Читать книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader - Страница 13

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7.

Die Arbeiter in der Fabrik des Herrn Hubertus hatten schon seit einer Stunde ihr Tagewerk vollendet und die Ruhe des Abends, die durch den drückenden Belagerungszustand der Stadt vermehrt wurde, beherrschte die Räume des ganzen Hauses, als Kaleb hastig in das Kontor trat, wo Franz noch arbeitete. Es war der erste Tag, an dem die regelmäßige Postverbindung mit der Hauptstadt wiederhergestellt war; der junge Mann hatte eine nicht unbedeutende Anzahl eingegangener Briefe zu beantworten, die am nächsten Morgen zur Post befördert werden sollten.

»Ach, Herr Franz«, rief der alte Mann zitternd und bleich, »wir sind verloren, wenn sich das Gerücht bestätigt, das mir soeben ein Freund mitteilte, der unsere Verbindung mit dem Bankhaus W. kennt. Er ist eigens hierhergeeilt, damit wir noch Schritte tun können, um unser Eigentum zu retten!«

»Worum geht es?«, rief Franz, indem er erschrocken die Feder sinken ließ; »reden Sie, lieber Kaleb!«

Der Greis war auf einen Stuhl gesunken, um sich von dem Schrecken und von dem raschen Gang zu erholen.

»Was für ein Gerücht ist Ihnen zu Ohren gekommen?«, fragte Franz dringend, als Kaleb immer noch dasaß und beide Hände auf die Brust legte, als ob ihm völlig der Atem ausgegangen wäre.

»Dass das Bankhaus W.«, stammelte der Alte, »vielleicht morgen schon fallieren wird.«

Der Associé des Herrn Hubertus stand einen Augenblick wie vom Blitz getroffen da; seine Hände hingen schlaff am Körper herab und Totenblässe bedeckte das Gesicht, denn die Wahrheit dieses Gerüchtes war eine Lebensfrage für das Geschäft desselben, da er, wie wir wissen, das letzte Kapital in jenem Bankhaus deponiert hatte.

»Kaleb«, stammelte er nach einer Pause, »was Sie gehört haben, ist doch nur ein Gerücht, nicht wahr? Hat Ihr Freund die Quelle angegeben, aus der er geschöpft hat?«

»Wie er mir sagte, sei in der ganzen Stadt die Rede davon; viele sollen das Fallissement schon als ganz gewiss betrachten.«

»Nein«, rief Franz, »das kann ich nicht glauben; Herr W. ist nicht nur ein reicher, sondern auch ein redlicher Mann, der sich des allgemeinen Vertrauens und der Achtung aller zu erfreuen hat. Es ist Verleumdung, niedrige, infame Verleumdung!«

»Herr Franz«, sprach Kaleb, indem er aufstand, »die neue Zeit hat mich so mit Misstrauen gegen alle Welt erfüllt, dass ich auch der Redlichkeit des Herrn W. nicht mehr traue. Wenn meine Bitten etwas über Sie vermögen, so eilen Sie diesen Abend noch zu dem Bankier und kündigen oder erheben die Summe, die er von uns in Händen hat. Das Gerücht mag sich bestätigen oder falsch sein; ich halte dafür, dass das Geld in unserer eigenen Kasse besser aufgehoben ist als dort. Eilen Sie, mein junger Freund, eilen Sie und lassen Sie den Rat eines alten Geschäftsmannes nicht unbeachtet an Ihren Ohren vorbeigehen!«

»Mein Gott«, sprach Franz verwirrt; »ich weiß nicht mal, was ich dem Mann sagen soll.«

»Sagen Sie ihm rundheraus, was Sie gehört haben, und fordern Sie Ihr Geld zurück. Und selbst, wenn Sie nichts erreichen, so erhalten Sie doch wenigstens Gewissheit und können dadurch Herrn Hubertus und Fräulein Anna einen großen Schrecken ersparen. Bedenken Sie nur, es ist unser letztes Kapital! Wer weiß, ob die Wendung der Dinge so bald einen merklichen Vorteil für uns herbeiführt. Ich beschwöre Sie, Herr Franz, legen Sie alle Delikatesse beiseite und gehen Sie zu dem Bankier, ehe es zu spät ist.«

»Ich werde gehen«, sprach der junge Mann nach einigem Zaudern, »damit ich mir später keine Vorwürfe zu machen habe. Wie spät ist es?«

Kaleb sah zu der Kontoruhr.

»Sieben Uhr vorüber«, antwortete er; »bis acht Uhr hat unser Mann sein Kontor geöffnet; darum eilen Sie, es ist die höchste Zeit.«

Der junge Mann eilte auf sein Zimmer, um sich anzukleiden. Nach zehn Minuten verließ er das Haus.

»Ich erwarte Ihre Ankunft im Kontor«, rief Kaleb ihm nach; »ziehen Sie nur die Glocke, falls das Haus geschlossen ist, und ich öffne.«

Der alte Kassierer lauschte noch einige Augenblicke auf die sich in der Ferne verlierenden Schritte seines Freundes, dann kehrte er mit dem Seufzer: »Gott gebe, dass er gute Nachrichten bringt!« in das Kontor zurück und beschäftigte sich mit dem Ordnen der Bücher und Register, die auf den Pulten umherlagen.

