Читать книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader - Страница 17

Оглавление

1.

Es war noch früh, als Richard Bertram das Dachstübchen betrat, das er am Abend zuvor mit dem Vorsatz, der armen Mutter durch seinen Tod eine Zufluchtsstätte vor Mangel und Elend in dem Hospital zu sichern, verlassen hatte. Wie ein Mensch, der nicht weiß, was mit ihm geschehen ist, ließ er den Blick für einige Sekunden durch das Zimmer schweifen, um seine Sinne zu sammeln, und nur zu bald überzeugte ihn die armselige Umgebung von der Trostlosigkeit seiner Lage. Ein Fieberfrost durchbebte seine Glieder; erschöpft sank er auf einen der harten Holzstühle nieder.

Der junge Mann konnte sich ungestört seinen Gedanken hingeben, da Frau Bertram sich bereits bei ihrem kranken Nachbarn befand und die Rückkehr ihres Sohnes nicht bemerkt hatte. Den brennenden Kopf in beide Hände gestützt, saß der arme Dichter an seinem Schreibtisch und gedachte der Ereignisse, die sich vor Kurzem zugetragen hatten. Wie Bilder einer kranken Fantasie zogen sie an ihm vorüber, ohne ihn aufzuregen; sie entrückten ihn sogar der Gegenwart und gewährten eine Unterhaltung wie die Träume dem Fieberkranken im halb wachen Zustand. Richard durchlebte im Geist noch einmal die jüngste Vergangenheit; er empfand deren Leiden und Freuden wie ein Träumender, der weiß, dass er träumt, aber sich den Armen des mächtigen Schlummergottes nicht entreißen kann – ruhig und willenlos ließ er sich leiten; als seine Gedanken aber dort ankamen, wo die Vergangenheit sich von der Gegenwart schied, zerriss plötzlich der Schleier, der seinen Geist umzog, die Wirklichkeit erinnerte ihn an die Schrecken der Zukunft und eine dumpfe Verzweiflung bemächtigte sich des Armen, dass er seinem Lebensretter, statt ihm zu danken, fluchte.

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und Franz erschien auf der Schwelle.

»Dem Himmel sei Dank«, rief er freudig bewegt, »da ist er!«

»Was wollen Sie?«, fuhr ihn Richard an, indem er mit zornigen Gebärden aufsprang, als ob er ihm den Eintritt verwehren wollte. »Was wollen Sie? Überlassen Sie mich meinem Schicksal!«

»Richard Bertram«, sprach Franz in einem ruhigen, wehmütigen Ton, »so empfangen Sie Ihren besten Freund?«

»Meinen Freund? Ich habe keinen Freund auf dieser Welt«, antwortete Richard düster; »wollen Sie aber den Mangel dafür gelten lassen, so muss ich bekennen, dass er mir schon seit Langem ein treuer Gefährte ist. Wer hat Ihnen meinen Namen und meine Wohnung genannt?«

»Die Vorsehung«, rief der junge Kaufmann, indem er eintrat und die Tür schloss; »ja, die Vorsehung durch einen seiner Engel!«

»Die Vorsehung!«, wiederholte der Dichter bitter lächelnd. »Ich beneide Sie um diesen Glauben.«

»Lästern Sie nicht, mein Freund, sie lässt sich nicht verleugnen, und ich hoffe, Ihnen Beweise liefern zu können.«

»Sie, mein Herr, Sie?«

»Ja, ich, mein armer, armer Freund! Doch zuvor lassen Sie mich ein wenig erholen, denn ich bin noch ganz bewegt. – O mein Gott«, fuhr er nach einer Pause fort, in der er das armselige Zimmer betrachtet hatte, »dieser Mangel, dieses Elend! Und hier, hier …!«

Ein heller Tränenstrom rann über die Wangen des jungen Mannes; er musste sich abwenden, um einige Augenblicke zu weinen. Verwundert blickte ihn Richard an, denn es war der erste Mensch, der seinem Schicksal eine Träne weinte.

»Sie sehen, mein Herr«, sprach der Bewohner des Dachstübchens ruhig, aber in einem bitteren Ton, »dass es einträglicher ist, mit einem Gänsekiel Zahlen zu schreiben als mit einer Adlerfeder Gedanken. Die Poeten werden Bettler, die Kaufleute füllen ihre Kassen; die Handelsherren bauen Paläste, die Dichter werden auf die Straße geworfen. Wenn dies die Werke der Vorsehung sind, haben Sie Grund genug, an eine solche zu glauben.«

»Richard«, rief Franz, »ich verzeihe Ihnen den Ausbruch Ihrer Verzweiflung und begreife ihn vollkommen, nachdem ich Ihre Lage kennengelernt habe. Wo ist Ihre Mutter?«

»Sie sitzt, wenn ich nicht irre, an dem Krankenbett meines blinden Nachbarn, der ebenfalls den Vorzug hat, ein Dichter zu sein und zu hungern.«

»Bevor ich Sie bitte, mich ihr vorzustellen, habe ich mit Ihnen zu reden. Wollen Sie mich ruhig anhören?«

