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4.

Im Haus des Herrn Hubertus herrschte bereits vollkommene Ruhe, der Haupteingang des Vordergebäudes war geschlossen und die große Laterne im Hof ausgelöscht; nur in dem Kontor des Erdgeschosses, dessen Fenster zum Hof hinausgingen, flimmerte noch ein Licht. Franz, der erste Kommis und Geschäftsführer des Fabrikherrn, saß hier an seinem Pult und arbeitete. Die großen Register und Rechnungsbücher waren beiseite geschoben; statt ihrer hatte der junge Mann eine französische Grammatik vor sich, die seine ganze Aufmerksamkeit fesselte.

Die Stille, die in dem großen gewölbten Zimmer herrschte, wurde plötzlich durch das Eintreten eines alten Mannes unterbrochen: Es war Kaleb, der alte bewährte Kassierer des Herrn Hubertus, der sich zur Ruhe begeben wollte und vorher, seiner Gewohnheit gemäß, noch einmal die Runde durch die Geschäftszimmer machte, um sich zu überzeugen, dass die Fensterläden und Büros ordentlich verschlossen waren. Erstaunt blieb der alte Diener an der Tür stehen, als er den fleißigen Arbeiter sah. Dieser schien den Eingetretenen nicht bemerkt zu haben, denn er wandte keinen Blick von seinem Buch ab und fuhr in seinem Studium ruhig fort.

»Wie, Herr Franz«, sprach Kaleb näher tretend, »es ist elf Uhr in der Nacht und Sie arbeiten noch? Ei, ei, was haben Sie denn für eine wichtige Arbeit? Kann ich helfen?«

»Sie sind es«, antwortete der junge Mann lächelnd, indem er aufblickte und dem Fragenden die Hand reichte.

»Ich will nicht stören«, fuhr der Greis fort, »ich werde mich sogleich zur Ruhe begeben, denn morgen muss ich eine Stunde früher aufstehen, um die Vorbereitungen für Herrn Hubertus’ Geburtstag zu treffen. Doch auch Sie sollten dies bedenken und Ihre Arbeit für heute beenden.«

»Der Geburtstag des Herrn Hubertus ist es eben, lieber Kaleb, der mich noch wach hält. Ich habe bis jetzt für Fräulein Anna gearbeitet, die ihren Vater morgen früh durch ein Gedicht überraschen will. Ich repetiere nur noch einige Regeln der französischen Grammatik, dann gehe ich auch zu Bett.«

»Ein Gedicht!«, rief der greise Kaleb eifrig und rieb sich dabei freudig die Hände, »sind Sie auch Dichter? Ah, ich begreife – die Liebe hat Sie begeistert.«

»Ach nein«, antwortete Franz seufzend, »ich bin ein höchst prosaischer Mensch; mein ganzes Verdienst besteht darin, dass ich die Verse sauber abgeschrieben habe.«

»So! Wer aber ist der Dichter?«

»Ich weiß es nicht. Fräulein Anna bat mich, die Reinschrift zu besorgen, und Sie wissen …«

»… dass sie sich an den rechten Mann gewendet hat«, fiel Kaleb rasch ein, »denn Sie haben in der Tat eine prachtvolle Handschrift. Ja, ja, man sehe nur unsere Bücher an – eine wahre Musterarbeit; ich freue mich, sooft ich sie in die Hand nehme!«

»Die schönen Buchstaben und Zahlen nützen aber nicht viel; ich wünschte nur, dass sie unser Geschäft förderten.«

»Eine richtige und genaue Buchführung fördert stets das Geschäft!«

»Aber nicht den Absatz der Waren. Wissen Sie, wie die Einnahmen dieses Monats zu den Ausgaben stehen?«

»Nun«, fragte Kaleb mit befürchtender Miene.

