Читать книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader - Страница 11
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Während der greise Wilibald in seinem Dachstübchen arbeitete, während Frau Bertram durch Richards Pflege nach und nach genas und während Anna ihre menschenfreundlichen Besuche, aber stets nur in Begleitung einer anderen Dame des Vereins, fortsetzte, traten in den übrigen Ländern Europas jene großen Ereignisse ein, die das Jahr 1848 zu einem der denkwürdigsten der Geschichte erheben.
Im Haus des Herrn Hubertus war der Geschäftsgang nicht unterbrochen worden; Franz und Kaleb, denen immer noch die Leitung des Geschäfts allein oblag, da der Fabrikherr nur langsam genas, setzten ihre Arbeit mit Umsicht und Ausdauer kraftvoll fort und vermieden sorgfältig, dass der kranke Chef betrübende Nachrichten in Erfahrung brachte. Sooft ein neuer Bericht von der Erhebung der Völker einlief, hatte Franz die Ausbrüche von Kalebs Zorn zu erdulden; der junge Mann aber, der sich bei allen politischen Sachen stets indifferent verhielt, obgleich er als Kaufmann im Grunde seiner Seele nichts weniger als demokratisch gesinnt war, suchte stets den aufgebrachten Alten durch die Hoffnung auf den Sieg der Regierungen zu besänftigen, und so kam es, dass ein politischer Meinungsstreit unter den beiden Männern nie entstehen konnte. Wie hätte Franz auch Zeit haben können, sich um Politik zu kümmern; seine Bücher und vor allen Dingen seine Liebe nahmen Geist und Herz vollkommen in Anspruch; ihm war es gleichviel, ob der Mann, der ihm den Schutz der Gesetze gegen Eingriffe in seine Rechte garantierte, eine Krone oder eine Bürgermütze auf dem Haupt trug; er wollte die Sache, aber nicht die Form.
Anna, in deren Herzen die Liebe für den jungen Dichter immer mehr Wurzel fasste, sah den ihr bestimmten Bräutigam täglich nur einmal, und zwar bei Tisch. Da sich das Gespräch größtenteils nur um Geschäftsangelegenheiten drehte und das junge Mädchen – wie wohl erklärlich ist – jede Berührung ihrer Herzensangelegenheit sorgfältig vermied, so hatte Franz selten Zeit, ein vertrautes Wort mit seiner Braut zu wechseln, und fügte es der Zufall, geschah es vonseiten des jungen Mädchens mit einer Vorsicht und Delikatesse, dass der arme Kommis von einem Nebenbuhler keine Ahnung bekam. So viel war Anna indes klar geworden, dass Franz nicht der Mann ihres Herzens war, und wenn sie sich auch die Liebe zu Richard, den sie nur einige Male flüchtig wiedergesehen hatte – das Gedicht hatte die Magd von Wilibald abgeholt –, nicht zu gestehen wagte, so drängte sich ihr doch immer unwillkürlich ein Vergleich zwischen den beiden jungen Männern auf, aus dem Richard stets als Sieger hervorging.
Mit Richard stand es anders als mit Franz. Während der Kommis ruhig in seinem Kontor saß, beteiligte sich der Dichter mit Geist und Körper an den Freiheitsbestrebungen des Volkes. – Manches feurige Gedicht entfloss seiner Feder, das gedruckt und veröffentlicht wurde, und als der Aufruf zu allgemeiner Volksbewaffnung erging, säumte er nicht, sich in die Scharen der akademischen Legion einreihen zu lassen. Mit Waffen und Uniform wurde er von der Kasse der Legion versehen. Aber noch immer bot sich ihm keine Erwerbsquelle dar, um für sich und seine Mutter die nötigen Subsistenzmittel aufzubringen; er musste notgedrungen von seinem alten Nachbarn annehmen, was dieser ihm durch die Wohltätigkeit Annas zu bieten vermochte. Obgleich mit einem drückenden Gefühl, ließ er dennoch die Angabe des wackeren Greises gelten, eine befreundete Buchhandlung beschäftige ihn mit Arbeit, und er zweifelte umso weniger daran, als er ihn einige Male am Arbeitstisch überrascht hatte.
