Читать книгу Anation - Wodans Lebenshauch. Von keltischer Götterdämmerung 1 - Astrid Rauner - Страница 7
Die Schlacht
ОглавлениеAigonn starrte schweigend in die Dunkelheit. Die Schwärze konnte ihn glauben machen, er wäre längst eingeschlafen. Doch selbst wenn ihm die Augen zufallen wollten, wusste er, in dieser Nacht würde es für ihn keinen Schlaf mehr geben.
Das Feuer, das man draußen vor dem Zelt entzündet hatte, schimmerte noch blass und orange durch die alte Plane, erreichte aber nicht mehr die niedrige Decke. Auf diese Weise starrte Aigonn in einen namenlosen Schatten hinein. Nur manchmal drehte er den Kopf zur Seite, fing den letzten Schein der Flammen ein. An ihnen haftete eine einfache, ursprüngliche Schönheit, die ihn hätte wehmütig werden lassen, wenn er den Moment hätte vergessen können. Diese Nacht aber brachte kein Vergessen. Es hatte doch alles keinen Zweck mehr!
Die erregten Stimmen, die mit dem Sonnenuntergang noch das Lagerfeuer umgeben hatten, waren in der Stille der Nacht verschwunden. Es war eine trügerische Stille, weniger Ruhe als das Schweigen, das nur der Tod mit sich bringen konnte. Mochten all diese Krieger draußen noch am Leben sein, lange würde dieser Zustand nicht mehr andauern.
Reglos lag Aigonn auf seinem Schafsfell. Das leise Atmen zweier weiterer Personen war das einzige Lebenszeichen in diesem Zelt, vielleicht im ganzen Heerlager. Der einzige Beweis für Aigonn, dass sie alle noch nicht gestorben waren. Das leise Flüstern, das vom nahen Wald her zu ihm herüberdrang, ein Raunen im Wind, das Kraft und Hoffnung längst verloren hatte, zählte nicht für ihn. So konnten auch die Klagelieder der Todesfeen klingen, wenn sie die gefallenen Seelen in die Andere Welt geleiteten.
In jenem Zustand aus Halbschlaf und apathischem Wachen hätte Aigonn beinahe vergessen können, warum sie überhaupt an diesen Ort gekommen waren. Sie vierhundert. Sie letzter Überrest eines Heeres, das man dahingemetzelt hatte wie die Fliegen. Im Grunde hatte es keinen Sinn mehr, sich noch über solche Dinge Gedanken zu machen. Spätestens zur Mittagszeit des nächsten Tages würden sie alle tot sein.
Aigonns Stamm, die Bärenjäger, hatte niemals die kriegerischen Auseinandersetzungen gesucht. Es mochte oftmals die Anklage gefallen sein, ihr Anführer Behlenos sei zu feige und nicht in der Lage, ein fähiges Heer zu formieren. Doch was immer die Gründe auch sein mochten, um zu diskutieren war es nun zu spät.
Die Eichenleute waren ihnen die längste Zeit wohlgesonnen gewesen. Aigonn wusste nicht, was der Anführer ihres Stammes getan hatte, um das befreundete Volk so gegen sich aufzubringen. Aber sie waren wütend genug gewesen, um mit einem Schlag fünfhundert Krieger der Bärenjäger zu ihren Ahnen zu schicken. Sie vierhundert waren der klägliche Rest, der Behlenos geblieben war, um sein Land zu verteidigen – nicht in einer Festung. Sie hatten sich auf dem offenen Gelände verschanzt, am Rand eines unwegsamen Steilhanges, der von zwei Seiten Schutz bot und einen entscheidenden Höhenvorteil. Das unzugängliche Dickicht rund um ihre Siedlung machte es Feinden schwer, unbemerkt an anderer Stelle bis dorthin vorzudringen, sodass sie nun den schnellsten Durchgang verteidigten. Fraglich war nur, wie viel ihnen all das nützen würde. Behlenos mochte einfache Palisaden errichtet haben, die Nachtwachen verstärkt. Doch das Raunen, das vom Wald her in das Lager drang, verriet Aigonn, dass ihr Anführer dasselbe Bild gesehen hatte, das sich ihnen am vergangenen Tag geboten hatte.