»Wie eins zu drei! In einigen Tagen ist Monatsende, und immer laufen nur Briefe, aber keine Gelder ein. Dieser Umstand liegt mir wie ein Stein auf dem Herzen; ich wage nicht, ihn Herrn Hubertus, der kaum von seiner schweren Krankheit genesen ist, mitzuteilen, und doch bin ich dazu gezwungen, da ich der Kasse kein Geld überliefern kann.«

»O mein Gott«, rief Kaleb und der Zorn schwoll die Adern seiner Stirn, »das sind nun die Folgen der Revolution, das sind die Früchte der errungenen Freiheit! Handel und Wandel stocken, kein Mensch will sein Geld hergeben, weil er fürchtet, es selbst gebrauchen zu müssen, einer traut dem andern nicht und die Kapitalisten vergraben ihr Geld, weil sie dem Frieden nicht trauen. Es ist ja ganz natürlich, dass der Geschäftsmann zugrunde gehen muss, da der Kredit fehlt. Ach, mein armer Herr wird von Neuem krank, wenn er diese trostlose Nachricht erhält! Nein, lieber Franz, er darf sie noch nicht erfahren; wir müssen Rat schaffen, um vorderhand die Ausgaben zu decken; vielleicht gehen die Gelder im nächsten Monat ein. Welch eine Schande für unsere Firma, wenn die Fabrikarbeiter den Lohn nicht vollständig erhielten! Seit der unglücklichen Märzrevolution herrscht ohnehin ein eigener Geist unter diesen Menschen; der Lohn ist ihnen zu gering und die Arbeitszeit zu lang. Wenn das so weitergeht und die sogenannten Fortschritte nicht gehemmt werden, fordern die Arbeiter bald doppelten Lohn, gehen nach Belieben ihren Vergnügungen nach und die Fabrik muss geschlossen werden.«

»So weit wird es nun nicht kommen«, meinte Franz; »der Mangel wird die Leute, die unsere Zeit nicht richtig auffassen, schon wieder zur Arbeit zurückführen.«

»O es wird noch weiter kommen!«, rief Kaleb, durch diesen Einwurf gereizt. »Haben Sie den langen Natzi und den einäugigen Fritz, unsere besten Arbeiter, heute gesehen?«

»Nein.«

»Sie trugen eine weiße Binde am Arm, eine Muskete mit Bajonett auf der Schulter und einen Säbel mit messingnem Griff an der Seite. Statt um sieben Uhr, wenn die Fabrik geschlossen wird, zu ihren Weibern und Kindern zu gehen, sind sie auf den Exerzierplatz gegangen, um sich in den Waffen zu üben. Was soll denn daraus werden, wenn jeder Lump Waffen tragen darf? Wir kommen in die Zeiten des Faustrechts zurück, in der die Gesetze keine Gültigkeit mehr haben; die rohe Kraft übt die Gewalt aus und der ehrliche Mann wird zu Tode geprügelt. Ja, mein junger Freund, dahin kommt es, wenn nicht bald eine Änderung eintritt.«

»Beruhigen Sie sich, sie wird eintreten«, sprach Franz lächelnd über den entrüsteten Alten.

»Ja, sie wird eintreten«, wiederholte er mit gedehnten Worten, »aber wenn es zu spät ist! Die Regierung hat sich einschüchtern lassen; sie wagt jetzt schon nicht mehr, energisch aufzutreten, sonst würde sie dieses Unwesen mit den Volksversammlungen nicht dulden, in denen müßige, exaltierte Köpfe Reden halten und die dummen Arbeiter ebenfalls exaltieren, dass sie an ihre Brotherrn unverschämte Forderungen richten. Achten Sie einmal auf die Unterhaltungen unserer Leute in den Arbeitssälen: Demokratie, Demonstration, Proletariat und Volksbewaffnung – Worte, die diese Menschen gar nicht kennen sollten – kommen in einer Minute zehn Mal über ihre Lippen. Und nun noch die Menge Flugblätter, die seit der Aufhebung der Zensur erscheinen, um die Proletarier aufzuklären, das heißt, gegen die Regierung aufzuhetzen – nein, mein bester Franz, es konnte nicht anders kommen, der Geschäftsmann muss zugrunde gehen. Wäre ich Herr Hubertus, ich würde die Fabrik so lange schließen, bis das Gesetz seine volle Geltung wiedererlangt hätte und Treue und Glauben unter die Menschen zurückgekehrt wäre.«