Da Franz auf dem Platz keinen Wagen vorfand, setzte er seinen Weg zu Fuß fort. Je mehr er über den Zweck seines Ganges nachdachte, desto begründeter fand er Kalebs Besorgnis, und je mehr bei dieser Erkenntnis seine Angst wuchs, desto mehr forcierte er seine Schritte. Nur mit seiner Angst beschäftigt, flog er durch die menschenleeren Straßen; er bemerkte kaum die starken Militärpatrouillen, die schallenden Schrittes an ihm vorbeigingen. Plötzlich weckte ihn das Rauschen eines Flusses aus seinem Nachsinnen; er stand an der Brücke, die er nur noch zu überschreiten hatte, um zum Haus des Bankiers zu gelangen.

Die Glocke der nahen Kirche schlug halb acht Uhr.

»Noch eine halbe Stunde!«, flüsterte Franz vor sich hin und setzte hastig seinen Weg fort. Nach fünf Minuten hatte er die Brücke überschritten und das Haus des Herrn W. lag vor ihm. Doch Erstaunen hemmte plötzlich seinen Fuß, als er die Mitte des Platzes vor der Brücke erreicht hatte, denn das Heim desjenigen, den das Gerücht als insolvent bezeichnete, war festlich beleuchtet und eine lustige Ballmusik, die in diesem Augenblick anhob, scholl lieblich über den weiten, menschenleeren Platz.

»Ist es möglich«, rief der junge Mann leise, »der Bankier gibt ein glänzendes Fest, während die Stadt unter dem Druck der Revolution seufzt? Noch vor wenigen Tagen wimmerten an dieser Brücke Verwundete und Sterbende, noch sind die Steine von Bürgerblut gerötet, und dort tanzt man und gibt sich den Freuden des Mahles hin? Umgaukelt mich ein Traum, oder hat die Angst mich mit Wahnsinn geschlagen?«

Franz hatte sich nicht getäuscht, der Bankier gab einen Ball. Langsam näherte er sich dem Haus, in dem die Freude ihre leichten Fittiche schwang; er wusste nicht, was er machen sollte. Während er unschlüssig dastand, blickte er zu den mit prachtvollen Vorhängen verzierten Fenstern des ersten Stockes empor: Da sah er elegante Herren und Damen im raschen Tanz nach dem Takt der rauschenden Musik vorüberschweben, andere lehnten sich auf die Fensterbrüstung, sahen lächelnd den schön geputzten Paaren nach oder unterhielten sich in freundlichem Gespräch, wobei sie von Dienern in Galalivree mit Erfrischungen bedient wurden. Kurz, alles atmete Freude und Frohsinn, während der Boden noch von den Donnerschlägen der Revolution zitterte. Des jungen Mannes Herz bebte bei diesem Anblick; die Töne der Musik, aller Menschlichkeit hohnsprechend, durchschnitten ihm schmerzlich die Seele; ihm war, als ob er das Hohngelächter der Hölle vernähme.

»Nein«, rief er, »ein Mensch, der das Herz hat, im Angesicht des Todes einen Ball zu geben, ist auch zu andern Dingen fähig. Ich muss Gewissheit haben, koste es, was es wolle!«

Bebend vor Entrüstung schritt Franz auf die hohe Eingangstür zu und zog die Glocke. Ein Portier in glänzender Livree, ein breites Band über der Achsel, einen silberbetressten Hut auf dem bärtigen Kopf und einen großen Stab in der Hand, öffnete.

»Kann ich den Herrn des Hauses sprechen?«, fragte der junge Mann mit bebender Stimme.

Wie eine Säule stand der Bärtige in der Tür und sah einen Augenblick mit verachtendem Befremden auf den Fragenden; dann machte er Miene, sich ohne Antwort zurückzuziehen und die Tür wieder zu schließen.

»Halt!«, rief der gereizte Franz, indem er sich zwischen den Zerberus und die Tür drängte, »ich habe in dringenden Geschäftsangelegenheiten mit dem Bankier zu reden.«

»Zurück!«, donnerte der Portier, »die Geschäftszeit ist vorüber, kommen Sie morgen wieder!«

Ohne ein Wort zu entgegnen, schob Franz die Tür mit kräftiger Hand zurück, stieß den steifen, geputzten Knecht beiseite und eilte die breite Treppe hinauf zu dem ihm wohlbekannten Kontor. Während er zornbebend, sich seiner Sinne kaum bewusst, den Korridor durchschritt, öffnete sich die Flügeltür des Saales und der Bankier, im schwarzen Ballanzug, das rote Bändchen eines Ordens im Knopfloch, trat heraus, um den herbeieilenden Bedienten Befehle zu erteilen. Das Benehmen des Portiers, der ihn daran hindern wollte, sich von der Sicherheit seines Eigentums zu überzeugen, und das zum Hohn des Elends veranstaltete Fest hatten den jungen Mann so erbittert, dass er, ohne sich zu besinnen, dem Mann des Geldes entgegentrat.