Dass in ihrem Leben eine Veränderung eingetreten war, fühlte Anna; sie wagte aber nicht, sich deren Grund einzugestehen, obgleich sie ihn wusste. War es nun die Liebe zu dem Vater, dessen Plan sie nicht zerstören wollte, oder war es die Züchtigkeit der ersten Liebe, die sich ihres Herzens bemächtigt hatte – Anna suchte stets ihre Gedanken auf einen anderen Gegenstand zu richten, sobald der junge Dichter in ihrer Erinnerung auftauchte. Und dies geschah nicht selten, sodass das arme Mädchen oft die ganze Kraft der Selbstüberwindung anwenden musste, um das rebellische Herz zur Pflicht zurückzurufen. Der stete Kampf mit sich selbst raubte unserer Anna alle Fröhlichkeit des Gemüts; am liebsten war sie in ihrem Zimmer allein, wo sie sich durch Musik und Lesen ihrer Lieblingsschriftsteller zu zerstreuen suchte. Aus Herrn Hubertus’ Haus war aller Frohsinn gewichen; der Hausherr hatte noch immer mit den Folgen seiner Krankheit zu kämpfen, Anna mit ihrem Herzen, Franz mit den sich täglich mehrenden Geschäftssorgen und Kaleb mit seinem Unmut und Ärger über den Gang der politischen Ereignisse, die jede Geschäftsordnung auflösten.
Als Herr Hubertus sah, dass sein Gesundheitszustand ihn noch lange Zeit von den Geschäften fernhalten würde, erhob er den Buchhalter Franz zu seinem Associé; er glaubte diesen Schritt nicht allein dem wackeren jungen Mann selbst, sondern auch dem Gedeihen und Fortbestehen seines Geschäftes schuldig zu sein, da er das Missliche desselben ahnte, obgleich er keine Einsicht in die Bücher genommen hatte. Kaleb war außer sich vor Freude und gratulierte seinem neuen Herrn vom Grunde seines Herzens. Anna aber, die in dieser Veränderung ihre Freiheit bedroht sah, stattete mit beklommenem Herzen ihren Glückwunsch ab; sie hatte Mühe, das, was in ihr vorging, zu verbergen.
»O mein Gott«, rief sie, als sie allein war, »Franz ist mir lieb und teuer, ich begrüße ihn freudig als den Geschäftsfreund meines guten Vaters, aber ihn als Gatten lieben, ihm mit der Übergabe des Geschäfts auch meine Hand übergeben – nein, nein, ich kann es nicht! Und doch muss ich, denn ich würde das Lebensglück meines Vaters zerstören, wenn ich seinen Plan zerstörte. Ach Mutter, wenn du doch noch bei mir wärst, ich könnte dir mein Herz erschließen und mir deinen Trost, deinen Rat erbitten!«
Weinend sank sie auf einen Sessel nieder und betete leise zu der Dahingeschiedenen. Da gedachte sie des Traumes jener Nacht, die dem Geburtstag des Vaters voranging: Richard, sie zärtlich anblickend, und die Mutter, ihre Hände segnend ausbreitend, standen vor ihr; sie wähnte sich wieder in dem duftenden Garten – kurz, sie fühlte sich glücklich, indem sie dem Spiel ihrer Fantasie folgte. Doch plötzlich erwachte das Pflichtgefühl der Tochter wieder, laut mahnend erhob es seine Stimme und zertrümmerte den geträumten Himmel.
»Nein«, rief Anna, »meine Kindespflicht bleibt mir heilig; ich unterwerfe mich dem Beschluss des Vaters. Der arme Wilibald wird mir nicht zürnen, wenn ich aus der Ferne für ihn sorge; ich betrete jenes Haus nie wieder!«
Eine brennende Röte überzog plötzlich das Gesicht des jungen Mädchens, als sie diese Worte sprach, denn zum ersten Mal hatte sie sich eingestanden, dass Richard ihrem Herzen gefährlich war – wollte sie doch die Möglichkeit seines Anblicks meiden, um der Gefahr zu entgehen.