»Herr Kaleb«, rief der junge Mann mit mahnender Stimme, »das kann und wird Herr Hubertus nicht, denn er ist ein Ehrenmann, der mit seinen Arbeitern das Drückende der Zeit teilt und es ihnen tragen hilft.«

»Herr Hubertus bleibt schon deshalb immer ein Ehrenmann, weil er bereits mit den undankbaren Menschen so viel geteilt hat, dass ihm selbst nichts mehr bleibt für seine alten Tage. Wir wollen doch einmal sehen, wer unserm Herrn hilft und mit ihm teilt – zum Beispiel jetzt, wo unsere Kassen leer sind!«

»Brechen wir ab, lieber Kaleb, und lassen Sie uns von dem reden, was als Nächstes ansteht. Wir müssen in drei Tagen viertausend Gulden beschaffen, um den Lohn und einen Wechsel von tausend Gulden zu zahlen, der mit dem letzten dieses Monats einlaufen wird.«

»O mein Gott«, jammerte der Alte, »ich habe nicht einmal mehr hundert Gulden in meiner Kasse!«

»Ich habe bereits über einen Ausweg nachgedacht«, fuhr Franz in einem ruhigen Ton fort.

»Reden Sie, reden Sie!«

»Sie wissen, dass mich Herr Hubertus für die Dauer seiner Krankheit mit Vollmacht versehen hat, statt seiner das Geschäft zu leiten und Unterschriften zu vollziehen. Die Häuser, mit denen wir in Verbindung stehen, kennen diese Vollmacht, und ich werde sie noch einmal benutzen, um von dem Bankhaus W. viertausend Gulden abzuheben, und zwar von den zwanzigtausend Gulden, die unser Herr dort vor acht Monaten deponiert hat. Ich hoffe, dass in einigen Wochen, wie mir Briefe melden, Gelder aus Sachsen eingehen; dann bringe ich die Summe zurück. Herr Hubertus selbst würde die Verlegenheit nicht anders beseitigen können, und da wir auf diese Weise ohne Aufsehen zum Ziel gelangen, so glaube ich …«

»Ganz recht, ganz recht«, unterbrach Kaleb den Redenden, »der Plan ist gut, ich kann ihn nur billigen. Sollte aus Sachsen auch keine Zahlung erfolgen, so haben wir doch Zeit gewonnen, dass sich Herr Hubertus erst völlig erholen kann und sich nicht schon vorher mit der Leitung des Geschäfts befassen muss. Ach, es steht recht schlecht mit uns!«

»Nicht so schlecht, wie Sie glauben«, sprach Franz, »denn wir haben sowohl von hiesigen als auch von auswärtigen Kaufleuten nicht unbedeutende Summen zu fordern, und Arbeitsmaterial für die Fabrik ist auch noch für einige Zeit vorhanden; ist die Geldkrise vorüber, sind wir aus aller Verlegenheit. Darum behalten Sie frohen Mut, mein alter Freund, und zeigen Sie Herrn Hubertus morgen ein freundliches Gesicht; Sie wissen, er hat es gern.«

»Herr Franz«, rief Kaleb, »schon vor drei Jahren hat Ihre Tätigkeit und Umsicht eine Wunde geheilt, die das Fallissement in L. unserm Geschäft schlug – ich hoffe, dass Sie den Kampf mit der gegenwärtigen drückenden Lage auch glücklich bestehen werden. Solange Sie nicht fürchten, will ich meine Hoffnung auch behalten.«

Nachdem Kaleb diese Worte gesprochen hatte, trat er an das mit grünem Tuch beschlagene Pult heran, neigte sich dem Ohr des jungen Mannes zu, als ob er ihm ein wichtiges Geheimnis mitzuteilen habe, und fuhr halblaut fort:

»Wissen Sie, Herr Franz, was ich täte, wenn ich Herr Hubertus wäre?«

»Sie würden doch nicht die Fabrik schließen?«, fragte Franz lächelnd.