»Mein Herr«, sprach er, nachdem er seinen Hut gezogen hatte, »der Drang der Umstände mag mich entschuldigen, wenn ich Sie den Freuden des Festes auf einige Minuten entziehe und um eine kurze Unterredung bitte.«

Obgleich diese Worte in einem fast heftigen Ton gesprochen waren, veränderten sich die freundlichen Züge des Bankiers nicht einen Augenblick; mit dem feinen, artigen Benehmen eines Mannes von Welt wandte er sich zu dem unerwarteten Besuch und fragte:

»Mit wem habe ich die Ehre?«

»Mein Name ist Franz Witt; ich bin der Associé des Herrn Hubertus, dessen Firma Ihnen bekannt sein wird.«

»Eine jener Firmen, die der Kaufmann mit Achtung nennt – ich stehe zu Diensten! Licht in mein Kabinett«, rief er einem Bedienten zu.

Der Bediente schritt mit einem Armleuchter voran, Franz und der Bankier folgten. Als sie an der Tür vorübergingen, an der Franz sonst ein Schild mit der Aufschrift »Kasse« bemerkt hatte, schlug ein lauter Toast an sein Ohr. Er sah zur Seite – das Schild war verschwunden; stattdessen hörte er in dem Kassenzimmer lautes Lachen und das Klingen von Gläsern. Ein kalter Schauder durchrieselte seine Glieder; ihm war, als ob der Wein zu den Toasten von seinem Geld, das er vor einem Jahr vertrauensvoll in diesem Zimmer abgeliefert hatte, bezahlt worden sei.

An der letzten Tür des Korridors blieb der Diener stehen. Der Bankier zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete. Nachdem der Bediente das Licht auf einen Tisch gestellt hatte und die beiden Männer eingetreten waren, entfernte er sich wieder.

»Wir sind allein«, begann der Herr des Hauses mit großer Freundlichkeit und deutete mit seiner von kostbaren Ringen strotzenden Hand auf einen Sessel.

»Mein Herr«, sprach Franz in einem festen Ton, »es hat sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, Sie würden morgen Ihre Zahlungen einstellen. Wir haben sechzehntausend Gulden in Ihrem Haus stehen; für Sie eine geringe Summe, aber für einfache Fabrikanten ein Betrag, dessen Verlust den Ruin herbeiführen würde.«

»Ist es möglich!«, rief Herr W. mit derselben Ruhe und Freundlichkeit, die er bisher gezeigt hatte. »Ich hätte nicht geglaubt, dass der Pöbel seine Kühnheit bis zu dieser Verleumdung ausdehnen würde! Wundern Sie sich nicht darüber, mein lieber Freund«, fuhr der Bankier lächelnd fort, indem er die Hand des jungen Mannes ergriff, »wir Kaufleute, die wir uns durch Fleiß und Tätigkeit den Genuss des Lebens verschafft haben, sind dem lungernden Pöbel schon lange ein Dorn im Auge; er hätte gern mit uns geteilt, was wir sauer erworben haben. Da er durch offene Revolution seinen Zweck nicht erreichen kann, wendet er jetzt Verleumdung und List an, um uns zu schaden; aber glauben Sie mir, auch dies gelingt ihm nicht; die Welt hat zu gut erkannt, dass nur ein schmutziger Kommunismus die Fackel der Empörung entzündet, und nicht der Drang nach Freiheit. Kein Mensch ist ein Sklave, der die Gesetze, und seien sie noch so streng, nicht zu fürchten hat. Wo die Gesetze keine Geltung mehr haben, wie es der Wunsch des armen verblendeten Volkes war, blüht kein Glück und Segen. Und darum feiere ich durch das heutige Fest den Sieg der Gesetze über die Anarchie; ich gebe der guten Sache zu erkennen, dass ich ihr angehöre und dass ich gesonnen bin, in Zukunft für sie zu wirken. In meinem Saal vereinigt die Freude den Kaufmann mit dem Soldaten, und wie sie heute dort vereint sind, werden sie auch immer vereint sein, wenn es gilt, die Rechte unseres Landesherrn, unter dessen Schutz wir stehen, aufrechtzuerhalten.«

»Mein Herr«, stammelte Franz in großer Verlegenheit, »wenn das Gerücht …«

»Sehen Sie mich an«, unterbrach der Soldatenfreund mit einem unbeschreiblich süßen Lächeln – wenn wir es nicht einfältig nennen wollen, da er so klug gesprochen hat – den jungen Mann, der mit seinem geraden, schlichten Charakter nicht wusste, was er in diesem Augenblick für ein Gesicht machen sollte, »sehen Sie mich an und sagen Sie mir, ob ich einem ruinierten Bankier gleiche? Gibt man heute ein Fest, wenn man morgen seine Zahlungen einstellen will? Sie sind wegen Ihres Kapitals in Sorge – wären meine Kontore nicht geräumt und zu Ballsälen umgestaltet, würde ich es Ihnen in diesem Augenblick zurückgeben; darum haben Sie die Güte, mich morgen, zu welcher Stunde Sie wollen, wieder zu besuchen, und die Gelder stehen zu Ihrer Disposition.«