Anna hielt Wort; am nächsten Tag, der zum Besuch des Greises bestimmt war, sandte sie durch die Magd, die die strengste Verschwiegenheit geloben musste, ein Briefchen dahin ab und fügte diesem die wöchentliche Unterstützungssumme bei. Durch eine leichte Krankheit entschuldigte sie ihr Ausbleiben. Der Brief war nur mit »Anna« unterzeichnet und die Magd hatte den gemessensten Befehl erhalten, so viel sie auch befragt werden sollte, weitere Auskunft nicht zu erteilen. Aber ungeachtet dieser Vorsichtsmaßnahmen sollte die arme Anna dennoch ihre Ruhe nicht bewahren; der Zufall, wenn wir es dem Schicksal nicht aufbürden wollen, vereitelte ihr großmütiges Bemühen und raubte dem bedrängten Herzen das letzte Fünkchen Frieden, das es noch enthielt. Von einer Freundin zurückkehrend, begegnete Anna dem jungen Dichter auf der Straße. Er trug die Uniform der akademischen Legion, seine Büchse auf der Schulter und den Hirschfänger an der Seite. Beide erkannten sich auf den ersten Blick. Richard, seiner Sinne kaum noch mächtig, grüßte mit militärischem Anstand und Anna dankte, als ob sie eine hohe Person mit einem Gruß beehrt hätte. So kurz dieser Augenblick des Wiedersehens auch gewesen war, hatte er dennoch über das Herz des jungen Mädchens entschieden; der schöne Soldat, der für die Rechte des Volkes sein Leben opfern wollte, beherrschte es bis in seine tiefsten Falten, Franz war völlig daraus vertrieben. So verging der Sommer, das Laub der Bäume wurde gelb und bedeckte die Gänge im Garten des Herrn Hubertus, den Anna nur noch selten betrat. Mit dem Beginn der rauen Jahreszeit verdüsterte sich auch der politische Horizont von Neuem, und es ballten sich die Wolken zusammen, aus deren Schoß jener furchtbare Schlag fiel, der verhängnisvoll für ganz Europa wurde. Obgleich Franz sich von allem politischen Treiben fernhielt, so lehrte ihn der stetige Rückgang der Geschäfte dennoch den Stand der Dinge kennen; die kleinen disponiblen Summen hatte der Sommer verschlungen und immer noch brachte der Herbst nicht, was der Erhalt der Fabrik erforderte; ihm blieb für den Monat Oktober nichts als der Rest des Kapitals, das Herr Hubertus dem Bankhaus W. anvertraut hatte. Unter diesen Umständen konnte der junge Mann an eine Verbindung mit Anna nicht denken, und selbst Herr Hubertus vermied es, diese Angelegenheit zu berühren, da er die nächste Zukunft ahnte.
Aber auch in die Dachwohnung des alten Wilibald hatte ein neues Unglück seinen Einzug gehalten; der Greis sollte das Elend des Lebens nicht mehr sehen – er war völlig erblindet. Mit frommer Ergebung trug er zwar das furchtbare Schicksal, das ihn betroffen hatte, die Heiterkeit seines Geistes schien aber entschwunden zu sein und mit ihr die letzte Kraft, die das Alter dem Körper noch gelassen hatte. Dieser Umstand vergrößerte die Sorgen des armen Richard um das Doppelte, denn der Greis musste wie ein Kind geführt und gepflegt werden, da mit jedem Tag auch seine Kräfte schwanden. Um das Maß des Unglücks vollzumachen, vergrößerte sich auch die Geisteskrankheit der Frau Bertram, und wenn sie auch einen ruhigen Charakter zeigte, so durfte sie Richard doch nur selten allein lassen, da der blinde Nachbar sie nicht mehr überwachen konnte. Der junge Mann war an sein Zimmer und an das Krankenbett des Greises gefesselt; die Händel der Welt blieben ihm seit dieser Zeit fremd und, wie die Folge zeigen wird, zu seinem Besten.