»Nein, aber ich würde morgen Ihre Hochzeit mit Fräulein Anna feiern.«

»Kaleb!«, rief Franz, indem er errötend in seine Grammatik sah.

»Ja, Sie verdienen, dass Sie der Schwiegersohn des Herrn Hubertus und der Gatte seiner liebenswürdigen Tochter werden. Und ich bin der Erste, der Ihnen, aber auch Herrn Hubertus zu dieser Heirat Glück wünscht. Nun schlafen Sie wohl, mein wackerer, junger Freund!«

Der Kassierer reichte dem Buchhalter die Hand, dann verließ er, indem er sich noch einmal freundlich grüßend umsah, das Zimmer. Auch Franz schloss sein Buch, als er allein war, stützte mit der Hand seinen Kopf und hing den Gedanken nach, die der Wunsch des Greises in ihm erweckt hatte. So mochte wohl eine Viertelstunde vergangen sein, als die Kontoruhr Mitternacht anzeigte. Franz erhob langsam sein Haupt, ergriff das tief herabgebrannte Licht, verschloss die Tür des Kontors und stieg die Treppe hinauf, um sich auf sein Zimmer zu begeben, das im zweiten Stock des Hauses lag. Langsam und leise schlich er über den Korridor des ersten Stocks, denn er wollte die Ruhe seines Herrn nicht stören, dessen Zimmer sich hier öffneten; den wahren Grund: dass niemand seine nächtlichen Studien gewahrte, wagte er sich selbst nicht zu gestehen, obgleich dieser ihn besonders leitete – die Liebe hatte ihn ja erzeugt. Plötzlich blieb er stehen und lauschte, denn wie Klänge einer vom Lufthauch bewegten Äolsharfe schlugen die Töne von Annas Piano an sein Ohr.

»Sie ist noch wach!«, flüsterte der junge Mann, und noch leiser als zuvor setzte er mit klopfendem Herzen seinen Weg fort. Eine Minute später betrat er sein Zimmer.

Anna hatte sich heute früher als sonst in ihr Zimmer zurückgezogen; ohne sich deutlich bewusst zu sein, warum, sehnte sie sich nach Einsamkeit; sie fühlte keine Neigung zur Unterhaltung. Um ihren Gedanken eine bestimmte Richtung zu geben, ergriff sie die Gedichte ihres Lieblingsdichters Matthisson und suchte sich in dessen Poesie zu versenken; aber wie Nebelgestalten schwankten die Buchstaben vor ihren Augen; sie las die Verse, ohne dass sich ein Begriff in ihr gestaltete. Unwillig mit sich selbst legte sie das Buch wieder beiseite und sah durch das geöffnete Fenster in die prachtvolle Mainacht hinaus. Aber auch die Poesie des gestirnten Himmels, der sich rein und klar über der ruhigen Stadt ausspannte, vermochte heute keinen Eingang bei dem jungen Mädchen zu finden; ihr sonderbar verwandeltes Herz fand nirgends Befriedigung, es zeigte sich widerspenstig und eigensinnig wie noch nie. Anna warf sich in die Ecke des Sofas, legte ihr reizendes Köpfchen in das schwellende Kissen desselben und betrachtete gedankenlos das Spiel eines Nachtfalters, der durch das offene Fenster Eingang gefunden hatte und in stets engeren Kreisen um das Licht flatterte. In dieser Situation traf sie eine Magd an, die, ein zusammengerolltes Papier in der Hand tragend, leise die Tür öffnete.

