Читать книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader - Страница 15

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9.

Es war schon spät, als Richard aus einem festen Schlaf erwachte. Die Frühsonne, hell und klar, drang durch die Fenster in das Zimmer und blendete mit ihren Strahlen die Augen des noch schlaftrunkenen jungen Mannes. Erstaunt sah er sich um und prüfte eine Zeit lang alle Gegenstände, die sich in dem sauber und wohnlich eingerichteten Gemach befanden. Gewöhnt, den jungen Tag in seinem elenden, kleinen Dachstübchen zu begrüßen, konnte er sich in den ersten Augenblicken von der Wirklichkeit seiner Umgebung nicht überzeugen; er rieb sich die Augen wie ein Kind, das am Christmorgen von dem Glanz des Lichterbaumes geblendet wird und die Herrlichkeiten der Bescherung für einen schönen Traum hält. Unser Freund musste alle seine Sinne sammeln, um den plötzlichen Wechsel seiner Lage erklärlich zu finden und sich zu überzeugen, dass er wach war. Dann sprang er rasch aus dem Bett und kleidete sich an. Statt seiner ärmlichen Kleidung, die er jeden Morgen mit Schmerz betrachtet hatte, fand er einen eleganten, bis in die kleinsten Teile vollständigen Anzug vor, den Franz aus seiner Garderobe schon früh in das Zimmer geschafft hatte, als sein Gast noch in festem Schlaf lag. Dem über diesen neuen Beweis der Großmut seines Lebensretters beschämten Dichter blieb nichts übrig, als von dem Geschenk Gebrauch zu machen, da nicht nur die alten Kleider fehlten, sondern er sich auch erinnerte, dass diese durch die Flussexpedition zerrissen und unbrauchbar geworden waren. Mechanisch legte er ein Stück nach dem anderen an, und als er, ebenfalls mechanisch, vor den hohen Spiegel trat, um seine Toilette zu vollenden, nahm er mit freudiger Überraschung wahr, dass ihm alles passte, als ob es eigens für ihn gearbeitet wäre, denn Franz war von derselben Statur wie er.

In den neuen Kleidern fühlte sich Richard auch wie ein neuer Mensch; er bekam eine ganz andere Meinung vom Leben und hätte sich jetzt schon, da er in einem anständigen Äußeren erscheinen konnte, völlig glücklich gefühlt, wenn durch das Bewusstsein, die Kleider nicht verdient, sondern geschenkt bekommen zu haben, seine Freude nicht ein wenig getrübt worden wäre. Trotzdem aber erinnerte er sich an Anna, und als er den feinen Filzhut vor dem Spiegel auf den braunen Lockenkopf setzte, stieg sogar leise der Wunsch in ihm auf, die Jungfrau möchte die Erste sein, der er in seinen neuen Kleidern begegnete. Man sieht, dass die Liebe auch unter den drückendsten Verhältnissen die Eitelkeit rege erhält und befördert; eine Schwachheit, die, so lächerlich sie mitunter auch sein mag, dennoch ihr Gutes hat. Seit dem Augenblick, dass Richard der Liebe gedachte und seine Eitelkeit befriedigt sah, war der kleine Skrupel, den er sich des Geschenkes wegen gemacht hatte, völlig verschwunden; er vergaß die Vergangenheit und gedachte mit Vergnügen der Zukunft, die er gestern in seiner ärmlichen Kleidung noch dergestalt fürchtete, dass er sich ihr durch den Selbstmord zu entziehen gedachte. Freudig öffnete er das Fenster und atmete mit vollen Zügen die frische Morgenluft ein, die ihm heute eine andere als sonst zu sein schien.

Die Fenster des Zimmers gingen zum Hof hinaus, und da die Bäume und Gesträuche ihr Laubdach verloren hatten, konnte Richard alle Wege des kleinen Parks übersehen, in dem ein Gärtner damit beschäftigt war, die Beete mit Strohdecken gegen den Winterfrost zu schützen. Da unser Dichter für den Augenblick nichts Besseres zu tun hatte, nahm er die Fabrikgebäude und das gegenüberliegende Staatsgefängnis mit seinen hohen Strebepfeilern und vergitterten Fensterchen in Augenschein. Als er die höheren Regionen seines Gesichtskreises lange genug geprüft hatte, sandte er seine Blicke wieder zur Erde nieder, wo der Gärtner mit seiner Arbeit beschäftigt war. Der Mann war nicht mehr allein; ein junges Mädchen, das während der Zeit, in der Richard die Gebäude gemustert hatte, zu ihm getreten war, stand neben ihm und deutete mit der Hand auf einige junge Bäume, die sie vorzugsweise seiner Fürsorge zu empfehlen schien.