»Nein, nein!«, rief Richard mit Heftigkeit, »lassen Sie mich. Was können wir uns gegenseitig sagen? Sie haben mir das Leben gerettet – das ist ein Dienst, für den ich Ihnen nicht danken kann; Sie haben mir eine Stelle angeboten – das wäre etwas: Ich will aber von Ihren Wohltaten keinen Vorteil ziehen, und ich denke, ich habe das Recht dazu. Ich will so lange frei und unabhängig in meiner Dachstube bleiben, bis man mich hinauswirft, und da dieser Termin nicht mehr fern ist, gönnen Sie mir die kurze Frist der Ruhe. Ich lasse Ihren edlen Absichten volle Gerechtigkeit widerfahren, aber ich gebe Ihnen zu bedenken, dass man die Leute nicht gegen ihren Willen zum Dank verpflichten soll und dass mit Aufdringlichkeit fortgesetzte Wohltaten lästig werden!«

»Richard«, rief Franz und sah dem Heftigen mit dem Ausdruck der höchsten Freundschaft in das rollende Auge, »Sie wissen in diesem Augenblick nicht, dass es Ihnen unmöglich ist, mich zu beleidigen!«

»Und warum unmöglich?«, fragte der Dichter, dem die Äußerung des freundlichen Franz eine willkommene Gelegenheit bot, eine Beleidigung herbeizuführen, um das Gespräch, in dem er zu unterliegen fürchtete, abzubrechen. »Warum unmöglich? Vielleicht weil Sie reich sind und ich ein armer Teufel bin? Das ist eine von den gewöhnlichen Unverschämtheiten der übermütigen Emporkömmlinge!«

Betroffen über diese Worte sah Franz den jungen Dichter einen Augenblick an; er wusste nicht, ob er ihn für stolz oder für verrückt halten sollte. Richard hatte sich entrüstet von ihm abgewandt und sah durch das Fenster.

»Mein Gott«, fragte der Kaufmann teilnehmend, »was hat sich denn seit einer Stunde ereignet; Sie sind ja nicht mehr derselbe Mensch! Haben Sie vergessen, was Sie mir versprachen und dass wir Freunde sind? Fassen Sie Mut, armer Freund, und gedenken Sie Ihrer Mutter!«

Die letzten Worte hatte Franz mit bebender Stimme gesprochen; sie drangen dem lebensmüden Richard tief in die Seele und erinnerten ihn an seine Pflicht.

»Meine Mutter«, rief er bewegt, »meine arme Mutter! Ach, Verzeihung, lieber Freund«, fügte er hinzu, indem er Franz die Hand reichte, »ich muss Ihnen wohl als ein Ungeheuer von Stolz und Undankbarkeit erscheinen – doch halten Sie mich nicht dafür, ich bin ein Unglücklicher, von aller Welt Verlassener, das ist alles! Aber ich kann weder unter Ihrem Dach wohnen noch irgendetwas von Ihnen annehmen – nein, nein, es ist unmöglich!«

»Richard, denken Sie an Ihre Mutter!«

»Wüssten Sie den Grund meiner Weigerung, würden Sie nicht weiter in mich dringen. Um mich Ihnen dankbar zu zeigen, werde ich das Leben, das Sie mir gerettet haben, erhalten und für meine Mutter zu verwenden suchen, damit sie der Wohltaten anderer nicht bedarf; vielleicht ist mir das Glück noch einmal hold. Doch um Ihrer selbst willen beschwöre ich Sie, lassen Sie mich und treten Sie zu mir in keine Beziehung, auch nicht in die entfernteste! Lassen Sie mich und beschwören Sie den Stern nicht wieder herauf, der mir den Weg zu meinem Grab beleuchtete.«

»Armer Freund, Sie gehen zu weit! Stellen Sie sich vor, ich sei Ihr Bruder, Ihr Bruder, der helfen kann und will.«

»Sie wollen und können der Armut helfen? Gut, so gehen Sie zu meinem blinden Nachbarn, einem armen Greis, auf dem ebenfalls der Fluch der Wissenschaften ruht; gehen Sie zu ihm und helfen Sie. Ich kann und werde nie etwas von Ihnen annehmen.«

»Wollten Sie meine Studien nicht leiten?«, fragte Franz; »wollten Sie nicht mein Lehrer sein?«

»Entbinden Sie mich meines Versprechens«, antwortete Richard, »ich kann es nicht halten. Wozu würden Ihnen auch die Kenntnisse nützen, die Sie von mir erlangen könnten? Sollte Ihnen der Himmel einmal Kinder schenken und Sie wissen nicht, was Sie damit anfangen sollen, so schicken Sie sie auf eine Universität; dort lernen sie alles, was nötig ist, um einst zu verhungern. Doch jetzt, mein Herr, bitte ich Sie, verlassen Sie mich, denn meine Mutter wird zurückkehren; sie ist krank und kann keine Besuche empfangen.«

»Ihre Mutter ist krank«, rief der junge Kaufmann, »und Sie weisen meine wohlgemeinte Anerbietung zurück? O Himmel«, fügte er schmerzlich hinzu, »dann ist es nicht allein Ihre, sondern auch meine Pflicht, alles aufzubieten, die arme Kranke zu pflegen und für sie zu sorgen! Hat sie einen Arzt?«

»Einen Arzt«, sprach Richard mit bitterem Lächeln, »wozu ein Arzt?«

»Ist die Krankheit Ihrer Mutter unheilbar?«

»Ich hoffe es«, war die ruhige Antwort des Dichters. »Gott, der ihren Geist in die Region der Träume geführt hat, wird ihr die traurige Gnade nicht verleihen, ihr das Bewusstsein ihres Unglücks zurückzugeben. Es gibt Augenblicke, in denen ich meine Mutter beneide.«

»Allmächtiger Gott«, rief Franz in Verzweiflung, »so ist sie wahnsinnig?«

Richard sah seinen Lebensretter, der laut schluchzend vor ihm stand, verwundert an; er wusste nicht, was er von dem Mann, der seit gestern Abend so warmen Anteil an seinem Schicksal nahm, halten sollte.