Die letzten Worte begleitete eine höchst galante Verbeugung des Bankiers, die Franz stumm erwiderte. Der Associé des Herrn Hubertus war dergestalt aus der Fassung geraten, dass er kein Wort der Entschuldigung finden konnte. Die sorglose Miene des Herrn W. und sein freundliches Benehmen hatten sein Misstrauen völlig verscheucht, und wenn ihn die ruhige Würde des verkannten Mannes nicht abgehalten hätte, so wäre er in seiner Freude, das Kapital in Sicherheit zu wissen, ihm um den Hals, und als Beweis der Hochachtung, ihm zu Füßen gefallen. So aber ließ er es bei der Verbeugung bewenden und trat, den Hut mit beiden Händen zusammendrückend, auf den Korridor hinaus. Als ob ihm eine Zentnerlast von der Brust genommen wäre, flog er leicht wie ein Reh die breite, hell erleuchtete Treppe hinab; die plötzliche Verwandlung seiner Angst in Freude war so umfassend, dass er sogar den Groll gegen den Portier vergaß und ihm ein Geldstück für das Öffnen der Tür in den Bart warf.

Als Franz auf den Platz trat, blickte er noch einmal an dem Haus des Bankiers empor. Die Gruppen an den Fenstern hatten sich verändert: Offiziere mit glänzenden Epaulettes, schön gestickten Kragen und großen, sorgsam gepflegten Schnurrbärten waren jetzt sichtbar; sie standen in den Fenstervertiefungen und unterhielten sich freundlich mit Personen in eleganten Zivilkleidern. Dann ergriffen sie die Gläser und stießen an. Auf was sie aber anstießen, konnte Franz nicht verstehen. Die Worte des Bankiers hatten die Stimmung des jungen Mannes so umgewandelt, dass er dem Schauspiel an den Fenstern mit Interesse zusah; er erblickte nicht mehr jene Ironie auf die obwaltenden Verhältnisse darin, die ihn vor einer Viertelstunde so erbittert hatte, er fand die freundschaftliche Annäherung der beiden Stände sogar rührend und hielt sie für ein erfreuliches Zeichen für die Zukunft. Froh bewegt trat er den Rückweg an, wobei ihn der Gedanke, dem alten Kaleb eine freudige Botschaft zu bringen und sein Geschäft außer Gefahr zu wissen, zur Eile antrieb.

Wir kehren jetzt an das jenseitige Ufer des Flusses zurück, um zu berichten, was sich dort während Franz’ Besuch bei dem Bankier zugetragen hat.

Im selben Augenblick, als der Associé des Herrn Hubertus mit seiner Herzensangst die Brücke überschritt und die Glocke der nahen Pfarrkirche halb acht Uhr schlug, trat die Gestalt eines Mannes aus dem Schatten der Häuser hervor und bewegte sich langsam, als ob sie von einem langen Gang erschöpft oder krank sei, auf das Ufer zu.

»Wer da?«, rief plötzlich der Führer einer Polizeipatrouille, die, auf die Brücke zuschreitend, die Straße entlangkam.

»Was kümmert’s euch, wer ich bin?«, antwortete die Gestalt und wollte weiter.

»Wie«, rief dieselbe Stimme wieder, »was es uns kümmert? Warte ein wenig und es wird dir klar werden!«

Mit diesen Worten packten zwei Männer den impertinenten Menschen, der es wagte, der Polizei seinen Namen zu verweigern, bei den Armen und führten ihn in den Lichtkreis, den die Flamme einer am Eingang der Brücke befindlichen Laterne bildete. Ruhig ließ sich der Verdächtige diese Polizeiexpedition gefallen. Der Führer trat jetzt heran und sah ihm mit schlauen Augen ins Gesicht.

»Oho«, rief er, »dein Gesicht verkündet nichts Gutes! Bist du ein Dieb?«

Der Aufgegriffene sah den verfänglich fragenden Polizeimann vom Kopf bis zu den Zehen prüfend an, dann antwortete er in einem ruhigen Ton:

»Nein, und Sie?«

»Spaßvogel! Du siehst aus, als ob du vom Galgen geschnitten wärst, und ich bin der Mann, der Sorge tragen kann, dass dir dein Platz wieder angewiesen wird.«

»Ich muss gestehen«, antwortete der Arrestant bitter, »dass Sie der menschlichen Gesellschaft ein sehr nützliches Mitglied sind. Mit welchem Recht aber können Sie es wagen, mich auf der Straße anzuhalten, und zwar in einer Zeit, die allen Bürgern Schutz des Eigentums und der Person garantiert? Haben Sie das Recht dazu?«

»Ja, mein Bester, man hat das Recht dazu. Wirst du mir nicht im Augenblick bekennen, wer du bist, so lasse ich dir die Hände auf den Rücken binden und dich ins Polizeigefängnis führen!«

»Verzeihung, mein Herr«, rief der Bedrohte mit Ironie, »Verzeihung, wenn ich Ihre Würde nicht sogleich ahnen konnte. Ich bin gewissermaßen Ihr Kollege, nur mit dem Unterschied, dass Sie Beobachtungen im Interesse der Regierung anstellen und ich im Interesse der Moral!«

»Also Philosoph!«

»Und Dichter!«, fügte der Unbekannte hinzu.

