Читать книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader - Страница 7
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Es war im Mai des Jahres 1848. Noch durchbebten die Schwingungen der Märzrevolution die Länder und rüttelten gewaltig an den Staatsgebäuden, in deren Schoß die Freiheiten der Völker gefesselt lagen. Furcht und Besorgnis für die Zukunft füllten die Brust der bisher vom Glück Gesegneten; Freude und Hoffnung aber zogen in die Gemüter derer, die durch den eisernen Zwang der Verhältnisse vom Glück geschieden und nur willenlose Werkzeuge derselben waren.
In den Straßen der großen und prächtigen Residenz, wo vor wenigen Monaten das blutige Banner des Aufruhrs geflattert hatte, war es lebendiger denn je; der gesunkene Handel und Verkehr begann sich von Neuem tatkräftig zu heben; frei durften sich die Gedanken zu Worten gestalten, und wie von einem drückenden Alb befreit, jubelte alles der jungen Freiheit entgegen, von der man sich Glück und Heil für alle Zeiten versprach. In den Räumen, wo sonst mit eiserner Strenge Gesetze diktiert wurden, tagten jetzt die Vertreter des Volkes, die der Monarch, den vorgeschrittenen Geist seiner Länder erkennend, berufen hatte, eine freie, den Bedürfnissen der Zeit entsprechende Verfassung zu beraten.
Ein enges Gässchen der äußeren Vorstadt schien von der allgemeinen Regung ausgeschlossen zu sein; nur wenige Menschen, ärmlich gekleidet, sah man darin umhergehen; die halb geöffneten Türen der drei und vier Stock hohen alten Holzgebäude, von ihren Besitzern zum Zwecke der Spekulation eingerichtet, ließen in finstere, kellerähnliche Räume blicken und verschlangen die Eintretenden wie ein schwarzes Grab. In den unteren Regionen dieser winkligen Straße milderte kein Lüftchen die zur Hitze gesteigerte Wärme des heiteren Maitages; als ob auch die Schönheiten des jungen Jahres keinen Zutritt zu dem Aufenthalt der Armut haben sollten, wehte hier eine schwüle, drückende Luft, die durch den Qualm, der hier und da aus einer Tür oder einem Fenster quoll, fast unerträglich wurde. Nur bleichen Gesichtern begegnete man, denen Not und Elend ihren Stempel aufgedrückt hatten.
Wir treten ein in einen dieser schwarzen Schlünde. Eine kalte, dumpfe Kellerluft wird nach einigen Schritten fühlbar; rechts und links berührt die tappende Hand feuchte, schmutzige Wände, der Fuß strauchelt auf dem schlecht gepflasterten Boden und nur mit größter Vorsicht gelangt man nach einigen Minuten an eine steile Treppe, die sich durch ein altes, gebrechliches Geländer in der Finsternis bemerkbar macht. Wirft man nun einen Blick zurück, so zeigt sich der Eingang wie ein kleines, rundes Kerkerfenster, das matt von der scheidenden Abendsonne beschienen wird. Es gehört mehr als Überwindung dazu, den Weg fortzusetzen. Nachdem man zwölf bis fünfzehn Stufen in stockfinsterer Nacht erstiegen hat, gelangt man in eine Art Vorsaal, der durch eine kleine Öffnung in der Mauer nur so schwach erhellt ist, dass man die Fortsetzung der Treppe kaum erkennen kann. Wir ersteigen auch diese, eine dritte und vierte und treten dann auf einen kleinen Boden, der durch ein Dachfenster völlig erhellt wird. Der Treppe gegenüber befindet sich eine kleine Tür, etwas weiter rechts eine zweite. Neben dieser öffnet sich der rußige Eingang einer kleinen Küche, aus deren schwarzem Innern man einige auf dem Herd glimmende Kohlen gewahrt. Alles ist still, kein Geräusch, das die Bewohner dieses Raumes ankündigt, lässt sich vernehmen.
Öffnen wir die erste Tür; ein Schlüssel befindet sich in dem Schloss derselben.