Es lässt sich wohl denken, dass sich des Dichters ganze Aufmerksamkeit auf diese Gruppe richtete, zumal da die Erscheinung des jungen Mädchens keine gewöhnliche war. Richard konnte den ganzen Reiz der wahrhaft junonischen Gestalt wahrnehmen, denn nur ein schwarzer seidener Oberrock, von keinem Mantel neidisch bedeckt, schmiegte sich an die zarten Glieder und ließ die schönen harmonischen Formen deutlich hervortreten. Das üppige braune Haar quoll in Locken auf die Schultern herab und der dichte Kranz, den es auf dem Haupt bildete, wurde durch eine einfache dunkelrote Schleife geschmückt. Da das junge Mädchen dem Lauscher den Rücken zuwandte, harrte er mit Ungeduld des Augenblicks, wo es ihm durch eine Bewegung oder Veränderung der Stellung Gelegenheit bieten würde, auch das Gesicht zu erblicken, denn dass es an Schönheit der Gestalt nicht nachstehen würde, glaubte er mit Gewissheit annehmen zu können. Endlich kam dieser Augenblick; die junge Dame wandte sich um und deutete auf eine Weinrebe, die am Wohnhaus, aus dessen Fenster Richard sah, vom Wind abgerissen und zur Erde gesunken war. Aber mit einem flammenden Gesicht bebte der junge Mann zurück, als er einen Blick auf die himmlischen Züge geworfen hatte; sein Blut stockte fast in den Adern und die Sinne schienen ihm vergehen zu wollen: Es war Anna, der Gegenstand seiner feurigen, hoffnungslosen Liebe. Wie angewurzelt blieb er in einiger Entfernung von dem Fenster stehen; er wollte noch einmal hinblicken, um sich zu überzeugen, dass er sich nicht getäuscht hatte, doch er vermochte es nicht, sich dem Fenster wieder zu nähern; ein unerklärliches Gefühl hielt ihn zurück. In diesem Augenblick war Anna mit dem Gärtner dem Haus so nahe gekommen, dass der immer noch regungslose Dichter ihre Worte deutlich verstehen konnte; er hatte es nun nicht mehr nötig, sich Gewissheit mit den Blicken zu verschaffen, denn der Ton ihrer Stimme, der immer noch wie ein himmlisches Echo in seinem Herzen widerhallte, überzeugte ihn restlos, dass er sich nicht getäuscht hatte.

Das Eintreten einer Magd mit dem Frühstück brachte wieder Bewegung in den armen Menschen.

»Der junge Herr lässt sich entschuldigen«, sprach die Domestikin, »dass er so lange auf sich warten lässt; eine wichtige Korrespondenz, die keinen Aufschub duldet, fessele ihn nur noch auf kurze Zeit an das Kontor, dann würde er sogleich bei Ihnen sein. Sie möchten indes das Frühstück einnehmen.«

»Danke«, antwortete Richard, mit Mühe seine Aufregung verbergend; »der junge Herr soll sich meinetwegen ja nicht von seinen Geschäften abhalten lassen.«

Das Mädchen trat zum Fenster, um es zu schließen.

»Gehört der Garten zum Haus?«, fragte Richard, der seiner wieder Herr geworden war.

»Ja«, antwortete die Magd.

»Wer ist die junge Dame?«, fragte er so unbefangen, wie es ihm möglich war, weiter.

»Welche?«

»Die dort unten im Garten ist.«

Die Magd sah zum Fenster hinaus.