Aigonn wusste nicht, ob er sich fürchten sollte. Er war neunzehn. Ein gutes Alter für einen Krieger, ein gutes Alter, um nach seinem Tod Teil mystischer Legenden zu werden. Alle großen Helden starben vor ihrer Zeit – zumindest die meisten, von denen sein Vater ihm früher erzählt hatte. Vielleicht war es seine Chance, nun auch auf diese Art und Weise unsterblich zu werden. Dann hatte dieses ganze Leben bis hierher wenigstens einen Sinn gehabt. Es gab niemanden mehr, der sie retten konnte. Selbst wenn sie wegrannten, wenn ein Geist aus der Anderen Welt sie holen würde, ihre Ehre und ihr Ethos als Krieger verlangte es, an der Seite ihrer Kameraden zu kämpfen und diesen beizustehen. Zu einem Stamm zu gehören bedeutete, eine Sippe zu sein, die Kinder derselben Ahnen zu sein, dasselbe Blut in seinen Adern zu haben. Einen Angehörigen seiner Sippe zu verraten bedeutete, seinen Bruder zu hintergehen. Wie viele Brudermorde es doch in den letzten Jahren gegeben hatte …
Es war schwer zu sagen, was Aigonns Unterbewusstsein ihm kundtun wollte, dass er im Halbschlaf der alten Begegnung mit der Nebelfrau gedachte. Die Tochter des Morgentaus war ihm binnen der vergangenen Jahre eine merkwürdige und vor allem seltene Gefährtin gewesen. Manchmal suchte sie ihn auf und sprach mit ihm – zu keinem besonderen Anlass. Aigonn hatte sich eine Zeit lang eingeredet, sie würde kommen, wenn er ihre Hilfe bräuchte. Doch mit den Jahren schien es ihm immer mehr, als käme sie nur dann, wenn es ihr gerade passte. Warum also sollte sie ihm in dieser Nacht helfen? Sie hatte keinen Grund. Ebenso wenig dafür, dass sie mit ihm gesprochen hatte. Die Nebelgeister waren keine Menschen. Kein Mensch konnte also für sich behaupten, sie zu verstehen.
Das Raunen am Waldrand verstummte. Aigonn spürte, wie ihm unmerklich ein Kloß in der Kehle wuchs. Die junge Frau war also tot, war ihnen vorausgegangen. Er wusste nicht, warum Behlenos und sein Schamane Rowilan den Göttern noch jenes letzte, sinnlose Opfer dargebracht hatten – das Leben einer jungen Frau, ganz gleich, ob sie sich aus freiem Willen dazu bereiterklärt hatte. Aigonn glaubte nicht mehr daran, dass die Götter ihnen ein Wunder schicken würden. Er glaubte gar nichts mehr.
Damit hörte er auf zu denken. Es war ihm zu mühselig. Schweigend mit halb wachen Augen tippte sein Finger auf die Felle, manchmal im Einklang mit seinen Gefährten, jedoch nur, bis diese Tempo zulegten. Er nicht mehr.
Bei dreihunderteinundneunzig hörte er den ersten Aufschlag auf den Palisaden, dann ertönte ein Schrei. Die Krieger jagten so mechanisch aus ihren Zelten, als wären sie nur noch Werkzeuge, keine denkenden Wesen mehr. Und auch, als Aigonn die ersten Fackeln über die Palisaden fliegen sah, setzte sein Verstand nicht mehr ein.
Er wusste nicht, wie lange es dauerte. Beinahe fünfzig ihrer vierhundert Männer mussten von Lanzen durchbohrt von den Plattformen hinter den Palisaden fallen. Der Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft wie ein Pesthauch. Er stach Aigonn in die Nase, schien den Brechreiz aus ihm herauskitzeln zu wollen, doch er nahm davon keine Notiz mehr. Fünfzig gefallene Männer, bis das Unvermeidliche kam.
Der Lärm aus Kampfschreien und Kriegshörnern übertönte das Signal, als einer der Eichenkrieger die Palisaden erklommen hatte und nun von innen das Tor zum Lager öffnete. Die Faust, die sich krampfhaft um Aigonns Schwertgriff schlang, verriet ihm, dass er noch hier war, sein Körper noch mit seiner Seele verbunden – und er nicht neben sich stand.
Gurgelnde Laute, als Schwertklingen sich in Kehlen bohrten. Das verzweifelte Aufbegehren ihrer winzigen Streitmacht. Aigonns Kopf war leer. Es gab nichts mehr, das ihn zurückhielt. Er packte sein Schwert noch fester, dann rannte er los.
Der erste Gegner empfing ihn nach weniger als zehn Schritten. Aigonn roch die Wolke aus Schweiß und Blut, die ihm von dem nackten und mit Kraft spendenden Zeichen bemalten Oberkörper entgegenschlug, bevor ihre beiden Schwerter krachend aufeinandertrafen.