»Was bringst du?«, fragte Anna, ohne ihre Stellung zu verändern.

»Ein Papier von Herrn Franz«, war die Antwort der Magd.

»Gib!«, rief das junge Mädchen eifrig, in dem es rasch aufstand und die Papierrolle ergriff.

»Haben Sie noch einen Auftrag für mich, Fräulein?«

»Für heute nicht; morgen früh jedoch möchte ich um fünf Uhr geweckt werden.«

»Soll geschehen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Als ob Anna sich fürchtete, das Papier zu öffnen, blieb sie einige Augenblicke unschlüssig in der Mitte des Zimmers stehen; ein leichtes Zittern hatte ihren ganzen Körper ergriffen und die Leere in dem widerspenstigen und eigensinnigen Herzchen von vorhin schien plötzlich ausgefüllt zu sein. Langsam trat sie endlich zu dem Tisch, auf dem das Licht brannte, löste die Schleife des roten Bändchens, das um das feine Velinpapier geschlungen war, und öffnete die Rolle. Doch kaum hatte sie den Blick auf die erste Zeile geworfen, als der Schmetterling, der sich an dem Licht beide Flügel verbrannt hatte, prasselnd auf den Tisch fiel. Erschrocken bebte sie zurück und das Papier entsank ihren Händen.

Der Sturz des unglücklichen Tieres hatte das arme Mädchen völlig außer Fassung gebracht; es bedurfte einiger Minuten, ehe die Erschrockene sich wieder erholte; dann ergriff sie abermals das Papier. Mit stets wachsender Aufmerksamkeit las sie nun die schön geschriebenen Zeilen und mehr als einmal rief sie aus: »Vortrefflich, wunderschön!« Nachdem sie das Gedicht gelesen hatte, nahm sie ihren Platz auf dem Sofa wieder ein. Jetzt starrte sie aber nicht gedankenlos in das Licht, sie hatte einen reichen Stoff zum Nachdenken. Unwillkürlich stellte sie Vergleiche an zwischen den beiden jungen Männern, die an dem vor ihr liegenden Gedicht gearbeitet hatten. Leider fielen diese Vergleiche nicht zum Vorteil des Kopisten aus, so viel Kunst und Geschmack er in den Schriftzügen auch entwickelt hatte; der Dichter wurde gekrönt, Annas Herz erteilte ihm den Preis. Es ist wahr, beide Männer waren jung und schön; den Charakter des einen kannte Anna, während sie den anderen nur flüchtig gesehen und nichts als seine Armut und ein schönes Gedicht von ihm kennengelernt hatte; aber gerade die Armut an Glücksgütern und der Besitz des nicht gewöhnlichen poetischen Talentes waren es, die das Herz des zur romantischen Schwärmerei geneigten jungen Mädchens bestochen hatten.

Je öfter Anna das Gedicht las, desto mehr poetische Schönheiten entdeckte sie darin, und wie nach und nach die schönen Buchstaben vor dem Geist der Dichtung wichen, so trat auch Franz vor Richard zurück; der Dichter, der arme schöne Dichter mit seinem genialen Kopf bildete allein den Gegenstand, mit dem sich die Gedanken des jungen Mädchens beschäftigten. Anna hatte sich in eine fremde Welt hineingeträumt, in eine Welt, die sie nie geahnt, nie gefühlt hatte. Leise, als ob sie fürchtete, ihren wachen Traum durch ein Geräusch zu unterbrechen, trat sie zum Piano und begann eine jener seltsamen Fantasien, die nur das Herz versteht. Einige Akkorde, durch den Dämpfer des melodiösen Instrumentes zu einem zitternden Hauch gemäßigt, deuteten an, dass die Nacht herabsinkt; das Geräusch des Tages entschwindet nach und nach, Dunkelheit breitet sich über der Erde aus und eine geheimnisvolle Ruhe, nur von dem Gemurmel eines Baches unterbrochen, umfängt das All. In dieser hehren Stille erhebt plötzlich ein unbekannter Vogel seinen wunderbar lieblichen Gesang – es ist die Nachtigall nicht, die durch die Nacht flötet, es ist ein Vöglein, das in dem Herzen Annas gleich einem Widerhall himmlischer Melodien singt und »Hoffnung und Liebe« flüstert und erweckt.