»Das ist Fräulein Anna«, war die Antwort, »die Tochter des alten Herrn Hubertus und die verlobte Braut unseres jungen Herrn.«

Wäre die Magd in diesem Augenblick nicht mit dem Schließen des Fensters, das sich widerspenstig zeigte, beschäftigt gewesen, so hätte sie die Totenblässe sehen müssen, die ihre Antwort auf Richards Gesicht erzeugte. Am ganzen Körper zitternd sank er auf dem Stuhl neben dem Tisch nieder, auf dem das Frühstück stand. Ohne sich weiter umzusehen, verließ die Magd das Zimmer. Richard war allein.

»Welch ein furchtbares Geschick!«, sprach er leise vor sich hin. »Mein großmütiger Freund entreißt mich mit Gefahr seines Lebens dem Tod, um mich einem Dasein wiederzugeben, das durch diese Tat zur grässlichsten Marter für mich wird. O ich wusste es wohl, dass mir in dieser Welt kein Glück mehr blüht; mir folgt das Unglück, wo immer ich den Fuß auch hinsetzen mag; selbst die Wohltaten der Menschen werden mir verhängnisvoll. Und meine arme Mutter! Schon glaubte ich, ihr ein ruhiges Alter bereiten zu können, als mich plötzlich das Schicksal wieder zu Boden schmettert und noch elender macht, als ich je gewesen bin! – Anna ist die geliebte Braut meines Wohltäters, dieselbe Anna, für die ich eine verzehrende Leidenschaft hege, eine Leidenschaft, die mir das Leben unerträglich macht. Nein, ich muss fort, fort aus diesem Haus, fort von der Erde!«

Richard erblickte auf einem Tisch neben dem Fenster ein Schreibzeug mit Papier. Ohne sich länger zu besinnen, schob er einen Stuhl heran, ergriff mit zitternder Hand die Feder und schrieb einige Zeilen; dann faltete er das Papier zu einem Streifen und bildete eine Schleife daraus, da ihm das Material zum Siegeln fehlte. Mit dem Papier in der Hand verließ er das Zimmer.

Als er auf den Korridor trat, begegnete ihm dieselbe Magd, die ihm das Frühstück gebracht hatte.

»Mein Kind«, sprach er leise und mit bebender Stimme, »Sie suche ich.«

»Womit kann ich dem Herrn dienen?«, fragte die Magd und sah den aufgeregten Dichter erstaunt an.

»Würden Sie mir wohl die Gefälligkeit erweisen, dem jungen Herrn des Hauses dieses Billett zu übergeben?«

»Gern.«

Richard gab dem Mädchen das Papier, eilte den Korridor entlang, beide Treppen hinab und stürzte wie ein gejagtes Wild zur offenen Tür hinaus. Nur die Magd hatte seine Flucht gesehen, die sich nicht weiter darum kümmerte, sondern ruhig ihren Geschäften nachging, ehe sie den Brief abgab.

Während sich die soeben beschriebene Szene im zweiten Stock des Hauses ereignete, hatte sich die Gruppe im Garten um eine Person vermehrt: Franz, der aus dem Fabrikgebäude in sein Kontor zurückkehren wollte, war hinzugetreten.

»Nun, Sie Nachtschwärmer«, fragte Anna lächelnd, »haben Sie ausgeschlafen?«

Der junge Mann erinnerte sich des Vorwands, den Kaleb seinem Besuch bei dem Bankier untergeschoben hatte; er konnte sich einer kleinen Verlegenheit nicht erwehren.

»Vollkommen!«

»Ist Ihr Freund abgereist?«, fuhr das junge Mädchen fort, indem es sich von dem Gärtner entfernte und eine Promenade durch den Garten begann.

Franz erinnerte sich seines Gastes.

»Nein«, gab er zur Antwort, »er wird auch nicht abreisen.«

»Warum?«

»Weil er sich entschlossen hat, in unsere Dienste zu treten und die Korrespondenz zu übernehmen. Sie wissen, dass Ihr Vater schon lange auf die Besetzung dieses Postens drang; ich halte sie aber erst jetzt für nötig, da die politischen Verhältnisse eine größere Tätigkeit gestatten. Mein Freund ist gerade der Mann, wie ich ihn brauche, und ich hoffe, er wird nicht allein dem Geschäft, sondern auch meiner Person von wesentlichem Nutzen sein.«