In diesem Augenblick ließen sich Schritte auf dem Vorsaal vernehmen. Gleich darauf öffnete sich die Tür und Richards Mutter trat ein. Die arme Wahnsinnige trug einen alten zerrissenen Mantel, den sie fest um ihre Schultern zusammenzog, als ob sie sich vor Kälte schützen wollte. Eine weiße Morgenhaube, die vor Jahren einmal in Mode und schön gewesen war, hielt ihr Haar zusammen, das an einigen Stellen in Unordnung herabhing. Ohne den Fremden zu bemerken, der sich bei dem Geräusch des Eintretens zur Seite zurückgezogen hatte, ging sie mit dem Lächeln, das armen Wesen ihrer Art eigen ist, auf Richard zu und reichte ihm mit den Worten die Hand:

»Mein Sohn, bist du endlich da?«

»Guten Morgen, liebe Mutter«, antwortete Richard, indem er die dargereichte Hand an seine Lippen drückte. »Verzeihung Mutter, wenn ich Ihnen durch meine Abwesenheit Kummer und Sorgen bereitet habe!«

»Gewiss war ich in Sorge, mein Richard, als du mit der Nacht nicht heimkehrtest; schon glaubte ich, dass die Mächtigen dieser Erde mich auch meines Richard beraubt hätten, wie sie mir vor langer, langer Zeit meinen Gatten raubten und meinen kleinen lieben Fritz. Doch dem Himmel sei Dank, ich habe dich wieder; die arme Witwe Bertram hat nur ihren jüngsten Sohn zu beweinen, der vielleicht mit einem Fluch für seine Mutter gestorben ist! – Richard«, rief die arme Frau mit dem Ausdruck des höchsten Schmerzes, »bleibe du bei mir, verlass mich nie wieder, damit ich nicht allein in der Welt stehe!«

Länger konnte sich Franz, der der Unterredung, am ganzen Körper zitternd, mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt war, nicht halten; überwältigt von Schmerz und Freude stürzte er vor Frau Bertram, die mit einem Arm ihren ältesten Sohn umschlungen hielt, auf beide Knie nieder und rief:

»Nein, Mutter, nein, Ihr Fritz lebt und hat nur ihren Namen genannt, um ihn zu segnen!«

Laut weinend hatte der junge Mann die Hand der erschrockenen Frau ergriffen und bedeckte sie mit glühenden Küssen.

»Richard«, stammelte die Mutter und sah mit starren Blicken auf den Knienden herab, ohne ihm ihre Hand zu entziehen, »wer ist dieser Mann? Er weint … seine Hand bebt … Richard, wer ist dieser Mann?«

Aber auch Richard war keines Lautes fähig; einer Bildsäule gleich stand er da und sah mit weit aufgerissenen Augen den Fremden an, den das Schicksal ihm als Lebensretter entgegengesandt hatte. Der Gedanke, der für Anna bestimmte Gatte sei sein Bruder, stieg mit Blitzesschnelle in ihm empor und beraubte ihn fast seiner Besinnung.

»Richard«, rief Franz, indem er beide Hände emporstreckte, »begreifst du nun, warum ich dich nicht verlassen habe? O so antworte doch deiner Mutter«, fügte er dringend hinzu, »und sage ihr, dass dein Bruder zu ihren Füßen liegt, dein Bruder und ihr totgeglaubter Sohn, der sich von diesem Augenblick an nie mehr von euch trennen wird!«

Wie immer, wenn die Vergangenheit in ihr emporstieg, so sank auch jetzt die Nacht des Wahnsinns mit doppelter Schwere auf die arme Mutter herab; sich ihrer Umgebung völlig unbewusst, starrte sie mit trockenen Augen vor sich hin und zog den Mantel fester um ihre Schultern, als ob sie von einem Fieberfrost durchbebt würde.

»Mein Herr«, unterbrach Richard die eingetretene Stille, nachdem er seine Mutter zu einem Stuhl geführt hatte, »Sie scheinen es sich mit bewunderungswürdiger Beharrlichkeit zur Aufgabe zu machen, kein Mittel unversucht zu lassen, mich Ihnen zu verpflichten. Ihr Benehmen, das Sie bis jetzt gegen mich beobachtet haben, ließ mich einen Mann in Ihnen erkennen, dessen biederer Charakter mir Achtung auferlegte; ich suchte und fand keinen andern Grund für Ihre humane Annäherung als eben diesen Charakter; wenn Sie aber den Schmerz meiner armen Mutter, den Sie aus dem kurzen Gespräch, das vorhin stattfand, kennengelernt haben, und den Umstand, der ihr diesen Schmerz bereitet, zur Erreichung Ihres Zweckes verwenden wollen, so erlauben Sie mir die offene Erklärung, dass ich Sie für einen überspannten Abenteurer oder für einen Menschen halte, der beauftragt wurde, wenn er nicht selbst Gründe dazu hat, mich und meine Mutter so abhängig zu machen, dass wir gezwungen sind, uns einem unbekannten Plan zu fügen. Was auch immer Ihre Absicht sein mag, entfernen Sie sich und überlassen Sie uns unserm Schicksal!«

Franz erhob sich und sah dem entrüsteten Bruder schmerzlich lächelnd ins Angesicht.