Ein kleines, armseliges Stübchen nimmt den Eintretenden auf. Das niedrige Dachfenster ist geöffnet und gestattet der in dieser Höhe reinen Morgenluft freien Eingang. Eine Monatsrose, auf dem schmalen Fensterbrett aufgestellt, wird leicht von dem Luftzug bewegt und ein Strauß Veilchen, der in einem mit Wasser gefüllten Becher daneben steht, verbreitet einen lieblichen Geruch. Ein reinliches Bett, drei Stühle und ein Tisch, der so neben dem Fenster aufgestellt ist, dass er das volle Licht empfängt, bilden das ganze Mobiliar. Das Dachstübchen ist sauber ausgefegt, der Staub von dem kleinen Blechofen und den harten Holzstühlen sorgfältig entfernt, kurz, alles deutet an, dass hier am frühen Morgen eine sorgliche Hand gewaltet hatte.
Wer ist der Bewohner?, wird der Leser fragen.
Der Bewohner sitzt am Tisch und schreibt. Er ist ein Greis, dessen kahler, glänzender Scheitel nur noch von einem Kranz schneeweißer Locken umgeben ist, der mit zitternder Hand die Feder auf dem Papier führt und in großen Buchstaben seine Gedanken verkörpert. Das Alter scheint weniger den Geist als den Körper desselben geschwächt zu haben, denn man sieht ihm deutlich an, wie nur die bebende Hand und nicht der zögernde Erguss seiner Gedanken die Langsamkeit der Arbeit herbeiführt. Auch nicht einen Augenblick rastet die Feder, emsig fährt sie knirschend über das dicke, gelbe Papier, das in ganzen Bogen vor ihm auf dem Tisch liegt.
Die Glocke der nahen Pfarrkirche verkündete die zehnte Morgenstunde; hell erklangen die Töne zu dem kleinen Fenster herein. Der Greis legte die Feder nieder, schob das beschriebene Papier sorgfältig zusammen und verschloss es in dem Kasten seines Arbeitstisches. Den Schlüssel verbarg er in einer Seitentasche seines langen grauen Rockes; dann erhob er sich und durchmaß in kurzen Schritten, die Hände auf den Rücken gelegt, sein Zimmer. Öfter blieb er am Fenster stehen und gab sein bleiches, von einem langen, weißen Bart umflossenes Gesicht der frischen Morgenluft preis.
Es mochten wohl zehn Minuten vergangen sein, als die Promenade durch ein leises Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Der Greis blieb in der Mitte des Zimmers stehen und rief mit zitternder Stimme: »Herein!« Die Tür öffnete sich und eine Frau trat ein.
»Wohin, Frau Bertram?«, sprach der alte Mann erstaunt. »Sie haben sich ja herausgeputzt, als ob Sie einen Ball besuchen wollten?«
Und mit Recht konnte der Anblick dieser Frau Erstaunen erregen. Sie mochte schon einige Jahre über die Vierzig hinaus sein, aber noch war ihr bleiches Gesicht schön zu nennen. Ein großes blaues Augenpaar, von feinen schwarzen Wimpern umgeben und starken geschweiften Brauen beschattet, bildete einen schönen Kontrast zu den langen schwarzen Haaren, die, fantastisch geordnet und mit großen, künstlichen Blumen geschmückt, das Haupt umwallten. Ein weißes, etwas schmutziges und altmodisches Kleid, hier und da mit bunten Schleifen geschmückt, umfloss die schlanken, aber abgemagerten Glieder, und ein bunter, ebenfalls veralteter Fächer vollendete das Bizarre ihrer Erscheinung. Der seltsame und unheimliche Glanz, der aus den Augen strömte, gab indes Aufschluss über die arme Frau; er zeigte deutlich an, dass sie eine von jenen unglücklichen Geschöpfen war, denen der Schöpfer den Gebrauch ihres Verstandes versagt hatte. Es gab jedoch auch lichte Augenblicke in dem Leben dieser Armen, und jeder, der sie dann kennenlernte, wurde doppelt mit Schmerz und Jammer erfüllt, wenn er sie wieder in diesem trostlosen Zustand erblickte.