Es war an einem kalten Septembermorgen, als ein Mann in gewöhnlicher bürgerlicher Kleidung in das Zimmer des blinden Greises trat. Richard befand sich bei seiner Mutter und hatte von diesem Besuch nichts bemerkt. Der Kranke saß aufrecht in seinem Bett und schien den Gruß des leise Eintretenden als den eines Bekannten zu erwidern.
»Kann man uns hören?«, fragte der Fremde mit halber Stimme.
»Nein«, antwortete der Kranke, »in diesem Augenblick sind wir ungestört; mein junger Nachbar hat mich soeben verlassen und wird wohl auch in der nächsten Viertelstunde nicht zurückkehren.«
Der Mann zog eine Broschüre aus seiner Brusttasche und reichte sie dem Kranken mit den Worten:
»Der Druck Ihres Werkes ist vollendet – hier ist es. In Tausenden von Exemplaren ist es bereits in die Provinzen gesandt und wird, wie wir hoffen, seinen Zweck nicht verfehlen.«
»Auch ich hege diese Hoffnung«, flüsterte Wilibald, »denn die Vorsehung scheint mein Unternehmen zu begünstigen, da sie mir bis zu dessen Vollendung das Licht meiner Augen gelassen hat. Nun will ich gerne sterben, da die Welt meine Geheimnisse kennt; ich nehme nichts mit ins Grab als meinen Überdruss des Lebens und den Hass gegen den Mann, der unter dem Schein der Volksbeglückung mein ganzes Glück zerstörte. Möge das kommende Geschlecht genießen, was wir unter Blut und Elend gesät haben!«
»Ihr Werk ist gediegen und umfassend, es wird seine Früchte tragen«, antwortete der Fremde; »doch was bekommen Sie für Ihre Arbeit? Unser Verein lässt Sie noch einmal bitten, das Honorar zu bestimmen, und ich dächte …«
»Mein Freund«, sprach der Greis schmerzlich lächelnd, »dass meine Gedanken, die vierundzwanzig Jahre im Gefängnis mit mir begraben lagen, sich frei in das Volk ergießen und endlich das Ziel erreicht haben, das ich erstrebte, das ist mein schönster Lohn, ich begehre keinen andern!«
»Aber Ihre Lage, Ihre Krankheit …«
»Sorgen Sie sich nicht«, fuhr Wilibald fort, »ich bedarf nur wenig, und dies wenige wird mir als ein Almosen zugesendet. Ich fürchte nicht, dass der Geber ermüdet, denn wie lange noch werde ich seiner Menschenfreundlichkeit bedürfen? Sie wundern sich – ja, ja, ich besitze noch Stolz! Werke, wie diese«, rief er aus, indem er das Buch emporhielt, »kann nur das Bewusstsein, sie gefertigt zu haben, belohnen! – Wer ist der Präsident Ihres Vereins?«, fragte der Kranke nach einer Pause.
»Ich darf ihn Ihnen nennen«, war die Antwort, »denn wir betrachten Sie als unser Mitglied, obgleich wir bis jetzt Gründe hatten, unsere Tätigkeit nur heimlich auszuüben. Der Präsident ist der General von B.«
»Wie, der General von B.?«
»Kein anderer – er ist ein aufrichtiger Volksfreund!«
»Warum aber«, fragte der Greis bedenklich, »tritt er mit seinen Gesinnungen nicht offen ans Licht hervor?«
»Dieser Augenblick wird durch Ihr Werk vorbereitet«, entgegnete der Fremde, »und glauben Sie mir, er ist nicht mehr fern.«
»Gott gebe es!«, sprach Wilibald.
»Ich verlasse Sie«, fuhr der Fremde fort, indem er die abgemagerte Hand des Kranken ergriff, »um Sie nicht länger durch meine Unterhaltung anzustrengen; doch erlauben Sie mir, Ihnen diesen Ring zu hinterlassen. Sollten Sie in irgendeiner Beziehung der Hilfe des Generals bedürfen, so senden Sie ihm dieses Zeichen und Sie können der Erfüllung Ihrer Wünsche gewiss sein.«
»Ich nehme den Ring«, antwortete der Greis, »doch nicht, um mich seiner zu dem angegebenen Zweck zu bedienen, sondern als Andenken an den Mann, mit dessen Hilfe ich mein Büchlein der Welt übergeben habe. Aber eine Bitte könnten Sie mir noch erfüllen!«
»Reden Sie!«, rief der Unbekannte rasch.