»Richard«, rief er nach einer Pause, und die Gefühle seines Herzens strahlten aus den feuchten Augen, »du hältst deinen Bruder für einen leichtsinnigen Abenteurer, für einen Verräter? Regt sich denn kein Gefühl, keine Stimme in dir, die die Nähe des brüderlichen Herzens verkündet? Mir sagt es mein ganzes Wesen, dass ich meine Mutter, meinen Bruder wiedergefunden habe; mir sagt es die Freude und der Schmerz, dass ich das Ziel meiner Sehnsucht erreicht habe. Ja, ich bin jenes Kind, das Ihr verloren glaubtet, ich bin der kleine Fritz, den unsere arme Mutter beweint. Noch sehe ich den prächtigen Wagen und die raschen Pferde, die mich von der Hand der Mutter trennten, noch höre ich den Schrei der Unglücklichen, während ich durch das Gedränge von ihr entfernt wurde. Weinend durchirrte ich die mir fremden Straßen, bis ich mit dem Einbruch der Nacht erschöpft vor einem großen Haus niedersank. Da trat plötzlich ein Mann zu mir und führte mich in das große Haus – es war Herr Hubertus, der edelmütigste aller Menschen. Seine Liebe und Sorgfalt lehrten mich, ihn bald als meinen Vater zu betrachten; aber wie viele Tränen habe ich um meine Mutter und meinen Bruder geweint! Was ich von meiner Familie und dem Vorfall mit dem Wagen wusste, teilte ich meinem Wohltäter mit; er stellte Nachforschungen an, aber niemand konnte ihm Auskunft erteilen. Herr Hubertus beunruhigte sich über dieses Geheimnis; er glaubte, dass euer Verschwinden einen politischen Grund habe, und um von meinem Haupt jede mögliche Gefahr abzuwenden, ließ er mich meinen Namen ändern. Ach, Mutter, Bruder, unsere Wiedervereinigung ist ein Wunder der Vorsehung; ich erblicke darin den Beweis, dass alle unsere Leiden nun beendet sind. Abends, wenn ich zur Ruhe ging, hörte ich den leisen Gesang meiner guten Mutter; ich sah sie an meinem Bett sitzen, wie sie sich zu mir herabneigte, ich fühlte ihren Hauch, ihre Küsse: Dann falteten sich die kleinen Hände, die Lippen der Mutter begannen das Abendgebet …«

»Sei der Kinder Schutz und Rater,

Herr in lichten Himmelshöh’n!«, flüsterte in diesem Augenblick die arme Wahnsinnige, die mit zum Gebet verschränkten Händen dasaß und lächelnd vor sich hinblickte wie auf einen geliebten Gegenstand; die Erzählung hatte die Erinnerung an jene Zeit mächtig in ihr angeregt und sie das Abendgebet beginnen lassen.

»Sei, Allmächt’ger, unser Vater,

Lass uns nicht in Leid vergeh’n!«, rief Franz, von seiner Empfindung hingerissen, das Gebet fortsetzend; dann stürzte er wie bewusstlos zu den Füßen der Mutter nieder.

»Mein Kind, mein Kind!«, schrie die Mutter in durchdringenden, grellen Tönen, und die Freude schien die Fesseln des Wahnsinns gesprengt zu haben. »Bete, mein Sohn, bete, dass ich deine Stimme höre – küsse mich, dass ich deinen Hauch fühle und das Feuer deiner Purpurlippen! Siehst du, mein Fritz«, fuhr sie weinend fort, warf ihren Mantel zur Erde und umschlang den Sohn mit beiden Armen, »siehst du, der Herr aller Wesen war dein Schutz und Rater; du bist ein schöner junger Mann geworden, doch mich hat er verlassen, mich hat er für meinen Frevel bestraft und mit Unglück überschüttet. Doch nein, ich muss wohl genug gebüßt haben, denn er hat mir ja meinen Sohn wiedergegeben; ich halte ihn in meinen Armen und bin gewiss, dass er noch lebt und mich nicht verflucht hat. Ja«, fügte sie hinzu und sah mit einem Entzücken, wie es nur eine Mutter bei dem Wiedersehen ihres verloren geglaubten Sohnes empfinden kann, den jungen Mann an, »ja, dies ist das Bild, das mir in meinen Träumen vorschwebte, so stellte ich mir den kleinen Fritz vor, wenn er zum Mann herangewachsen wäre!«

Schweigend hielten sich Mutter und Sohn umschlungen und weinten heiße Tränen der Freude.

Einen schlagenderen Beweis, dass der fremde junge Mann sein Bruder war, konnte Richard nicht fordern. In sich gekehrt und erschüttert von der Szene, die sich vor seinen Augen ereignete, stand er da, ohne ein Wort zu reden. Er wusste nicht, ob er die Wiedervereinigung mit seinem Bruder für ein Glück oder für das verhängnisvolle Spiel des Zufalls halten sollte, dessen Opfer er sich wähnte, denn er empfand in diesem Augenblick zum ersten Mal die furchtbare Qual der Eifersucht. Doch schon im nächsten Augenblick besiegte sein edler Charakter die emporkeimende Leidenschaft; er sah in Franz nur seinen Bruder und Lebensretter, und mit diesem Gefühl trat er auf die Gruppe zu.