Funken sprühten. Aigonn sah, dass der Eichenmann sein Schwert zu verkanten versuchte, entwand sich dem Griff mit einer Drehung und schlug zu. Blut spritzte. Aigonn hörte sich selbst schreien, als ob er eine dritte Person wäre, bis er dem nächsten Gegner in die offene Deckung rannte und diesen mit einem einzigen Schlag zu Boden fällte.
Sein Geist war nicht anwesend, hatte sich längst von dem Körper gelöst, der sich verzweifelt einen Weg durch die Feinde suchte – und damit so kläglich scheiterte wie der Rest seines Stammes.
Die Bärenjäger wurden in Richtung des Waldes gedrängt. Die wenigen Bäume vor dem Steilhang der Felswand schienen wie das Tor zum Jenseits auf sie zu warten. Aigonn wurde von seiner Gruppe getrennt und nach Osten gejagt.
Als der Krieger ihn mit einem mörderischen Schlag zu Boden stieß und kaltes Metall das Fleisch seines Armes durchschnitt, kehrte Aigonns Geist zum ersten Mal wieder in seinen Körper zurück. Er wollte schreien, doch der Schmerz saugte alle Luft aus seinen Lungen. Einen Moment lang verschwammen die Bilder vor seinen Augen, dann wollte ihn ein Fußtritt gänzlich in die Schwärze reißen.
Halb betäubt spuckte er blutiges Laub aus seinem Mund. Die Äste eines Strauches hatten sich in seinen halblangen Haaren verfangen, während Aigonn panisch den Gegner mit Fußtritten auf Distanz zu halten versuchte. Keuchend tastete er nach seinem Schwert, das ihm aus den Fingern geglitten war. Als er Laub statt Metall unter seinen Fingern spürte, überschlug sich sein Herzschlag. Er konnte es nicht finden! Der Eichenkrieger wich seinen Tritten immer besser aus, schlug energischer mit seinem Schwert auf den Boden, während Aigonn kaum noch ausweichen konnte. Seine Hand fegte über das Laub, fand das Schwert nicht, fühlte schließlich Erde unter den Fingern bröckeln.
Erschrocken riss Aigonn seinen Kopf zur Seite. Unter seiner rechten Hand öffnete sich schwarz ein Loch, vier Fuß breit, sechs Fuß lang – nicht abschätzbar, wie tief. Der eigenwillige Geruch verbrannter Kräuter, wie die Schamanen sie zur Zwiesprache mit den Göttern nutzten, stieg ihm in die Nase. Die Opfergrube. Der Ort, an welchem man die junge Frau den Göttern als Geschenk dargebracht hatte, nicht tief, aber trotzdem zu tief für Aigonns Arm. Der Widerschein der brennenden Palisaden spiegelte sich auf der Schneide seines Schwertes. Es lag auf dem leblosen Körper der jungen Frau.
Plötzlich presste ein Tritt Aigonn alle Luft aus den Lungen. Knochen knackten. Er spürte, wie ihm die Galle den Rachen hinaufjagte. Er hatte keine Kraft mehr, sein Gleichgewicht zu halten, Erde bröckelte, er fiel.
Der Ekel übertrumpfte für einen Moment die Übelkeit, als der noch nicht vollständig erkaltete Körper Aigonns Fall bremste. Doch Zeit hatte er keine. Eine Schwertklinge jagte auf ihn zu. Er hatte kaum mehr die Kraft, seinen Kopf rechtzeitig zur Seite zu ziehen, es war keine Zeit da, um sich aufzurichten. Der feindliche Krieger stürzte sich mit einem ohrenbetäubenden Schrei zu ihm in die Grube. Aigonn wurde schwindelig. Er spürte den leblosen Körper der Frau an seinem gebrochenen Arm, während sein heißes Blut die erkaltende Haut wieder anzuwärmen begann.
Die junge Frau hatte ihre Lider im Angesicht des Todes nicht geschlossen. Die toten Augen schienen Aigonn zu rufen, ihm den Weg weisen zu wollen im Angesicht der Gewissheit, die nicht mehr abwendbar war. Er konnte sein Schwert nicht mehr erreichen – dort, wo es lag, links neben dem Körper der Frau auf Höhe ihrer Beine, wie bei einer Kriegerbestattung. Aigonn sah die Schwertklinge auf ihn niederrasen. Der finale Schlag. Bevor er die Augen schloss, schien es ihm, als ob die Frau ihm ein letztes Mal zublinzeln würde. Die Kälte der nassen Erde umfing ihn. Die Geräusche verschwammen. Irgendwo neben ihm schienen Knochen zu knacken. Der Luftzug erreichte ihn, Stoff streifte seinen Körper.