»Wie«, fragte Anna verwundert, »Ihrer Person?«

»Ja, meiner Person.«

Die beiden jungen Leute standen in diesem Augenblick an derselben Stelle, wo sie im Frühling zum ersten Mal über ihre Herzensangelegenheit gesprochen hatten. Eine wehmütige Erinnerung drängte sich der Jungfrau auf, als sie die schwarzen, blätterlosen Zweige des Rosenstrauchs erblickte, der so oft seine duftenden Blumen geliefert hatte, mit denen sie das Zimmer des alten Wilibald schmückte. Aber auch Richards Bild tauchte mit der Erinnerung an den Greis empor; sie musste sich zur Seite wenden, um ihre Verwirrung zu verbergen, denn ihr war, als ob Franz die Veränderung bemerken müsste, die seit der Unterredung an diesem Ort in ihrem Herzen vorgegangen war. Ängstlich, dass ihr Begleiter die Gelegenheit benutzen und ein Gespräch anknüpfen würde, in dem sie nicht immer mit freier Stirn vor ihm hätte stehen können, fragte sie nach einer kleinen Pause:

»Sie wollten mir ja von Ihrem Freund erzählen, lieber Franz?«

Anna ahnte nicht, dass diese Frage gerade dem Ziel entgegenführte, das sie zu vermeiden suchte, denn Franz, der in der Tat die Absicht hegte, durch die Erzählung von seinem Freund ein Gespräch über seine Herzensangelegenheiten einzuleiten, trat freudig näher und antwortete:

»Ganz recht, von meinem Freund! Erinnern Sie sich noch des Planes, den ich Ihnen hier an dieser Stelle, als der Rosenstrauch in voller Blüte stand, mitteilte?«

»Eines Planes?«, sprach sie betreten, als Franz sie an jenes Gespräch erinnerte.

»Sagte ich Ihnen nicht«, fuhr der Associé des Herrn Hubertus leiser fort, »dass Sie sich Ihres zukünftigen Mannes vor Ihren gebildeten Freundinnen nicht zu schämen haben sollten?«

»Nun?«, fragte Anna tief errötend.

»Diesen Plan wird mein Freund mir ausführen helfen.«

»Ihr Freund?«

»Ja, denn er ist ein wissenschaftlich gebildeter junger Mann und hat mir versprochen, in den Mußestunden meine Studien zu leiten, denen ich mich bisher, freilich nur mit geringem Erfolg, allein gewidmet habe.«

»Mein lieber Freund«, sprach Anna gerührt, »warum widmen Sie Ihre Mußestunden nicht der Erholung, der Sie doch nach den anstrengenden Geschäften bedürfen? Bedenken Sie Ihre Gesundheit!«

»Die Wissenschaften gewähren mir nicht allein Erholung, sondern auch Vergnügen.«

»Außerdem besitzen Sie hinreichende Kenntnisse …«

»Glauben Sie mir, liebe Anna, ich kenne mich, und meine schwachen Talente auszubilden, ist ja das Geringste, so wie auch alles andere, was ich Ihnen zuliebe tun kann.«

»Franz«, sagte Anna, »ich weiß nicht, ob ich den Erwartungen je werde entsprechen können, die Sie von einer Verbindung mit mir hegen. Obgleich ich mich bemühen werde, Ihnen eine gute Hausfrau zu sein, so glaube ich doch kaum, dass es sich der Mühe lohnt, meinen Besitz durch solche Opfer zu erkaufen; einen Besitz, den Ihnen ja schon der Wille meines Vaters gesichert hat.«

»Der Wille Ihres Vaters?«

»Ist auch stets der meinige«, antwortete das junge Mädchen errötend, denn es fühlte, dass es ein wenig zu weit gegangen war.

»Anna«, rief Franz, »ich glaube Ihren Worten, aber glauben Sie auch mir: Ich werde nicht eher daran denken, den Wunsch Ihres Vaters, den Sie fälschlich mit dem Ausdruck ›Willen‹ bezeichneten, zu realisieren, bis Sie selbst mich dieses Glückes für würdig halten. Dem trockenen Geschäftsmann, wie Sie ihn in diesem Augenblick noch vor sich sehen, sollen Sie nie Ihre Hand reichen; nur wenn er Herz und Geist zu jener Stufe herangebildet hat, die erforderlich ist, dem armseligen Leben ein wenig Poesie zu verleihen, dann wird er fragen, ob die Familie Hubertus noch denselben Wunsch hegt.