»Bruder«, sprach er reuig, »kannst du mir verzeihen, dass ich dich verkannte? Das Unglück hat mich und unsere Mutter so grausam verfolgt, dass ich den Glauben an die Menschen schon seit Langem verloren habe. Verzeihung, mein Bruder, mein Lebensretter!«

»Richard«, rief Franz, indem er sich leise seiner Mutter entwand und dem Bruder die Hand reichte, »hatte ich nicht recht, als ich dir sagte, ich bringe Beweise, die deinen Glauben an die Vorsehung wieder befestigen sollen?«

»O mein Gott«, rief Frau Bertram, und blickte gerührt zum Himmel empor, »ich danke dir; die Vergehen der Mutter hindern die Brüder nicht, sich zu lieben!«

»Mutter«, sprach der Dichter, »was sollte mich abhalten, ihn zu lieben? Ich kannte ihn schon, ehe ich wusste, dass er mein Bruder ist, und wenn ich Ihnen erzählte, welchen Dienst er mir geleistet hat …«

»Still, Richard«, unterbrach ihn Franz eifrig, »lass die Vergangenheit ruhen; sie sei für uns beide vergessen!«

»Braver Sohn!«, sprach Frau Bertram. »Sollte man nicht glauben, du hättest deine Mutter in einem Palast wiedergefunden? Doch sieh dich nur um«, fügte sie schmerzlich hinzu, »du kannst nur Not und Elend mit uns teilen; die Annehmlichkeiten des Lebens sind uns fremd.«

»Und wenn es wahr wäre«, rief der Associé des Herrn Hubertus, indem er freudig beide Hände seiner Mutter ergriff, »wenn ich das größte Elend mit Ihnen teilen müsste, mein Glück über unser Wiederfinden würde nicht einen Augenblick getrübt werden. Aber ich wiederhole Ihnen, alle unsere Leiden sind nun beendet; Kummer und Entbehrung sollen Ihnen in Zukunft fremd bleiben und die Liebe Ihrer Kinder soll Ihnen das Leben verschönen und die Vergangenheit vergessen machen. O meine gute Mutter! Auch eine Tochter werden Sie unter Ihren Kindern haben«, fügte er etwas leiser hinzu, »einen Engel an Schönheit und Herzensgüte, der Ihnen stets zur Seite stehen wird.«

»Eine Tochter, sagst du?«, fragte die Mutter neugierig, und aus ihren Augen strahlte wieder jener unheimliche Glanz, der ankündigte, dass ihr trauriger Geisteszustand zurückgekehrt war. Der großen Aufregung folgte nun auch die Erschlaffung des Körpers; erschöpft blieb sie noch einige Augenblicke stehen, dann sank sie auf ihren Stuhl zurück. Franz bemerkte nichts von dieser Veränderung, denn ihm waren die Symptome einer solchen Krankheit unbekannt; zudem war er auch zu glücklich und zu sehr mit der Zukunft beschäftigt, als dass er an etwas anderes denken konnte.

»Ja, Mutter«, antwortete er, »auch eine Tochter, denn ich habe Sie um Ihren Segen zu meiner nahe bevorstehenden Verbindung mit der liebenswürdigen Tochter meines Wohltäters zu bitten. O mein Gott«, rief er im Übermaß seines Glückes, »der Segen der Mutter wird mich zum Altar begleiten; was ich für unmöglich hielt, lässt der Himmel mir in Erfüllung gehen!«

»Deine Braut ist schön, mein Sohn? Wie heißt sie?

»Anna Hubertus, meine Mutter!«

»Anna!«, wiederholte die Kranke. »Ja, dann muss sie schön sein! Ich kenne auch eine Anna, die ich öfter bei unserm blinden Nachbarn gesehen habe – auch die war schön und gut wie ein Engel. Herr Wilibald pflegte dann zu sagen, wenn wir beide bei ihm waren, dass ihn zwei Engel besuchten: die Hoffnung und die Wohltätigkeit.«

»Mutter«, rief Franz, »noch heute führe ich Ihnen meine Anna zu; ich hoffe, Sie werden mit Ihrer Tochter zufrieden sein!«

»Nein, nein«, fuhr Richard auf, und eine flammende Röte bedeckte sein ganzes Gesicht, »führe sie nicht zu uns! Die Mutter ist krank und unsere Wohnung nicht geeignet, die Tochter eines reichen Kaufmanns zu empfangen.«

»Fürchte nichts, mein Bruder«, antwortete Franz, »Anna ist kein hochmütiges Mädchen; sie hat den edlen Charakter ihres Vaters und weiß, dass ich eine arme Waise bin. Das Glück, meine Familie wiedergefunden zu haben, macht sie zu dem ihrigen, und ich bin überzeugt, dass sie aus vollem Herzen meine Freude teilt.«

»Und dennoch bitte ich dich, führe sie nicht zu uns. Kann dich unsere Armut nicht von deinem Plan abhalten«, fügte er flüsternd hinzu, »so betrachte unsere Mutter: Sieh, die Krankheit erfasst sie wieder, sie redet mit sich selbst – ihr Geist ist dem Körper entrückt, er durcheilt das grenzenlose Reich der Träume.«

Der Anblick seiner Mutter durchschnitt dem jungen Kaufmann das Herz; er betrachtete sie jetzt zum ersten Mal mit prüfender Aufmerksamkeit. Ihr bleiches, ovales Gesicht, fast ausdruckslos, mit den trockenen, tief in ihren Höhlen liegenden Augen, von den wild herabhängenden schwarzen Haaren umgeben, flößten dem, der die arme Frau zum ersten Mal sah, ebenso viel Schreck wie Mitleid ein. Bedenkt man dazu die hagere, von schlechter, zerrissener Kleidung eingehüllte Gestalt, regungslos dasitzend, so hat man das Bild, das sich in diesem Augenblick dem armen Franz zeigte. Und diese unglückliche, beklagenswerte Frau war seine Mutter, das Ziel seiner Wünsche, der Gegenstand seiner Träume.