»O ja, Herr Wilibald, ich gehe auf einen Ball«, entgegnete die Frau, indem sie vor den kleinen Spiegel trat, der die Wand des Zimmers schmückte, und sich selbstgefällig betrachtete. Ein Lächeln umspielte dabei den Mund der armen Frau, das den Greis mit Entsetzen erfüllte.
»Liebe Frau«, fuhr der Greis fort, als ob er zu einem Kind spräche, das man durch freundliches Zureden von einem gefassten Vorsatz abzulenken gedenkt, »liebe Frau, es ist noch nicht Mittag, und Sie wollen schon auf einen Ball gehen? Bleiben Sie zu Hause, bis es Zeit dazu ist.«
»Ich muss früh dort sein«, sprach Frau Bertram, »denn auch er wird früh kommen! Wissen Sie, dass ich mich recht freue, den schönen Mann in seiner glänzenden Uniform zu sehen? Er war lange, lange fort – doch heute kommt er auf den Ball. O ich habe schon oft mit ihm getanzt!«
»Soll ich denn allein bleiben, liebe Nachbarin? Wer wird mir zu Hilfe kommen, wenn ich wieder krank werde? Warten Sie doch nur, bis Ihr Sohn Richard zurückkehrt.«
Der Ausdruck des Gesichts der armen Wahnsinnigen änderte sich bei diesen Worten; der ungewisse Blick des Auges richtete sich starr auf den Greis, der ängstlich einen Schritt zurückwich und sich zitternd an seinen Arbeitstisch lehnte. Obgleich er den Zustand seiner Nachbarin kannte, so war es doch heute das erste Mal, dass er sie so erblickte. Regungslos verharrte die Frau einige Minuten in ihrer Stellung; ihr schwacher Geist schien sich mit Mühe von dem einmal erfassten Gegenstand abzuwenden, um zu einem anderen, Schmerz und Wut erregenden überzugehen. Endlich begann sie in abgebrochenen Worten, während Tränen den Blick umflorten:
»Meinen Sohn Richard … sagen Sie? Ganz recht, ich habe einen Sohn … aber sein Vater ist tot … der arme junge Mann hat keinen Vater mehr … jener vornehme Herr hat ihn ermordet … sehen Sie, wie sein Degen blitzt? … Dort liegt mein Gatte in seinem Blut … sieh Richard … sieh … dein Vater ist tot … und ich trage die Schuld an seinem Tod … ja, ich … nur ich allein! O mein Gott, mein Gott!«
Die Erinnerung an ihren Sohn hatte die Fesseln gesprengt, die den Geist der Armen umschlungen hielten; die Mutterliebe lichtete die Nacht des Wahnsinns und machte ihre allmächtige Kraft geltend. Laut schluchzend sank sie zu Boden, stützte ihren Kopf auf den neben ihr stehenden Stuhl und weinte still vor sich hin. Der Greis schüttelte schmerzlich bewegt sein kahles Haupt, indem er eine Träne im Auge zerdrückte; dann ging er, als ob er die Aufwallung seines Blutes verhindern wollte, einige Male im Zimmer auf und ab, während der Schmerz der Frau sich in Tränen ergoss.
»O mein Gott«, unterbrach Frau Bertram nach einigen Minuten das Schweigen, »o mein Gott, gibt es denn keine Wiedervergeltung hier auf der Erde? Sind die Gesetze und ihre Strafen nur für die Armut gemacht? Jaja«, fügte sie schmerzlich hinzu, »auch die Vorsehung scheint die Großen dieser Erde zu bevorzugen, während sich bei den Kleinen das Vergehen furchtbar rächt, selbst wenn der Arm der weltlichen Gerechtigkeit sie nicht ereilt!«
»Frau Bertram! Frau Bertram!«, rief der Greis warnend. »Was lässt Sie glauben …?«
»Ja, ja«, rief die Frau, indem sie sich rasch erhob, »ich habe ihn wiedergesehen!«
»Wen?«, fragte Herr Wilibald.