»Ein Dichter!«, lachte der Regierungsbeobachter; »dann wundere ich mich nicht mehr über deine Lumpen und über dein Aussehen. Lasst ihn los«, rief er seinen Häschern zu, »der arme Teufel ist gestraft genug. Mir scheint, du machst bei Nacht deine Promenade, weil du dich am Tage nicht mit Ehren sehen lassen kannst. Warte, ich werde dir ein Mittel an die Hand geben, dir einen Rock zu verdienen.«

»Und dieses Mittel?«

»Einer deiner Kollegen hat eine Schmähschrift unter dem Titel ›Die Jesuitenkrone‹ geschrieben. Bist du imstande, dem Generalkommando oder dem Premierminister den Namen dieses Nichtswürdigen anzuzeigen, so erhältst du eine Belohnung von dreitausend Dukaten. Bedenke einmal, wenn dir dieses runde Sümmchen in lauter blanken Goldstücken ausgezahlt würde! Geh und spioniere, denn ehe du mit deiner Feder so viel verdienst, musst du dir die Finger krumm schreiben, dass sie aussehen wie Adlerkrallen.«

»Ich danke für den Rat«, antwortete der Dichter in einem trockenen Ton; »aber so arm ich auch bin, so habe ich doch keine Lust, Ihnen ins Handwerk zu pfuschen!«

»Lasst uns weitergehen«, rief der Sicherheitsmann, »ein Dichter, der dreitausend Dukaten von der Hand weist, ist nicht gefährlich. Vorwärts!«

Laut lachend entfernte sich die Patrouille und war nach einer Minute im Dunkel der Straße verschwunden.

Der arme Dichter war niemand anders als Richard Bertram, der seit der Zeit, dass er seine Wohnung verlassen hatte, in dumpfer Verzweiflung durch die Stadt geirrt war. Als er sich allein sah, trat er rasch zum Ufer und ließ sich erschöpft auf der ersten Stufe einer Treppe nieder, die neben der Brücke zum Wasser hinabführte. – Der Mond war indes aufgegangen und erhellte mit seinem melancholischen Licht all die Plätze, zu denen der Schein der Laternen, die auf besonderen Befehl mit dem Trabanten der Erde wetteifern mussten, nicht dringen konnte. Richard hatte zufällig einen Winkel gefunden, der ihn vor beiden schützte, sodass er von den Vorübergehenden nicht gesehen werden konnte. Mit düsteren Blicken starrte der arme junge Mann in die schwarzen Wellen, die sich in eintönigem Rauschen an den starken Steinpfeilern der Brücke brachen und dann in ruhigem Strom ihren Weg verfolgten.

»Ich kann nicht anders«, murmelte Richard, »und ich muss bekennen, dass mir die Erfüllung meiner Pflicht leicht, sehr leicht wird. Alles, was ich auf dem Gang zu meinem Grab gesehen habe, ist durchaus nicht geeignet, mich davon abzuhalten; es trägt vielmehr dazu bei, den Ekel am Leben vollständig zu machen. Der Starke unterdrückt den Schwachen, die Bosheit überlistet die Tugend, und Hohn verfolgt den Unglücklichen, wohin er sich wendet. Ich stand unter den Fenstern eines Palastes, wo man ein Fest gab und die Aristokratie den Becher der Freude leerte, während die Armut am Hungertuch nagt; ich sah Minister, die lächelnd einen Plan besprachen, der Millionen von Menschen unglücklich macht, selbst das Leben kosten kann; ich sah Bankiers, die das Vermögen von zehn Familien, die sie ruiniert hatten, auf eine Karte setzten – mir schwanden die Sinne, ich musste die Flucht ergreifen. Als ich um die Ecke einer Straße bog, ergriff die Polizei einen armen Familienvater, weil er für seine hungernden Kinder einem reichen Bäcker ein Brot gestohlen hatte – o mein Gott, wie wird Tugend und Gerechtigkeit auf dieser Erde mit Füßen getreten; ich bin überzeugt, dass es noch eine andere Welt gibt, wo beide geübt und geehrt werden!«

Nach dieser Rekapitulation der Erdenmängel stützte Richard die Ellbogen auf seine Knie, legte das Kinn in beide Hände und sah so starr in den gefühllos vorbeirauschenden Fluss, als ob er auf dessen Grund Entdeckungen machen wollte. Plötzlich fuhr er empor und lief mit Blitzesschnelle die sechs bis sieben Stufen der Treppe hinab.

»Mutter«, rief er, indem er die Hände in den Nachthimmel hineinstreckte, »könnte ich doch bald in jener Welt mit dir vereinigt sein, wo man die, die man liebt, nicht mehr leiden sieht, wo die ewige Gerechtigkeit über alle wacht! Und du, herzlose Stadt, die du erschöpft von dem Kampf daliegst wie ein verwundetes Ungeheuer, erwache nicht, wenn der Fluss rauscht; es ist ja nur ein Dichter, der unter seinen Wellen den Tod sucht! Gott im Himmel verzeihe mir, ich sterbe für meine Mutter!«

Kaum hatte der Unglückliche diese Worte gesprochen, da stürzte er sich in den Fluss hinab. Das Geräusch des fallenden Körpers hallte dumpf unter den hohlen Brückenbogen wider.