»O mein Gott«, rief er voller Verzweiflung, »welch ein Bild des Jammers! Geistiges und körperliches Elend, Himmel und Erde haben sich verbunden, meiner Mutter das Leben zu verbittern! Und mir war es nicht vergönnt, ihr schützend und helfend zur Seite zu stehen! Während der Schmerz um den verlorenen Sohn ihr selbst die lichten Augenblicke trübte und sie mit Herzeleid erfüllte, genoss ich die Freuden eines sorgenfreien Lebens, ich, das Kind, das sie beweinte! Meine arme, arme Mutter!«

Erschüttert warf er sich in Richards Arme.

»Richard«, sprach Frau Bertram, ohne emporzublicken, und der Ton ihrer Stimme schien ein anderer geworden zu sein, »Richard, du liebst diese Anna, ich weiß es. O sie ist schön wie der junge Mai, der die Rosen blühen lässt, und gut wie der Engel der Wohltätigkeit! Liebe sie, mein Sohn, doch bleibe ihr treu und verrate sie nicht. Ach, der Verrat ist fürchterlich für eine liebende Braut, er zerstört das Herz und raubt den Seelenfrieden.«

»Mutter, Mutter«, unterbrach Richard die Redende mit Heftigkeit, »was lässt Sie glauben …?«

»Erröte nicht, mein Sohn, du liebst einen würdigen Gegenstand«, fuhr die Kranke fort. »Ich habe die Verse gelesen, die du ihr geweiht hast; sie sind schön und kommen aus dem Herzen. Geh, mein Sohn, und sage deiner Anna, dass ich sie segne! Siehst du, dort steht sie an dem Bett des blinden Greises – sie neigt sich zu ihm und flüstert ihm Hoffnung zu. Das goldene Kreuz auf ihrer Brust senkt sich zu dem Kranken herab, seine zitternden Hände erfassen es – er küsst das heilige Zeichen, dann entschlummert er. Anna weint und verlässt das Zimmer.«

Der Dichter hat sich abgewandt; er kann die forschenden Blicke des erstaunten Bruders, die bald auf ihm, bald auf der Mutter haften, nicht ertragen; Röte und Blässe wechseln auf seinem Gesicht, denn er sieht das unglückseligste Geheimnis seines Lebens verraten.

»Bruder«, flüsterte er bebend, »sie redet im Wahnsinn, glaube ihr nicht; der kranke Geist sieht Dinge verwirklicht, die Eitelkeit und Mutterliebe vielleicht geträumt haben. Siehst du, wie sie starr vor sich hinblickt? Sie weiß nicht, dass wir bei ihr sind; die arme Sinnverwirrte schafft sich eine eigene Welt.«

Franz erbleichte, denn er erinnerte sich, dass Anna ihm diesen Morgen gesagt hatte, sie habe die Witwe Bertram und ihren Sohn an dem Krankenbett eines Greises kennengelernt. Und war sie es nicht selbst, die ihm die Wohnung des Dichters bezeichnet hatte? Sprach die Mutter nicht von dem kranken Nachbarn, bei dem sie Anna in der Ausübung ihrer bekannten Wohltätigkeit gesehen hatte, und trug das junge Mädchen nicht stets ein goldenes Kreuz auf der Brust, das einst die verstorbene Mutter getragen hatte? Einige Augenblicke hatten ausgereicht, durch diese Reflexionen die Gewissheit zu erlangen, dass es seine Anna war, von der die kranke Mutter sagte, Richard liebe sie. Wäre ihm noch ein Zweifel geblieben, so hätte ihn Richards peinliche Verlegenheit verscheucht, denn sein Gesicht glühte wie Feuer; er wagte die Blicke nicht von der Mutter abzuwenden, mit der er sich beschäftigte, da sie leise ihr Haupt hatte sinken lassen und wie ein erschöpftes Kind eingeschlafen war.

»Sie schläft!«, sprach der Dichter nach einer Pause, indem er seinen Arm unter ihren Kopf legte, damit er die harte Lehne des Holzstuhles nicht berührte.

Franz stand regungslos in der Mitte des Zimmers; ein Sturm von Gedanken durchwogte seinen Kopf, der wie in Fieberhitze brannte.

»Bruder«, unterbrach Richard nach einigen Augenblicken das Schweigen, »öffne die Tür des Schlafgemachs, damit ich unsere Mutter auf ihr Lager bringe, denn ihr Schlaf ist anhaltend und fest.«

Mechanisch sah sich der Angeredete in dem Stübchen um. Dann ging er leise zu einer kleinen Tür, die sich ihm in der schwarzen, ihrer Bekleidung durch das Alter beraubten Wand zeigte, und öffnete. Entsetzt wich er zurück, als er den Ort erblickte, den Richard mit dem Wort Schlafgemach bezeichnet hatte, denn es war nur ein kleiner halbdunkler Raum, der durch ein enges Dachfenster so viel Licht erhielt, dass Franz einen alten Strohsack und einige zerlumpte Kissen wahrnehmen konnte, die in einem Winkel am Boden lagen. Diese Armut hatte sich der junge Mann nicht gedacht, er hatte sie nicht einmal für möglich gehalten.

Noch ehe er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, hob Richard mit beiden Armen die schlafende Mutter empor, trug sie in die Dachkammer und legte sie auf das elende Lager nieder. Nachdem er eine alte Decke über sie gebreitet hatte, trat er in das Zimmer zurück und schloss die Tür wieder. Franz, von Schmerz überwältigt, war zu Boden gesunken und rang weinend die Hände.