»Den Mörder meines Gatten!«
»Sie irren sich, liebe Nachbarin, oder ein Traum hat Ihnen sein Bild vorgeführt.«
»Ich rede nicht im Irrsinn, mein alter Freund, nur wenn der Schmerz zu groß wird, wenn Not und Entbehrung den höchsten Gipfel erreichen, wenn ich sehen muss, wie mein armer Sohn seine Jugend in Elend vertrauert – dann umzieht ein blutiger Schleier meinen Blick und ich sehe nichts mehr von der Gegenwart, nur die Vergangenheit steigt vor meinem inneren Auge empor und mahnt mich, dass ich eine Unglückliche, eine Verbrecherin bin. Doch still, still, mein Sohn kommt! Hören Sie ihn nicht?«
»Mut, Mut, Frau Bertram, es wird vielleicht noch alles gut. Beruhigen Sie sich, gehen Sie in Ihr Zimmer zurück und denken Sie nicht mehr an die Vergangenheit. Wo ist Ihr Sohn?«
»Er ist schon früh ausgegangen, um Brot zu holen, denn wir haben gestern und heute noch nichts gegessen. Ich fürchte, er kommt mit leeren Händen zurück und wir müssen heute wieder fasten. Armer Richard!«
Ein heftiges Schluchzen folgte diesen Worten und ein Tränenstrom entstürzte den Augen der armen Mutter. Plötzlich aber erhob sie sich, aus den Blicken strahlte wieder jener unheimliche Glanz und der Schmerz verwandelte sich in Wut.
»Bösewicht! Bösewicht«, rief sie mit kreischender Stimme, »du trägst die Schuld an unserm Elend, du hast mit frecher Hand mein Glück zertrümmert! Du fährst in prächtigen Karossen, während ich mit meinem Sohn darbe! … Gestern kam ich bei einem Palast vorbei … da stand ein glänzender Wagen … ein Mann in Generalsuniform trat heraus und stieg ein … er war es, es war Ferdinand … ja, ja, ich erkannte ihn gleich wieder; doch er erkannte mich nicht, die arme Frau in dem zerlumpten Mantel war dem großen Herrn fremd. … Er stieg ein und der Wagen rollte dahin … ach, er war immer noch schön … schön wie damals … als er mir mein Glück und meinen Gatten raubte! … Heute ist Ball im Palast, wie ich einen Bedienten sagen hörte … ich komme, Ferdinand, um mit dir zu tanzen … ach, die prächtige Musik … wie sie durch den glänzenden Saal rauscht! La, la, la, la! Komm Ferdinand, komm!«
»O mein Gott«, rief der Greis mit emporgehobenen Händen, »Sie sind krank, Frau Bertram! Ich werde Sie in Ihr Zimmer bringen, legen Sie sich zu Bett; sobald Richard zurückkehrt, wollen wir beraten, was zu tun ist, um Ihnen Pflege zu verschaffen. Ach, dass ich selbst so arm bin! Kommen Sie!«
In diesem Augenblick ließ sich ein Klopfen an der Tür vernehmen.
»Richard kommt!«, rief der alte Mann und öffnete hastig die Tür.
Zwei Damen traten ein. Die ältere von ihnen, eine Matrone im vorgerückten Alter, einfach, aber sehr anständig gekleidet, reichte dem Greis freundlich lächelnd die Hand und grüßte in herzlichen Worten; die andere, ein blühend schönes, junges Mädchen von achtzehn bis neunzehn Jahren, in einem eleganten weißen Sommeranzug, war kaum eingetreten, als sie auch schon auf Frau Bertram zueilte und sich mit ihr teilnehmend beschäftigte.
»Himmel«, rief sie erschrocken, »die arme Frau schüttelt ein heftiger Fieberfrost; man schicke nach einem Arzt! Und dieser Aufzug – was ist hier vorgegangen?«
Der Greis winkte mit der Hand und gab durch Zeichen zu verstehen, dass er später Aufschluss erteilen würde.