»Legen Sie den Ring und das Buch in den Kasten jenes Tisches; dann verschließen Sie ihn und reichen mir den Schlüssel.«
Der Mann erfüllte den Wunsch des blinden Greises.
»Ich danke Ihnen, mein Herr«, sprach dieser, indem er den Schlüssel empfing und ihn unter dem Kopfkissen seines Bettes verbarg. Ich möchte meinen jungen Nachbarn, der mich pflegt, nicht gern zum Mitwisser eines Geheimnisses machen, das im ungünstigen Fall – den wir doch fürchten müssen – Unglück über alle Beteiligten bringen kann. Weiß außer Ihnen noch jemand, dass ich der Verfasser des Buches bin?«
»Nur der Genosse Ihrer Gefangenschaft, dem der General die Mitteilung Ihres Manuskriptes verdankt. Für seine Verschwiegenheit glaube ich mich verbürgen zu können.«
»Ich zweifle nicht einen Augenblick daran, denn ich kenne ihn.«
»Leben Sie wohl, Herr Wilibald, und bald schon, so hoffe ich, werde ich Sie in einem freien Land begrüßen!«
»In dem Land der ewigen Freiheit!«, murmelte der Greis, indem er erschöpft in sein Bett zurücksank.
Der fremde Mann hatte das Dachstübchen verlassen und schloss leise die Tür hinter sich. Nach einigen Minuten war der kranke Wilibald eingeschlummert.
Um dieselbe Zeit wurde in Richards Zimmer ein Brief abgegeben. Während der junge Mann ihn öffnete und las, trat seine Mutter aus dem Schlafgemach. Eine ungewöhnliche Heiterkeit sprach sich in dem Gesicht der armen Frau aus, aber eine Heiterkeit, die nicht aus dem Herzen kam, sondern durch eine fixe Idee des kranken Geistes erzeugt wurde.
»Guten Morgen, Richard«, sprach sie freundlich und reichte dem über den Inhalt des Briefes Bestürzten die Hand. »Was enthält dieser Brief?«, fragte sie nach einer Pause.
Er enthält für die Witwe Bertram und ihren Sohn die Weisung, die Dachwohnung zu räumen, da seit sechs Monaten kein Mietzins bezahlt sei.«
»Wie«, rief die Mutter und schlug ein schallendes Gelächter an, dass dem Sohn das Herz erbebte, »wie, man will uns aus dieser Wohnung vertreiben? Und warum? Das Zimmer gefällt mir, die Aussicht ist schön – ich möchte den sehen, der mich aus meinem Zimmer vertreiben wollte!«
»O mein Gott«, murmelte Richard, indem er voll Ingrimm den Brief zerdrückte, »welcher Nachteil kann dem reichen Hausbesitzer, der im Überfluss schwelgt, daraus erwachsen, dass er von uns armen Menschen die elende Summe noch nicht erhalten hat? Ein Paar Flaschen Champagner weniger, der Verlust wäre ausgeglichen und wir armen Menschen hätten ein Obdach! Meine arme, arme Mutter!«
»Richard«, sprach Frau Bertram plötzlich, »und wenn wir nun diese Wohnung verließen, wer würde für den blinden Greis sorgen? Schreibe noch in diesem Augenblick dem Besitzer dieses Hauses, dass wir auf keinen Fall ausziehen werden. Hörst du? Auf keinen Fall!«
»Beruhigen Sie sich, liebe Mutter, wir haben noch vier Wochen Zeit; bis dahin werde ich diese Angelegenheit hoffentlich geordnet haben; wir bleiben in unserer Wohnung. Ich arbeite an einem Werk, über das ich bereits mit einem Verleger verhandelt habe; mir steht ein gutes Honorar in Aussicht; gönnen Sie mir nur Muße, dass ich arbeiten kann.«
Schweigend küsste Frau Bertram ihren Sohn auf die Stirn, dann ging sie in das kleine Schlafgemach zurück. Richard setzte sich an den Tisch und ergriff die Feder. Doch schon nach einigen Minuten erschien die arme Frau wieder mit leuchtenden Augen und rief:
»Was arbeitest du, Richard? Ein Gedicht oder eine Tragödie? Ich wollte, du schriebest eine Oper! Ach, wie schön ist eine Oper«, fuhr sie fort, und die seltsam glänzenden Augen verrieten die Erinnerung, die in ihr aufstieg, »ach, wie schön! Tausend Kerzen brennen in dem prachtvollen Saal, schöne Frauen, mit glänzenden Diamanten geschmückt, schwingen ihre bunten Fächer, elegante Herren setzen ihre goldenen Gläser ans Auge und blicken durch den blendenden Raum – jetzt hebt sich der Vorhang, eine köstliche Musik durchdringt die Seele, liebliche Gesänge erschallen und reizende Tänze vollenden den Rausch der Sinne. Da flüstert eine Stimme in das trunkene Ohr: ›Das ist die Welt, für die du geboren bist, das ist der Kreis, dem du angehören sollst! Warum willst du deine Jugend unter den Launen eines tyrannischen Mannes verseufzen? Du kannst die Palme der Schönheit erringen, kannst glücklich sein und die Freuden des Lebens genießen; sprich ein Wort, und deine Leiden sind zu Ende!‹ – Nein, nein«, schrie die arme Wahnsinnige plötzlich in grellen Tönen, »nein, reißt mich fort aus diesem Saal, löscht die Lichter aus, dass niemand meine Schande sieht! Richard, Richard, führe mich weit, weit weg von hier!«
»Mutter, Mutter«, rief der junge Mann unter Tränen, indem er die Kranke auf einen Stuhl niederließ, »beruhigen Sie sich, ich schreibe keine Oper. Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«
»Du schreibst keine Oper?«, fuhr Richards Mutter mit einem wahnwitzigen Lächeln empor, »umso besser! Schreibe ein Trauerspiel, hörst du, ein Trauerspiel – ich werde dir den Stoff dazu erzählen.«
»Mutter!«
»Höre mich an: Eine junge Frau, ein unglückliches Geschöpf … war ihres Verstandes beraubt … durch die nichtswürdigsten Mittel … durch List, Versprechungen, Betrug! Die Verblendete glaubte dem elenden Lügner, ihr schwaches Herz wurde besiegt und erlag. Da tritt plötzlich ein Mann ins Zimmer … und wer ist dieser Mann? … der Gatte des schändlichen Weibes, der Gatte, der den Nebenbuhler bei seiner entehrten Frau erblickt! … Die Degen blitzen, Schlag fällt auf Schlag … haltet ein, zu Hilfe! Ermordet mich, ich bin die Schuldige! … Es ist zu spät; die Vorsehung zieht ihre Hand von dem Unschuldigen zurück und schirmt den Schuldigen … er sinkt und mit dem strömenden Blut entflieht sein Leben!«
»O mein Gott, immer noch dieses verhängnisvolle Bild!«, schluchzte Richard, dem vor Schmerz das Herz zerspringen wollte. »Hat die Arme noch nicht genug gebüßt? Mutter, Mutter!«
Mit starren Augen und bleich wie der Tod blickte die unglückliche Mutter zu Boden; ein konvulsivisches Zittern durchbebte ihren ganzen Körper und leise, als ob sie einen Verwundeten erblickte, auf dessen letzten Seufzer sie aufmerksam lauschte, rief sie:
»Still, er öffnet noch einmal sein sterbendes Auge … er redet … hörst du … das ist mein Urteil … das Urteil der Mörderin!«
»Mutter, denken Sie nicht mehr daran, vergessen Sie diese verhängnisvolle Begebenheit!«
»Wie, ich soll den Fluch vergessen, der mich hier auf der Erde unglücklich gemacht hat und mich auch noch über das Grab hinaus verfolgen wird? Rede nicht davon, mein Sohn, dieser Fluch kennt keine Grenzen, er ist ewig wie die rächende Gottheit! Sieh, du bist mein Sohn, auch dich hat er getroffen – du bist unschuldig, aber unglücklich wie ich, die Schuldige!«
»Machen Sie mich glücklich, meine Mutter, und nennen Sie mir den Namen jenes Mannes, der meinen Vater ermordet und, indem er Sie verließ, seiner Nichtswürdigkeit die Krone aufgesetzt hat. Nennen Sie mir den Namen«, fuhr der junge Mann wutknirschend fort, »dass das Leben ein Interesse für mich hat! Den Namen dieses Nichtswürdigen; ich räche meinen Vater und Sie! Den Namen, Mutter, den Namen!«
»Den Namen?«, sprach Frau Bertram, indem sie die Hand an die Stirn legte, als ob sie sich besinnen wollte. »Den Namen … warte einen Augenblick, ich weiß ihn … dort steht er mit schwarzen Buchstaben … der Mörder deines Vaters heißt Ferdinand von B.!«
Richard fuhr bei Nennung dieses Namens erschrocken zurück, denn er gehörte einer adeligen Familie an, die im ganzen Land geachtet und geschätzt wurde und bei Hofe in großem Ansehen stand.