Plötzlich hörte er ein Röcheln. Aigonn riss seine Augen auf, als müsste er sich davon überzeugen, dass er nicht seinen eigenen Körper in diesem Moment sterbend auf der Erde liegen sah. Aber was er erblickte, wollte er noch weniger glauben. Er öffnete die Augen zum zweiten Mal – und in diesem Augenblick setzte sein Herz einen Schlag aus.
Der Körper des Eichenkriegers zuckte noch im Fall, während ein dünner Blutfluss aus seinem Mund troff. Bis zum Anschlag steckte Aigonns Schwert in dessen Brust. Er erkannte, wie irgendjemand – irgendetwas – den Griff festhielt, während der sterbende Körper zu Boden sackte und das Schwert mit einem tiefen Schnitt aus dem blutenden Fleisch befreit wurde.
Aigonn wagte nicht zu atmen. Über ihm stand in der gut vier Fuß tiefen Grube eine Frauengestalt. Erschrocken schnellte seine Hand nach links, tastete über die Erde, dort, wo die Leiche gelegen hatte. Er fand sie nicht. Stattdessen stand dort die junge Frau, mit gebückten Knien, sie berührten sich fast, die Leiche des Kriegers von sich stoßend, die im Fall noch einmal Aigonns verletzten Arm streifte.
Einen Herzschlag lang starrte er durch den Schwindel des Schmerzes, der ihn zu übermannen drohte. Es war bekannt, dass Menschen im Angesicht ihres Todes Wahnvorstellungen bekamen. Sein Geist weigerte sich vehement, auch nur in Betracht zu ziehen, es könnte wahr sein, was er soeben vor sich sah. Die junge Frau blieb vollkommen reglos. In der Dunkelheit konnte Aigonn es nicht erkennen, doch er wusste, dass ihr Blick auf ihm haftete. Die Augen einer Lebenden.
Dann auf einmal wandte sie sich um. Der Lufthauch ihres Kleides streifte ihn, als sie sich aus der Grube schwang und er leise ihre Schritte auf dem feuchten Laub aufkommen hörte.
Aigonn rührte sich nicht. Selbst wenn er es gewollt hätte, in diesem Moment des Schocks überwog der Schmerz allen Willen, den er aufbringen konnte. Die Nerven in seinem linken Arm pochten unerträglich – genauso wie in seinem Brustkorb. Nun, da das Adrenalin ihn verlassen hatte, versteiften seine verletzten Glieder. Die Knochen waren gebrochen – das wusste er ohne hinzusehen.
Es dauerte einen langen Moment, bis er endlich die Kraft fand, sich aufzurichten. Sein Schwert war fort. Er wunderte sich gar nicht mehr darüber. Ebenso wenig wie über die Tatsache, dass nun anstelle einer Frau ein erstochener Krieger an seiner Seite lag.
Der Aufschrei schien Aigonn erbärmlich, als er sich aus der Grube hievte. Seine Beine wollten ihm den Dienst versagen, sodass er Stütze an einem Baumstamm finden musste. Der Geruch der Kräuter aus der Opfergrube, der überall an seinem Körper klebte, trug nicht dazu bei, seiner Übelkeit abzuhelfen.
Trotz allem gelang es ihm, sich bis in unmittelbare Nähe des Schlachtfeldes zu schleppen – so abseits, dass ihm im ersten Moment niemand Aufmerksamkeit zollte. Der Lärm war ohrenbetäubend, die Erde getränkt und übersät von blutenden Körpern, über welchen die Lebenden die letzten Züge dieses Kampfes fochten.
Eine Seite war am Zurückweichen. Aigonn hatte nicht mehr die Kraft, um sich darauf zu konzentrieren. Der Schwindel begann ihn zu übermannen. Mit letzter Kraft gelang es ihm, seinen Blick zu klären, während er sich schwankend an einen Baum klammerte. Vom Rand aus schien es, als schlage jemand oder etwas eine Schneise in die Reihen der Männer. Immer mehr und mehr Krieger wichen zurück – nicht mehr erkennbar, ob Eichenkrieger oder Bärenjäger.
Aigonns Beine gaben nach. Zwanghaft versuchte er, sich zu fangen, doch es war zu spät dafür. Seine Augen flackerten. Die Bilder begannen zu verschwimmen. Das Letzte, was er sah, bevor die Dunkelheit ihn einhüllte, war eine Frauengestalt. Eine Kriegerin in einem wollweißen Leinenkleid, die wie ein böser Geist durch die Reihen der Eichenkrieger jagte und niederzwang, wer immer versuchte, sich ihr in den Weg zu stellen.