»Ich bin krank, sehr krank!«, stammelte Frau Bertram. »Wo ist mein Sohn? Ich muss wieder zu Bett!«
Die unglückliche Frau schwankte zur Tür, um das Zimmer zu verlassen; da hörte man im Vorsaal die Stimme eines jungen Mannes rufen:
»Mutter! Mutter! Wo ist meine Mutter?«
»Richard«, rief die Mutter, indem sie das Zimmer verließ, »bist du endlich da? Führe mich, denn ich bin krank.«
Am Arm des zurückgekehrten Sohnes, der sie an der Tür empfing, kehrte Frau Bertram in ihr Zimmer zurück. Tief bewegt standen der Greis und die beiden Damen da, als sich die Tür geschlossen hatte. Die jüngere von ihnen war ans Fenster getreten und trocknete mit einem weißen Batisttuch ihre Augen.
»Herr Wilibald«, begann die ältere Dame nach einer Pause, »Sie haben schon das Bett verlassen; fühlen Sie sich auch ganz wohl? Ich fürchte, dass der Auftritt mit jener armen Frau nachteilige Folgen für Ihre Gesundheit herbeiführen kann. Sie scheinen bewegt zu sein?«
»Ach«, sprach der Greis, »wie soll ich Ihnen Ihre Freundlichkeit, Ihre Großmut danken! Doch fürchten Sie nichts, ich bin, obwohl noch schwach, seit einigen Tagen völlig genesen. Frau Bertram, meine Nachbarin, hat mich so gut gepflegt, dass meine Krankheit nicht von langer Dauer war. Wie es scheint, werde ich jetzt meine Krankenwärterin pflegen müssen, denn ihr altes Übel, das sie seit einem Jahr verlassen hatte, ist zurückgekehrt. Die Kleider und die Blumen im Haar werden ihnen deutlich genug gesagt haben …«
»Arme Frau!«, flüsterte das junge Mädchen leise vor sich hin.
»Kennt man den Grund ihrer Geisteskrankheit?«
»Vielleicht ist er in der Armut zu suchen, in der sie lebt«, fügte die junge Dame hinzu. »Wenn dies der Fall ist, wollen wir helfen!«
»Ach nein«, entgegnete Wilibald, »die Krankheit hat einen andern Grund; die unglückliche Lage ist nur eine Folge dieser Krankheit, für die es, wie mir scheint, keine Arznei gibt; nur Gott allein vermag hier zu helfen!«
»Wer ist denn diese arme Frau? Wissen Sie etwas von ihrem Schicksal, Herr Wilibald, o so teilen Sie es uns mit; vielleicht ist dennoch Hilfe möglich!«
»Nehmen Sie Platz, meine Damen«, sprach der Greis, indem er die Holzstühle heranrückte, »ich werde Ihnen mitteilen, was mir die arme Frau selbst erzählt hat.
Es ist nun fast ein Jahr her«, begann der Greis, »dass ich diese Wohnung bezog. Frau Bertram und ihr Sohn bewohnten bereits das kleine Zimmer neben dem meinigen. Dass nichts leichter und inniger verbrüdert als das Unglück, ist eine Wahrheit, die sich auch hier bestätigte, denn schon nach einigen Wochen waren wir alte Bekannte; es verging kein Tag, der uns nicht beisammen sah, es genoss keiner eine frohe Stunde, die der andere nicht teilte. Richard, mit einem schönen Talent für die Dichtkunst begabt, fand damals bei einem hiesigen Buchhändler Beschäftigung, deren Ertrag ihn und seine Mutter vor Entbehrung schützte, und ich muss bekennen, dass auch mich der Hunger verschonte, wenn meine guten Nachbarn zu essen hatten. Nach einigen Monaten warf mich eine heftige Krankheit darnieder, und hatte ich in gesunden Tagen eine Stütze an Frau Bertram und ihrem Sohn gehabt, so fand ich sie in den Tagen des Unglücks doppelt in ihnen. Am Tag saß die Mutter an meinem Bett und nachts der Sohn, mit seinen Arbeiten beschäftigt. So verfloss der Herbst und ein Teil des Winters. Da erhob die Revolution ihr blutiges Haupt, alle Gewerbe stockten und auch Richard teilte das Los vieler Tausende – er hatte keine Arbeit mehr. An Ersparnisse war nicht zu denken gewesen, denn was die beiden Gesunden sich abgedarbt hatten, wurde von meiner Krankheit verschlungen.