»Ferdinand von B.?«, fragte er noch einmal, als ob er seinen Ohren nicht traute. »Mutter, sollte der Elende sich diesen Namen nicht beigelegt haben, um den seinigen zu verbergen? Der Name war falsch!«
»Ich glaube es auch, mein Sohn, denn ich sah Ferdinand einst in einer glänzenden Karosse durch die Straßen fahren. Meiner Sinne beraubt durch diesen Anblick, werfe ich mich vor die Pferde … es entsteht ein großer Lärm … eine blutige Wolke verschleiert meine Blicke … ich fühle nichts mehr. Als ich erwachte, befand ich mich in meiner Wohnung, und mein Kind, mein armes Kind, das ich umarmen wollte, war nicht mehr da; es war in dem Gedränge verschwunden … ich habe es nie wiedergesehen!«
Ein Tränenstrom entstürzte den Augen der Armen, als sie diese Worte gesprochen hatte; laut schluchzend sank sie zur Erde nieder und lehnte ihren Kopf auf den harten Holzstuhl, der neben ihr stand. Der junge Mann warf sich erschüttert über seine Mutter, hob sie langsam empor und legte ihr bleiches Haupt an seine Brust. Nach einigen Augenblicken machte sich auch Richards Schmerz durch Tränen Luft – er vermochte nicht zu trösten, er konnte nur weinen.
»O mein Bruder, mein armer Bruder!«, rief er und schloss die kranke Mutter fester an seine Brust. Es war das erste Mal, dass er diesen Namen nannte; das Mitleid mit der Qual seiner Mutter hatte ihm diese Worte unwillkürlich entrissen, aber sie übten einen wohltätigen Eindruck auf die arme Geisteskranke aus, denn kaum hatte sie diese vernommen, als sie sich mit einem freudigen Lächeln emporrichtete und mit weicher Stimme sprach:
»Mein Sohn, du entziehst ihm den Brudernamen nicht, gedenkst seiner nicht mit Hass?«
»Wie könnte ich meinen Bruder hassen?«, rief dieser mit Leidenschaft. »Trägt er die Schuld an den Verbrechen seines Vaters? Fließt nicht Ihr Blut in seinen Adern, hat uns beide nicht dieselbe Brust genährt? Ich würde ihn vielleicht weniger geliebt haben, wenn sein Vater ihn zu sich genommen und ihm eine glänzende Stellung in der Welt angewiesen hätte; aber sein Schicksal ist vielleicht noch trauriger als das meinige – er ist mein Bruder durch das Unglück und durch die Bande des Blutes!«
»Und ich bin Schuld an unserer Trennung«, sprach Frau Bertram, den trüben Blick gen Himmel gerichtet, »o mein Gott, verzeihe mir! Was wohl aus dem armen Kind geworden ist? Allein, von aller Welt verlassen in dieser ungeheuren Stadt, ist es vielleicht ein Opfer der Kälte und des Hungers geworden; vielleicht hat es mich schon bei Gott verklagt!«
»Mut, meine Mutter, Mut, der Himmel zürnt nicht ewig; die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft ruht fest in meiner Brust!«
In diesem Augenblick ließ sich Trommelwirbel und das laute Schreien: »Was gibt es?« in der Straße vernehmen. Mutter und Sohn fuhren überrascht empor.
