ihm gar nicht vertrauen durfte?

„Ich bin sehr müde. Ich würde wirklich gern zuerst mit meinem Vater sprechen, bevor ich Eure Fragen beantworte.“

Die junge Frau schluckte. Skepsis durchzuckte für einen Herzschlag die Augen des Fürsten und sie verstand, was ihn misstrauisch machte. Zu schnell, zu ausweichend war diese Bitte gekommen. Vielleicht hatte sie jetzt schon verraten, dass sie etwas zu verheimlichen hatte.

Doch was immer die Männer dachten, sie hatten keine Gelegenheit mehr, weiter in sie einzudringen. Ohne ein vorheriges Klopfen flog die Tür zum Haus auf. Eine junge Dienerin wich erschrocken aus, als ein Bauer – die Hände und Kleidung noch braun von Erde und das Gesicht schweißbenetzt – in den Raum stürmte und vor dem Tisch wie angewurzelt stehen blieb.

Einen Atemzug lang starrte er die junge Frau an – ohne etwas zu sagen. Sie selbst war bestürzt von dem Schwall aus Emotionen, der ihr entgegenschlug: Verwirrung, Fassungslosigkeit, dazwischen Trauer und Verzweiflung, die noch immer nicht weichen wollten, obwohl der Mann längst zu begreifen begann, dass es dafür keinen Anlass mehr gab.

Wider Willen zitterte die junge Frau, als sie aufstand. Sie hatte sich kaum erhoben, als der Bauer plötzlich aus seiner Starre erwachte und sie unversehens in die Arme schloss. Tränen schossen ihm in die Augen. Sie vermischten sich mit dem Ocker in ihrem Gesicht, malten rote Streifen auf ihre Wangen, während er mit brechender Stimme herausbrachte: „Mein Kind! Mein Kind, du bist wieder da!“

Die junge Frau glaubte, an Ort und Stelle zusammenzubrechen. Die Gefühle, die über ihr zusammenschlugen, waren von einer solchen Intensität, als ob man sie mit Eiswasser überschüttete. Sie war nicht soweit. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Am liebsten hätte sie den Mann von sich gestoßen und wäre davongerannt. Doch sie wusste, dass sie das nicht tun konnte. Er weiß es ja nicht. Wie kann er wissen, dass ich eine andere bin? Eine, die so lange tot gewesen ist, dass sie mit dieser Welt nicht mehr umgehen kann.

Als jedoch die Überrumpelung aus ihren Gedanken wich, fühlte sie endlich die grenzenlose Wärme, die auf sie einströmte. Endlich jemand, der keine Hintergedanken hatte, jemand, der ihr nicht misstraute. Es tat der jungen Frau gut, die bedingungslose Ehrlichkeit zu spüren, die von diesem Mann ausging. Und sie konnte sich schließlich dazu bringen, die Umarmung zu erwidern.

Es dauerte einen Moment, bis der Bauer von ihr abließ und sich wieder fasste. Erst jetzt erkannte sie, dass das Gesicht unter seinen schneeweißen Haaren längst nicht so alt war, wie die junge Frau gedacht hatte. Voll Rührung stand er vor dem Fürsten, dem Schamanen und den anderen Männern, suchte nach Haltung, bevor er stammelte: „Herr Behlenos, ich … Verzeiht mir, aber …“

„Ist schon gut.“ Der Fürst lächelte mild. Zwar konnte die junge Frau erkennen, dass Enttäuschung in seiner Stimme mitschwang. Doch er unternahm nichts mehr, das sie oder Lhenias Vater zurückhalten würde. „Nimm deine Tochter ruhig mit. Wir können später mit ihr reden!“

„Ich danke Euch.“ Er hielt noch einen Moment inne. Dann packte er die Hand der jungen Frau, als würde augenblicklich ein Dämon zur Tür hereinstürzen und sie ihm wieder entreißen, bevor er sich umwandte und ihr mit strahlenden Augen zu verstehen gab, dass er gerne gehen wollte.

Die junge Frau fügte sich. Sie wusste nicht, ob sie sich nun besser fühlen sollte – zusammen mit einem fremden Mann nach Hause zu gehen, der in ihr seine Tochter sah, eine Tochter, die er unlängst verloren geglaubt hatte. Auf eine gewisse Weise fühlte sie sich schäbig, mit ihm auf solche Weise zu spielen. Doch ganz gleich, wie er darauf reagieren würde. Dieser Moment erschien ihr für die Wahrheit mehr als unpassend.

Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1

Подняться наверх