Mit dem Elend machte sich auch die Geisteskrankheit der armen Frau Betram wieder bemerkbar, die bis dahin still und in sich verschlossen gelebt hatte. Teilnehmend befragte ich sie nach ihrem Schicksal, als ich sie eines Tages in Tränen aufgelöst in ihrem Zimmer fand, und ich erfuhr Folgendes: Frau Bertram ist die Tochter eines Kaufmanns in P., den die Welt für reicher hielt, als er wirklich war. Ein achtbarer Beamteter, mit einem anständigen Gehalt, bewarb sich um das junge Mädchen, und nur dem Drang der Eltern und nicht dem des Herzens folgend, reichte sie dem Mann, fast gegen ihre Neigung, am Altar die Hand. Kaum ein Jahr nach ihrer Verheiratung erklärte sich der Grund, aus dem der Vater sein Kind zu dieser Ehe gezwungen hatte: Er fallierte und hatte zuvor noch die Zukunft seines einzigen Kindes sichern wollen. Die Mutter brachte Gram und Kummer in die Grube und den Vater die Hartherzigkeit seiner Gläubiger in das Schuldgefängnis, wo auch er bald darauf starb. Jetzt stand die Tochter allein in der Welt, gekettet an einen Mann, den sie nicht liebte, der denselben trockenen Geschäftsgang in seinem Hauswesen eingeführt hatte wie in seinem Büro. Dieser eingefleischte Bürokrat behandelte seine Gattin, in deren Mitgift er sich gewaltig getäuscht hatte, nicht anders als seinen Schreiber; das geringste Versehen im Gang des Haushalts zog der armen jungen Frau eine demütigende Behandlung zu. Obgleich der Himmel ihre Ehe mit einem Knaben segnete, änderte sich dennoch das kalte, herzlose Betragen des Vaters nicht; die junge Mutter, immer mehr das Unglück ihrer Lage erkennend und fühlend, saß weinend an der Wiege des kleinen Richard, des einzigen Wesens, an dem ihr Herz mit Liebe hing. In dieser Zeit war es, als Herr Bertram von P. versetzt wurde, das heißt, er bekam eine einträglichere Stelle im Polizeibüro der Residenz. Er reiste ab, ließ aber Frau und Kind in P. zurück, um an dem Ort seines neuen Aufenthalts alles zu ihrem Empfang vorzubereiten. Es verging eine geraume Zeit, ehe die junge Frau Nachricht von ihrem Gatten empfing, und selbst als der angekommene Brief ihr ankündigte, dass der Tag der Abreise noch nicht festgesetzt werden könne, fühlte sich Madam Bertram über diese neue Vernachlässigung nicht gekränkt, wie sich wohl denken lässt, denn sie konnte ungestört für die Pflege ihres Kindes leben. Das Verhältnis unter den beiden Gatten konnte ihren näheren Bekannten kein Geheimnis bleiben, und ein junger Mann, Ferdinand von B., der die hübsche junge Frau schon längst mit neidischen Augen betrachtet hatte, benutzte dieses Verhältnis und die Abwesenheit des Herrn Bertram, um sich ihr bemerkbar zu machen. An Gelegenheit dazu fehlte es ihm nicht, da er ein Bekannter des abwesenden Gatten war und dessen Haus schon oft betreten hatte. Anfangs waren die Aufmerksamkeiten Ferdinands der jungen Frau nicht unangenehm, später, als sie Vergleiche zwischen ihm und ihrem groben Gatten anstellte, sah sie ihn gern, bis sich endlich die Liebe, die ihr bis jetzt fremd gewesen war, ihres Herzens bemächtigte. Je weniger sich Herr Bertram um seine Frau kümmerte, desto mehr tat es Ferdinand; er schwor ihr, sie von dem Tyrannen zu befreien und neue Ehebande mit ihr zu knüpfen. Herr Ferdinand war ein schöner Mann und seine Schwüre fanden Gehör. Es verflossen wohl zwei Jahre, und Madam Bertram, die nur noch von Ferdinand abhing, der ihr vorgespiegelt hatte, die Scheidung mit ihrem Gatten sei bereits beantragt und würde demnächst erfolgen, wurde abermals durch einen Knaben erfreut. Kaum war sie genesen, als eines Tages plötzlich ihr Gemahl, der Kunde