»Richard«, rief Franz, indem er sich erhob, »noch heute musst du mit unserer Mutter diese Wohnung verlassen! Furchtbar, furchtbar! Ist dies ein Aufenthalt für Menschen? Ein Gefängnis, ein Grab ist es!«

»Und dennoch gönnen uns die Menschen dieses Grab nicht«, antwortete der Dichter bitter. »In vierzehn Tagen lässt uns der Besitzer dieses Grabes auf die Straße werfen, wenn wir den schuldigen Mietzins nicht zahlen; die Ankündigung dieser gesetzlichen Expedition ist bereits erfolgt. Begreifst du nun, warum ich mir ein Grab in den Wellen suchte? Es ist das Einzige, das man nicht mit Geld zu erkaufen braucht.«

»O meine arme, unglückliche Mutter!«

»Und dennoch glaube ich kaum, dass sie zu bewegen sein wird, diese Wohnung zu verlassen.«

»Warum?«, fragte der Kaufmann erstaunt.

»Weil sie sich von ihrem kranken Nachbarn nicht trennen will. Sie ist dem armen blinden Greis mit einer solchen Freundschaft zugetan, dass sie ihr eigenes Elend vergisst und nur auf seine Pflege bedacht ist.«

»O mein Gott! So muss ein Mittel gefunden werden, sie dazu zu bewegen. Doch was ist mit dir, Richard?«, fragte Franz, indem er die Hand des Bruders ergriff und ihm bittend ins Auge sah.

»Sorge für die Mutter«, sprach der Dichter rasch; »weiß ich sie in sicherer Obhut, finde ich meinen Weg durch das Leben. Mich lass ziehen; es drängt mich fort aus einem Land, wo selbst den Gedanken eine Grenze gezogen wird, wie dem Boden, auf dem wir stehen. Geh, sorge für die Mutter!«

»Richard, du willst deine Mutter und deinen Bruder verlassen? Den Grund, den du mir angegeben hast, kann ich nicht gelten lassen; dich treibt ein anderer. Habe Zutrauen, teile dich mir mit, rede offen wie ein Bruder zu dem Bruder. Oder glaubst du, dass der Kaufmann, der unter seinen Registern aufgewachsen ist, dem Dichter an Großmut und Entsagung nachsteht? O nein, der trockene Geschäftsgang verdirbt weder Herz noch Gemüt, wenn er auch die Bildung des Geistes nicht fördert. Wohlan, willst du nicht offen sein, so will ich es; ich kann nicht von dir scheiden, bevor jedes Geheimnis verbannt ist. Du liebst Anna Hubertus, die Tochter meines Wohltäters!«

»Bruder!«, rief Richard und sank Franz an die Brust, um sein Gesicht zu verbergen, denn mehr als je tobte die Leidenschaft in seiner Brust, seit die Jungfrau für ihn verloren schien – er konnte sie nicht mehr verbergen.

»Nicht wahr«, fuhr Franz fort, die heiße Stirn seines Bruders küssend, »ich habe recht? – Jetzt schütte dein Herz aus, damit Klarheit herrscht zwischen uns; richtige Rechnung erhält die Freundschaft!«

Die letzten Worte hatte der junge Mann in einem Ton gesprochen, der alle Fesseln zersprengte, mit der die Macht der ersten Liebe die Zunge des Dichters band. Er wusste selbst nicht, ob er der Pflicht, dem Bruder Vertrauen zu schenken, oder seinem eigenen Drang, sich mitzuteilen, folgte – kurz, er entwand sich den ihn umschlingenden Armen und rief mit glühenden Augen:

»Ja, Franz, unsere Mutter hat die Wahrheit gesagt! Ja, ich liebe jenes junge Mädchen, das wie ein Cherub in der Hütte der Armut erschien und die Leiden des Kranken wie das wohltätige Licht der Sonne liebreich milderte. Ein Blick genügte, um das Bild der herrlichen Jungfrau tief meinem Herzen einzuprägen; wo ich ging und stand, sah ich nur sie; meine Gedanken, im Traum und im Wachen, bewegten sich um diesen lichten Punkt wie das Heer der Sterne um die gewaltige Sonne: Anna gab mir Trost in meinen Leiden und begeisterte mich zu meinen Arbeiten. Und diese Liebe war so rein, so hoffnungslos, dass ich nicht einmal nach ihrem Namen fragte; ich liebte sie wie meine poetischen Gebilde, ich liebte sie als den Inbegriff von Tugend und Schönheit. Das Schicksal führte mich in das Haus ihres Vaters; dort erblickte ich sie diesen Morgen im Garten und erfuhr ihren Namen und ihr Verhältnis zu dir. Ich entfloh, denn ich konnte die Wohltaten eines Mannes nicht annehmen, dessen verlobte Braut eine glühende Leidenschaft in mir entzündet hat; ich konnte es nicht, wenn ich nicht der erbärmlichste aller Menschen sein wollte! Jetzt, Bruder, weißt du alles; nun urteile selbst, ob ich dir folgen kann.«

Der Dichter hatte seine Liebe mit einer Glut geschildert, dass dem armen Franz über das Verderbliche dieser Leidenschaft kein Zweifel übrig blieb. Einer von ihnen musste ihr als Opfer fallen, diese Überzeugung stand klar vor seiner Seele.