In diesem Augenblick ließen sich Schritte auf der Brücke vernehmen. Ein Mann, durch das Geräusch aufmerksam geworden, lehnte sich über ihr eisernes Geländer und sah auf die vom Mond hell beleuchtete Wasserfläche. Als er den Körper erblickte, der für Augenblicke emportauchte und dann wieder verschwand, rief er um Hilfe – aber nichts regte sich, alles blieb still. Ohne sich lange zu bedenken, verließ der Mann die Brücke, eilte zu der hellen Treppe, stürzte sich ins Wasser und schwamm zu der Stelle hinüber, wo er von der Brücke herab den Körper des Verunglückten entdeckt hatte. Der Retter war ein geschickter Schwimmer; in einigen Augenblicken hatte er den Pfeiler der Brücke erreicht und mit ihm den Körper, der sich hier in dem durch den Bruch der Wellen gebildeten Strudel im selben Moment zeigte, als er ankam. Mit kräftiger Hand ergriff er den Kopf des armen Dichters, drehte um und schwamm zum Ufer zurück. Das Schicksal war der Rettungstat günstig, denn schon nach einigen Schritten, als den Schwimmer die Kraft verließ, gewahrte dieser, dass er mit den Füßen den Grund erreichen konnte. Rasch ergriff er seine Beute mit beiden Händen, hob deren Kopf über die Wasserfläche empor und schritt so in dem stets seichter werdenden Fluss auf die Treppe zu. Als er dort anlangte, standen vier bis fünf Männer auf deren Stufen. Es war die Polizeipatrouille, die den Hilferuf des Mannes vernommen hatte. Die beiden Polizeiagenten, die ihm am nächsten standen, reichten dem Erschöpften die Hand, nahmen den regungslosen Dichter in Empfang und trugen ihn unter die Laterne, wo sie ihn erst eine Viertelstunde zuvor gesehen hatten.

»Der gute Mann muss viel Hitze gehabt haben, dass er sich im November badet!«, rief einer der Gerechtigkeitsdiener, indem er den Körper auf das Straßenpflaster niederlegte.

»Und nicht minder der, der ihn in seinem Bad störte«, fügte der Führer hinzu.

»Meine Herren«, sprach der Retter, ohne auf die menschenfreundlichen Äußerungen zu achten, »leiht mir einer von Ihnen wohl ein trockenes Taschentuch, denn das meinige ist nass.

»Hier«, sprach der Führer und reichte ihm das Verlangte.

Der kühne Schwimmer ergriff das Tuch und begann ungesäumt, die Schläfe des ohnmächtigen Richard damit zu trocknen und zu reiben.

»Dem Himmel sei Dank«, rief er nach einigen Augenblicken, »er atmet wieder; ich kam noch zur rechten Zeit! Meine Herren, helfen Sie mir, den armen Menschen auf den Stein zu setzen, der zwei Schritte von hier an der Brücke steht.«

Die Männer taten es. Bei dieser Gelegenheit sah der Führer der Patrouille das bleiche Gesicht Richards.

»Was sehe ich«, rief er erstaunt, »ist das nicht unser Dichter von vorhin?«

»Wie, Sie kennen ihn?«, fragte der Retter, der seine Belebungsversuche von Neuem begonnen hatte.

»Vor einer Viertelstunde hatten wir hier eine kurze Unterredung mit ihm; der arme Mensch kam mir gleich verdächtig vor.«

»Und trotzdem haben Sie ihn verlassen?«

»Mein Bester«, antwortete der Polizist lächelnd, »das Recht, sich zu baden, hat der Belagerungszustand nicht aufgehoben, denn es ist eines der ältesten Privilegien, die das Volk besitzt; die muss selbst die Polizei respektieren! Untersucht ihm die Taschen«, befahl er einem der Agenten, »vielleicht trägt er Papiere bei sich, die uns Auskunft über seine Person geben.«

Mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit wurde der Befehl ausgeführt. Der Visitator fand zwei Papiere in Richards Tasche, die er seinem Chef reichte.

»Verse!«, rief er, nachdem er das erste geöffnet und unter der Laterne gelesen hatte. »Dass er ein Dichter ist, wissen wir bereits – wollen sehen, was das zweite Papier enthält. Ah, ein Brief!«

»So lesen Sie!«

»Herr Direktor! Auf meine Bitte, meiner kranken Mutter einen Platz in dem Hospital anzuweisen, antworteten Sie mir, dass Sie keine Rücksicht darauf nehmen könnten, da mehr Gesuche eingegangen seien, als Plätze zu vergeben sind, und dem Sohn die Mutter näher stünde als dem Hospital. Schon seit mehr als sechs Monaten mangelt es mir an Arbeit und die Zukunft gewährt wenig Aussicht dazu. Bemühen Sie sich in meine Wohnung; dort werden Sie erfahren, dass meiner armen Mutter nur noch das Hospital bleibt, denn ihr Sohn …«