von dem Vorfall erhalten hatte, in ihr Zimmer trat und Ferdinand von B. antraf. Nach einem kurzen Wortwechsel zog Herr Bertram zwei Degen unter seinem Mantel hervor; der Kampf begann im Zimmer der jungen Frau, und noch ehe diese dazwischentreten konnte, lag ihr Gatte in seinem Blut. Des Gegners Klinge hatte ihm das Herz durchstoßen. Noch denselben Abend fuhr ein Reisewagen aus dem Tor. Die junge Witwe mit ihren beiden Kindern und Ferdinand saßen darin. Das Ziel der Reise war Triest. Hier schied Ferdinand von seiner Geliebten, nachdem er ihr ein bedeutendes Kapital in Banknoten überreicht hatte, mit dem Versprechen, bald zurückzukehren. Das beträchtliche Kapital erweckte zuerst den Verdacht der jungen Frau. Wie konnte ein einfacher Mann, der auf eine Staatsanstellung hoffte, – dies hatte Ferdinand ihr gegenüber erwähnt – über eine solche Summe disponieren? Und warum gab er ihr im Augenblick des Scheidens diese Summe? Um ihre Existenz auf Wochen, selbst auf Monate zu fristen, wäre der zwanzigste Teil hinreichend gewesen. Unter banger Erwartung verging die Zeit; der versprochene Tag von Ferdinands Ankunft erschien, der Ersehnte aber blieb aus. So vergingen fünf Jahre und eine stille Schwermut hatte sich der Verlassenen bemächtigt; sie hörte weder von den Folgen des unglücklichen Duells noch von dessen Urheber. Ein einfaches, sparsames Leben hatte nur einen geringen Teil ihres Kapitals in Anspruch genommen; mit dem übrigen verließ sie Triest und zog in die Residenz, teils, um ihren Kindern eine gute Erziehung geben zu lassen, teils, weil sie hoffte, hier etwas von ihrem treulosen Verführer zu erfahren. Nachdem auch hier wieder zwei Jahre verflossen waren, gab sie alle Hoffnung auf, den Vater ihres zweiten Sohnes, der zu einem hübschen, munteren Knaben von sieben Jahren herangewachsen war, jemals wiederzusehen. Richard zählte neun Jahre und besuchte bereits die unteren Klassen eines Gymnasiums. An einem schönen Herbsttag ging Frau Bertram, ihren jüngsten Sohn an der Hand, durch eine der Hauptstraßen der Residenz. Plötzlich fährt ein offener, prachtvoller Wagen, in dem ein hoher Stabsoffizier saß, an ihr vorbei. Sie blickt hin und stürzt mit dem Ausruf: ›Ferdinand‹ den Pferden in die Zügel, um ihren Lauf zu hemmen. Der Kutscher hält an, die unglückliche Frau aber, von einem Stoß der Deichsel getroffen, lag ohnmächtig am Boden. In einem kleinen Krämerladen, der sich in der Nähe befand, schlug sie nach einer Viertelstunde wieder die Augen auf; die prächtige Karosse und ihr Sohn aber waren verschwunden. Aus einem Taschenbuch, das sie bei sich trug, erfuhr man ihre Wohnung, wohin sie mitleidige Menschen in einem Wagen schaffen ließen. Der Verlust des Knaben und die durch den Wagen erlittene Verletzung raubten der armen Mutter den Gebrauch ihres Verstandes; eine alte Dienerin leitete das Hauswesen und Richard blieb der Obhut seiner Lehrer überlassen. Das Kapital wurde mit jedem Jahr geringer und war gänzlich zusammengeschmolzen, ehe der junge Mann seine Studien auf der Universität beendet hatte; er musste abgehen, um durch Arbeiten seine Mutter, deren Geisteskrankheit die Zeit gemildert zu haben schien, zu ernähren. Diese Wohnung, in der Hunger und Elend ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben, ist das Resultat seines Mühens, Verzweiflung der Lohn seiner treuen Arbeit.«
Der Greis schwieg einen Augenblick und trocknete eine Träne, die ihm über die bleiche, gefurchte Wange rann. Die jüngere der beiden Damen vermochte kaum ihre Fassung zu behaupten; ihr Taschentuch am Mund, hatte sie sich still weinend abgewendet.