In diesem Augenblick trat die Magd heran und überhob die beschämte Anna der Antwort auf die edelmütige Äußerung des jungen Mannes.

»Was gibt es?«, fragte Franz.

»Hier ist ein Brief für den jungen Herrn.«

»Von wem kommt er?«

»Von dem jungen Mann«, antwortete die Magd, »der diese Nacht das Zimmer im zweiten Stock bewohnte.«

»Ah, von unserm neuen Kommis«, rief Franz und öffnete das Papier.

»Nachdem er mir den Brief übergeben hatte«, fügte das Mädchen hinzu, »eilte er schnell und, wie es schien, sehr bewegt die Treppe hinab. Wahrscheinlich hat er das Haus verlassen, denn er ist bis jetzt noch nicht wieder auf sein Zimmer zurückgekehrt.«

»Sonderbar!«, sprach Franz und las den Brief, der Folgendes enthielt:

»Ich kann die Stelle nicht annehmen, die Sie mir angetragen haben. Der Himmel sei mit Ihnen; Sie sehen mich nie wieder!«

»Der Brief hat keine Unterschrift; der Unglückliche wird sich das Leben nehmen wollen!«

»Das Leben nehmen?«, rief Anna.

»Ich zweifle nicht einen Augenblick daran; diese Zeilen verraten seine Absicht.«

Franz reichte dem jungen Mädchen das Billett, doch kaum hatte es die Schriftzüge erblickt, als es erbleichend ausrief:

»Mein Gott, ich kenne diese Handschrift!«

»Was sagen Sie, Anna?«

»Ja, sie ist es«, stammelte Anna, die noch einmal zitternd das Billett gelesen hatte, »es ist die Handschrift eines jungen Mannes, den ich einige Male an dem Krankenbett eines armen Greises gesehen habe.«

»Und wissen Sie, wo er wohnt?«

»Er bewohnt mit seiner Mutter dasselbe Haus, in dem der kranke Greis wohnt, den wir unterstützen.«

»In welcher Straße?«

»R.gasse Nr. 10.«

»Wissen Sie seinen Namen nicht?«

»Er heißt Richard Bertram.«

Franz wollte reden, aber der Schreck hatte ihm die Zunge gelähmt. Starr sah er einen Augenblick die zitternde Anna an, dann fragte er noch einmal:

»Bertram – sagen Sie?«

»Richard Bertram«, wiederholte Anna, indem sie die Zeilen betrachtete und in Tränen ausbrach.

Franz bemerkte den Schmerz der Jungfrau nicht, denn sein Schreck hatte sich plötzlich in eine Freude verwandelt, dass auch ihm die Tränen in die Augen traten.

»Richard Bertram«, rief er, »und seine Mutter wohnt bei ihm! Ach, Anna, teure Anna, wissen Sie auch, dass der Name, den ich führe … Doch nein«, brach er ab, indem er mit Ungestüm die Hände der Jungfrau ergriff, »ich kann Ihnen noch nichts sagen, ehe ich beide nicht gesehen und gesprochen habe. Sind Sie auch gewiss, dass er Bertram heißt?«

Anna schien die Worte nicht gehört zu haben; wie aus einer Betäubung erwachend fragte sie:

»Woher wissen Sie, dass dieser arme Mensch sich das Leben nehmen will? Ach, Herr Franz, ich beschwöre Sie, eilen Sie ihm nach und versuchen Sie, diesen fürchterlichen Plan zu verhindern. Eilen Sie, eilen Sie!«

»Ja, ich eile, Anna, denn es drängt mich, eine unerlässliche Pflicht zu erfüllen! Bald sehe ich Sie wieder!«

Mit den letzten Worten flog der junge Mann auf das Haus zu.

Anna ging bestürzt in ihr Zimmer zurück.

Zehn Minuten später fuhr ein Wagen über den Platz vor Herrn Hubertus’ Haus auf die Vorstadt zu. Er brachte den ungeduldigen Franz zu der Witwe Bertram und ihrem Sohn.

* * *

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