»Sie brauchen nicht weiterzulesen«, rief Richards Lebensretter, »ich kenne jetzt die Überlegung, die den Kopf dieses Unglücklichen exaltiert hat. Wenn die Mutter den Sohn verloren hat, so wird er gefolgert haben, ist kein Grund mehr vorhanden, ihr einen Platz in dem Hospital zu verweigern. Dieser Unglückliche ist des Mitleids wert. Meine Herren, mein Name ist Franz Witt und ich bin der Associé des Herrn Hubertus, dessen Fabrik Ihnen nicht unbekannt sein wird – ich wünsche, für den Armen Sorge tragen zu können.«

»Tragen Sie Sorge, mein bester Herr; Sie haben ihn aus dem Wasser gezogen, folglich gehört er Ihnen.«

»Noch eine Bitte«, rief Franz, der vor Kälte am ganzen Körper zitterte; »senden Sie einen Ihrer Leute nach einem Wagen!«

»Ich glaube kaum, dass Sie einen finden werden, denn die Wagen sind sehr selten geworden, seit man sie zum Barrikadenbau verwendet hat.«

»Dort neben der Kirche sah ich einen Fiaker halten«, sprach ein Agent; »es ist leicht möglich, dass er noch anzutreffen ist.«

»So hole ihn«, befahl der Führer. »Mein Herr«, wandte er sich zu Franz, der Richards Kopf in seinen Armen hielt, um ihn zu erwärmen, »ich stehe mit dem Redakteur eines Journals in Verbindung, der am ersten Tag jedes Monats in unserm Büro erscheint – durch ihn werde ich Ihre schöne Handlung zur allgemeinen Kenntnis bringen.«

»Unterlassen Sie das«, gab Franz zur Antwort, »ich folge nur einem ganz natürlichen Gefühl, das Ihnen, so wie jedem anderen, ebenfalls nicht fremd sein wird – es ist nicht der Mühe wert, ein Wort darüber zu verlieren.«

Die Unterhaltung stockte für einige Minuten; die Polizeiagenten, des Wartens auf offener Straße überdrüssig, sahen sehnsüchtig in die Richtung, von wo der Wagen kommen sollte. Franz, fast erstarrt in seinen nassen Kleidern, hielt immer noch den Kopf des armen Richard, der durch ein lautes Zähneklappern seine Wiederkehr zum Leben anzeigte.

Endlich ließ sich in der Ferne ein Geräusch vernehmen und einige Zeit später rollte der erwartete Wagen heran.

»Gute Verrichtung!«, rief der Polizeiagent und verschwand mit seinen Leuten in der nächsten Straße.

»Freund«, sprach Franz zu dem Kutscher, »wollen Sie ein gutes Trinkgeld verdienen?«

»Gern, Herr!«

»Dann steigen Sie herab.«

Der Kutscher sprang eilig von seinem Sitz.

»Gut«, fuhr Franz fort. »Jetzt leihen Sie mir, oder vielmehr meinem Freund, der das Unglück gehabt hat, ins Wasser zu fallen, Ihren Mantel für zehn Minuten. Wollen Sie?«

»Hier«, sprach der Kutscher und zog seinen Mantel aus.

Franz hüllte den bebenden Dichter hinein, hob ihn mithilfe des Rosslenkers in den Wagen und setzte sich ihm dann zur Seite. Nachdem der junge Mann seine Wohnung näher bezeichnet hatte, schwang sich der Kutscher auf seinen Sitz und der Wagen rollte davon.

Während der Fahrt erwachte Richard aus seiner Betäubung; er hob den Kopf und sah sich in dem dunklen Raum des völlig verschlossenen Wagens verwundert um. Als er den Mann an seiner Seite gewahrte, wollte er fragen, wo er sich befand, doch ein heftiger Fieberfrost rüttelte ihn dergestalt, dass er bebend in die Ecke des Wagens zurücksank, ohne ein Wort reden zu können. Mitleidig warf Franz den schweren Mantel über den Kranken, um ihn zu erwärmen, dann sank auch er, vom Frost überwältigt, in den Sitz zurück. Endlich hielt der Wagen an. Richards Lebensretter öffnete den Schlag und sprang auf das Steinpflaster: Er stand vor Herrn Hubertus’ Haus. Rasch zog er die Glocke. Nach einer Minute öffnete sich die Tür und Kaleb, der unter Angst und Besorgnis die Rückkehr seines jungen Herrn abgewartet hatte, erschien.

»Sind Sie es, Herr Franz?«, fragte der alte Mann.

»Ich selbst!«

»Was bringen Sie für Nachricht?«, flüsterte Kaleb.

»Gute Nachricht, mein alter Freund.«

»Himmel«, rief der Kassierer plötzlich, denn er hatte Franz berührt, »Ihre Kleider sind nass!«

»Ruhig Kaleb; ich komme auch nicht allein. Helfen sie mir den Herrn, der im Wagen sitzt, auf mein Zimmer zu bringen; er ist krank. Später sollen Sie alles erfahren. Mein Herr«, rief er leise, indem er an den Wagen zurücktrat, »steigen Sie aus, wir sind am Ziel!«

»Wo sind wir?«, fragte Richard mit bebender Stimme im Inneren des Wagens.