»Aber wovon lebten die beiden armen Leute, als es an Arbeit fehlte?«, fragte die ältere Dame.
»Wovon sie lebten?«, antwortete der alte Wilibald verlegen. »Je nun, sie mussten zufrieden sein – ich teilte mit ihnen, was ich Ihrer Großmut verdanke. Ja, meine lieben, guten Damen, Ihre Spenden haben drei Menschen erhalten! War es nicht meine Pflicht, mit denen zu teilen, die so lange mit mir geteilt haben? Nicht wahr, Sie sind mir deshalb nicht böse?«
»O ja«, antwortete das junge Mädchen eifrig, »ich bin Ihnen recht böse, Herr Wilibald. Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass Ihren Nachbarn auch Hilfe nottut? Sie wissen ja, dass wir einem Verein angehören, der sich die Unterstützung Hilfsbedürftiger zur Pflicht gemacht hat.«
»Beruhigen Sie sich, liebe Anna«, sprach die Ältere, »es ist immer noch Zeit, den Leuten zu helfen; ich werde sie in unsere Liste aufnehmen.«
Bei diesen Worten zog sie ein Taschenbuch hervor und trug den Namen der Frau Bertram ein. Der Greis wandte sich ab und trocknete seine Stirn. Anna folgte ihm und drückte ihm eine Börse in die Hand.
»Nehmen Sie, Vater Wilibald«, flüsterte sie, »es ist für Sie, für die arme Frau und ihren Sohn!« Der Alte zögerte, die Börse zu nehmen.
»O so nehmen Sie doch«, bat sie unter Tränen; »wenn der junge Mann Arbeit erhalten hat, können Sie es mir zurückzahlen, ich leihe es Ihnen! Aber sagen Sie nicht, dass das Geld von mir kommt. Hören Sie, er darf es nicht erfahren!«
»O Gott«, rief Wilibald, »ich muss ja wohl, um uns vor Hunger zu schützen! Der Zustand, in dem Sie meine unglückliche Nachbarin trafen, ist eine Folge unserer traurigen Lage; sie hält sich für die Mörderin des Vaters ihres Sohnes und glaubt, wenn er noch lebte, würde das Los ihres Richard ein anderes gewesen sein. Ich sehe sie heute ebenfalls zum ersten Mal in diesem Zustand. Nun, Gott und gute Menschen werden ja helfen!«
»Und nun leben Sie wohl«, sprach die Matrone; »wir haben diesen Vormittag noch einige Besuche abzustatten. Anstatt einmal, werden wir jetzt zweimal in der Woche zu Ihnen kommen. Adieu, Herr Wilibald!«
»Ich komme morgen zurück«, flüsterte Anna dem Greis ins Ohr, »um von Ihnen zu erfahren, wie es der armen Frau geht. Lassen Sie es an nichts fehlen. Adieu, Herr Wilibald!«
Zehn Minuten später trat Herr Wilibald in Frau Bertrams Zimmer und legte lächelnd eine Handvoll Silbergeld auf den Tisch.
»Herr Wilibald!«, rief ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren, als er bemerkte, was der Greis getan hatte.
»Wo ist Ihre Mutter, Richard?«, fragte dieser.
»Ich brachte sie in die Kammer auf ihr Bett, wo sie erschöpft eingeschlummert ist.«
»Gut, in einer Stunde komme ich wieder!«
»Herr Nachbar, ein Wort …!«
»Still, dass Ihre Mutter nicht erwacht! Sorgen Sie für die arme Frau und für mich, denn ich werde das Mittagessen bei Ihnen einnehmen, mein junger Freund.«
Mit den letzten Worten hatte der Alte das Zimmer wieder verlassen. Zehn Minuten später trat der junge Mann aus der finsteren Haustür auf die Straße, um die nötigen Einkäufe zu besorgen. Herr Wilibald hatte seine Tür verschlossen und sich wieder zur Arbeit an den Tisch gesetzt.