Mitternacht war längst vorüber, als die Natur ihren Zoll forderte und Müdigkeit die Jungfrau veranlasste, ihr Bett aufzusuchen. Als ob der Geist, sobald er durch den Schlaf vom Körper und der Welt losgelöst war, den im wachen Zustand begonnenen Traum wahrer und schöner fortsetzen wollte, befand sich Anna in einem reizenden, von duftenden Blumen und bunt gefiederten Vögeln angefüllten Garten, sobald sie die müden Augen geschlossen hatte. Aber seltsamerweise war diesmal der Duft der Blumen eine Sprache, der Gesang der Vögel wohlklingende Worte, die sie vollkommen verstand und nicht etwa durch Anschauung, wie auf der Erde, sondern durch die größte Vollkommenheit der Organisation, denn ein hehres Gefühl sagte ihr, dass sie im Himmel war. Plötzlich, ohne dass sie ihn hatte nahen sehen, befand sich Anna an Richards Arm; sie fühlte aber weder seinen Arm noch seinen Körper, nur der Sinn des Gesichts konnte ihn wahrnehmen. Mit unendlicher Zärtlichkeit richtete Richard seine Blicke auf sie, und Anna bemerkte, dass sie sich in seinen Augen sehen konnte wie in einem Spiegel. Ein Gefühl voll unbeschreiblicher Seligkeit durchbebte das ganze Wesen der Jungfrau; die Erde war versunken und das Paradies der Liebe hatte sich gestaltet. Ihre Blicke vermochten durch alle Baumgruppen, zwischen denen sie wandelte, zu dringen; sie sah jenseits derselben noch andere Bäume, noch andere Beete reizender Blumen – alle Gegenstände waren durchsichtig. Man hätte sagen können, dass der Garten nur immaterielle Wesen enthalte, denen, trotz der Durchsichtigkeit, ihre irdische Form geblieben war.

Dann auf einmal erschien es dem jungen Mädchen, als ob eine verschleierte Frau, die den Gang der verstorbenen Mutter hatte, auf sie zukäme. Je näher die Frau kam, desto mehr wurde Anna in ihrer Vermutung bestärkt. Ein weißes Kleid, das einen milden Glanz ausströmte, verhüllte die Erscheinung, die durch die Stämme der Bäume und Zweige der Gesträuche immer näher heranschwebte. Als sie so nahe war, dass sich Anna und Richard in dem Lichtkreis befanden, sah die Jungfrau dem Geliebten noch einmal ins Antlitz. Da las sie die Seele in den sanft leuchtenden Augen des schönen jungen Mannes, und eine Stimme erklang in ihrem Innern: Er liebt dich! Als sie die Blicke wieder auf die Erscheinung warf, erkannte sie durch die Falten des Schleiers die Züge der Mutter.

»Mutter, Mutter!«, rief Anna und streckte die Arme nach dem Schatten aus.

Dieser erhob, als ob er das junge Paar segnete, die Hände, dann verschwand er. Anna sank in die Arme Richards zurück, der sich neben ihr auf ein Knie niedergelassen hatte. Einige Augenblicke hatte sie mit dem Haupt an Richards Brust geruht, als plötzlich alles verschwunden war: Erwacht lag sie in ihrem Bett. Durch die Vorhänge des Fensters strahlte der junge Morgen herein und an der Tür ließ sich ein leises Klopfen vernehmen – es war die Magd, die ihre junge Gebieterin weckte.

Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe)

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