»O mein Gott«, seufzte er unwillkürlich, »wie unglücklich bin ich!«

»Warum unglücklich«, fragte Richard mit dem bitteren Lächeln der Resignation; »bist du es nicht, den sie liebt? Wirst du Anna nicht zum Altar führen? Geh«, setzte er mit zitternder Stimme hinzu, denn er hatte Mühe, den Ausbruch seiner Tränen zu verhindern, »geh, du würdest unrecht tun, auf einen armen Narren wie mich eifersüchtig zu sein! Anna kennt mich kaum, und ich … ich weiß, was ich zu tun habe.«

»Und was?«, fuhr Franz aus seinem Nachsinnen empor. »Was gedenkst du zu tun?«

»Mein Entschluss steht fest«, antwortete der Dichter, »das Schicksal hat ihn bestimmt. War ich nicht der Stein des Anstoßes, der meiner armen Mutter die Tür des Hospitals verschloss? Ich wollte dieses Hindernis beseitigen, doch du vereiteltest meinen Plan. Glaubst du, du sollst dein Leben zu meiner Rettung gewagt haben, um dein Glück zu zerstören? O nein, noch habe ich die Kraft, das Glück meines Bruders zu fördern!«

»Mensch, woran denkst du?«, rief der junge Kaufmann erschrocken.

»Ich denke an meine Pflicht!«

»Gebietet die Pflicht, dir das Leben zu nehmen?«

»Die Pflicht gebietet mir, Europa zu verlassen und mir in einer andern Welt andere Verhältnisse zu schaffen.«

»Um dort unter andern Verhältnissen zu sterben?«

»Nein, um mich dort zu heilen!«

»Bruder, du bleibst!«

»Ich reise!«, war die feste Antwort.

»Und unsere Mutter?«

»Wird von der Hand ihres zweiten Sohnes behütet, den sie so lange beweinte.«

»Egoist«, rief Franz, gerührt von der Großmut seines Bruders, »glaubst du, ich sollte meinen einzigen Bruder wiedergefunden haben, um ihn am selben Tag wieder zu verlieren? – Willst du dich heilen, indem du andere verwundest? Nein, du bleibst hier und lebst nach Gefallen der Dichtkunst und den Wissenschaften, und dass dein Talent sich eine glänzende Bahn brechen wird, davon glaube ich überzeugt sein zu können.«

»Kennst du mein Talent?«, fragte Richard.

»Ich kenne das Gedicht, das Anna ihrem Vater zu seinem Geburtstag überreichte.«

Der Dichter errötete.

»Du bist der Verfasser, ich weiß es!«

»Wer sagte es dir?«

»Mein Herz und mein Verstand.«

»Bruder«, rief Richard, »lass mich ziehen!«

»Die Poesie ist das einzige Mittel, deinen Geist zu fesseln und deine Liebe nach und nach zu schwächen; darum bleibe in Europa, wo man Kunst und Wissenschaft zu schätzen weiß. Ach, ich bin glücklich, eine offene Erklärung von dir erlangt zu haben, denn ohne sie wäre es nicht möglich gewesen, dich mir zu erhalten.«

»Franz!«

»Doch nun höre auch meine Erklärung: Ehe du nicht mit freier, offener Stirn vor mich trittst und mit einem ruhigen Blick und fester Stimme sprichst: ›Bruder, du kannst Anna zum Altar führen, ich empfinde nur noch Freundschaft für sie!‹ – eher denke ich an keine Verbindung mit ihr. Bis dahin bleibe ich unverheiratet!«

»Nein, nein«, rief Richard tief bewegt, »ich kann nicht einwilligen!«

»Glaubst du, dass deine Heilung hier unmöglich ist?«

»Das Opfer ist zu groß!«

»Bringt es nicht ein jeder von uns?«

»Franz, du tötest mich!«

»Richard, solltest du weniger Bruderliebe im Herzen tragen als ich?«

»Du wirst leiden!«

»Wie du!«

»Du könntest unterliegen!«

»Wie du!«

»Wir sind beide schwache Menschen!«

»Aber Brüder! Richard, ich werde leiden, aber Wort halten! Und du?«

»Franz, ich werde bleiben und meinen Bruder lieben!«

Beide stürzten sich in die Arme und hielten sich fest umschlungen. Die Bruderliebe hatte gesiegt.

Ein Klopfen an der Tür ließ sich vernehmen.

Richard öffnete.

»Ist Herr Franz Witt hier?«, fragte eine Stimme.

»Er ist hier!«, antwortete Franz und trat zur Tür.

»Du bist es, Joseph«, fuhr er fort, »was bringst du?«

»Einen Brief von Herrn Kaleb.«

»Gib!«

Der junge Mann öffnete das Billett und las:

»Kehren Sie ohne Zögern zurück, mein bester Herr Franz, ein wichtiges Ereignis erfordert Ihre Gegenwart. Was Sie auch abhalten möge, säumen Sie nicht. Kaleb«

»Mein Gott, was ist geschehen?«, fragte Franz den Boten bestürzt.

»Ich weiß es nicht«, war die Antwort. »Herr Kaleb gab mir den Brief, bezeichnete mir dieses Haus, wo ich Sie finden würde, und befahl mir die größte Eile an.«

»Richard, ein Geschäft ruft mich ab. Sorge für die Mutter«, er legte eine Börse auf den Tisch, »ich kehre zurück, sobald ich kann. Bis dahin lebe wohl und gedenke deines Versprechens!«

Die Brüder reichten einander die Hände.

Franz, gefolgt von dem Boten, verließ das Haus.

Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe)

Подняться наверх