»An der Wohnung Ihres Lebensretters. Folgen Sie mir ohne Furcht.«

Mithilfe des Kutschers stieg Richard aus. Kaleb und Franz nahmen ihn in Empfang und führten den Dichter, der sich wieder völlig erholt hatte, die Treppe hinauf, auf das bezeichnete Zimmer. Dort angelangt, nahm der Associé dem bebenden Richard den Mantel ab und gab ihn dem Kassierer. Der Greis sah den Fremden mit großen Augen an, der in seinen nassen, zerrissenen Kleidern einen seltsamen Anblick gewährte.

»Hier ist Geld für den Kutscher«, sprach Franz dringend; »eilen Sie hinab und übergeben Sie es ihm zusammen mit dem Mantel.«

Kopfschüttelnd entfernte sich der Alte. – Nach einigen Augenblicken hörte man das Geräusch des abfahrenden Wagens. Franz holte trockene Kleider aus einem Nebenzimmer und bat seinen Gast, sich derer zu bedienen. Mit dem Versprechen, gleich wieder zurückzukehren, verließ auch der Associé das Zimmer, um ins Kontor zu eilen.

»Nun«, rief Kaleb, als er eintrat, »haben Sie den Bankier gesprochen?«

»Ja«, antwortete Franz mit freudigen Mienen, »ich habe ihn gesprochen!«

»Schon fürchtete ich, dass Sie zu spät kommen würden, aber Gott sei Dank, Ihr Gesicht verkündet gute Botschaft.«

»Ja, Freund, ich bringe gute Botschaft«, rief der junge Mann, indem er dem Greis die Hand reichte, »und danke Ihnen für den Rat, noch heute Gewissheit zu erlangen, denn nun können wir ruhig schlafen.«

»Dann war das Gerücht also unbegründet?«

»Wie ich gleich vermutete, war es eine nichtswürdige Verleumdung! Der Bankier gab einen Ball; die Räume des weiten Hauses hallten von Musik und Gläserklang wider. Dies hielt mich aber nicht ab, einen bärtigen Portier, der mir den Eintritt verweigern wollte, beiseitezuschleudern und mich dem Herrn des Hauses vorzustellen.«

Franz erzählte nun Wort für Wort seine Unterredung und schloss damit, dass er dem alten Kassierer um den Hals fiel.

»Gott sei Dank«, rief dieser, »jetzt atme ich wieder frei auf! Doch um ganz sicherzugehen«, fügte er hinzu, »sollten wir das Angebot des Herrn W. in Anspruch nehmen und morgen in aller Frühe unser Geld abheben; wir müssen uns vor allen Eventualitäten schützen, denn Sie kennen den Charakter unserer Arbeiter; wenn sie nicht auf die Stunde genau ihren Lohn erhalten, verlassen Sie die Fabrik und verhängen Schmach und Schande über unsere Firma.«

»Kaleb«, unterbrach Franz den redselig gewordenen Alten, »ist Herrn Hubertus und Anna von dem Gerücht etwas zu Ohren gekommen?«

»Nein, nein, mein junger Freund, beide haben keine Ahnung davon. Als Sie um acht Uhr nicht bei Tisch erschienen, kam Herr Hubertus ins Kontor, wo ich mit Angst und Ungeduld Ihrer Rückkehr harrte. ›Wo ist Franz?‹, fragte er; ›warum kommt er nicht zu Tisch? – ›Herr‹, antwortete ich und hatte Mühe, meine Aufregung zu verbergen, ›ich soll ihn entschuldigen, es hat ihn ein Freund abgeholt, der morgen eine lange Reise antreten will; beide wollen heute noch einen fröhlichen Abschied feiern.‹«

»Danke, Freund Kaleb«, antwortete Franz lächelnd und errötend zugleich, »da haben Sie mir einen schönen Dienst erwiesen! Anna, das fromme und sittsame Mädchen, wird von dieser Nachricht nicht übel erbaut gewesen sein, und ihr strenger Vater wird mich morgen mit einem schönen Empfang beehren.«

»Du lieber Himmel«, rief der Greis, »konnte ich anders? Eine Lüge und ich sind selten zu einer Tür eingetreten; ich musste den ersten besten Vorwand gebrauchen, um nicht in Verlegenheit zu geraten. Doch nun sagen Sie mir, wer ist der Fremde, der mit Ihnen gekommen ist? Und wie ist es dazu gekommen, dass Ihre Kleider nass geworden sind?«

»Ganz recht, Sie erinnern mich, dass ich für diese Nacht einen Gast habe. Der arme Mensch kämpfte mit dem brausenden Strom, als ich mit leichtem und frohem Herzen über die Brücke schritt; ich kam noch zur rechten Zeit, um ihn dem Tod zu entreißen. Nun schließen Sie das Kontor; ich werde mich umkleiden und zu ihm zurückkehren. Gute Nacht, lieber Freund, gute Nacht!«

»Wackerer junger Mann«, murmelte Kaleb, indem er die Tür verschloss, »du verdienst in der Tat eine glückliche Zukunft. Der Himmel sei mit dir!«

Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe)

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