»Was bedeutet das?«, fragte die Frau, indem sie zum Fenster trat.
»Es wird Generalmarsch geschlagen«, rief Richard, »ein Zeichen, dass den Freiheiten des Volkes Gefahr droht. Hören Sie, Mutter, jetzt schmettern auch die Hörner der akademischen Legion und rufen zu den Waffen. Die Reaktion streckt von Neuem ihren Arm aus, das Volk von der Höhe herabzuschleudern, auf die es sich durch Mut und Blut geschwungen hat; die Großen dieser Erde fürchten, dass es zu mächtig wird und ihnen völlig die Geißel entreißt, die sie seit Jahrhunderten tyrannisch geschwungen haben – ha, schmettert nicht zu laut, des Volkes Schlaf ist nicht fest, es schlummert nur, denn es kennt die Arglist seines Feindes!«
Bei diesen Worten hatte der junge Mann sich eilig die Uniform angezogen, das Seitengewehr um seinen schlanken Leib geschnallt und die Büchse von der Wand genommen. Doch plötzlich legte er die Waffe wieder aus der Hand, warf den Hut mit der schwarzen Feder auf den Tisch und sah betrübt seine Mutter an, die sich wie ein Kind über den schmucken Soldaten freute.
»Nun, Richard, willst du nicht gehen?«
»Ich kann nicht, Mutter!«
»Du kannst nicht? Was hält dich ab?«
»Sie sind krank, meine Mutter, und da soll ich Sie allein lassen?«
»Wer sagt dir, dass ich krank bin? Nimm deine Waffen und geh, wohin die Pflicht dich ruft!«
Ein leises Klopfen im Zimmer des blinden Nachbarn unterbrach die eingetretene Pause und deutete Richard einen neuen Grund seines Bleibens an.
»Ich kann nicht«, rief er schmerzlich, »denn der kranke Greis, dessen einzige Stütze ich bin, würde ohne Pflege bleiben!«
»Geh, Richard, ich pflege den Kranken«, rief die Mutter mit glühenden Augen, »ich bleibe bei ihm, bis du wiederkehrst!«
»Und wenn ich nun nicht wiederkehre?«, fragte der Sohn betonend.
»Wenn du nicht wiederkehrst?«, wiederholte Frau Bertram leise, als ob der Gedanke an die Möglichkeit dieses Falles sie der Sprache beraubte. »Du hast recht«, fügte sie hinzu, »bleibe hier!«
»Ich gehe zu unserm Nachbarn, um zu sehen, was er verlangt; bleiben Sie ruhig hier, meine Mutter.«
Als Richard die Tür öffnen wollte, um sich zu entfernen, erhob sich Frau Bertram hastig, ergriff die Hand ihres Sohnes und führte ihn ins Zimmer zurück.
»Mein Sohn«, rief sie mit fester Stimme und festen Blicken, als ob sie plötzlich den vollen Gebrauch ihres Verstandes wiedererlangt hätte, »mein Sohn, sagtest du nicht, die Freiheit des Volkes sei in Gefahr, die Großen dieser Erde wollten von Neuem ihre Geißel schwingen?«
»Das sagte ich«, antwortete Richard ruhig.
»Wohlan denn, Richard, wenn ihnen dies nun gelänge? Wer war es, der den Namen des Buben wissen wollte, der unser Unglück herbeigeführt hat – wer war es, der ihn wissen wollte, um den nichtswürdigen Frevel an ihm zu rächen? Nimm deine Waffen und gehe, denn wie keiner bist du berufen, dem Übermut der Großen entgegenzutreten, da einer aus ihrer Mitte deinen Vater gemordet und das Glück deiner Familie zertrümmert hat. So geh denn und räche deine Mutter!«
Der junge Mann erbebte am ganzen Körper. Lauter und immer lauter wirbelten die Trommeln und schmetterten die Signalhörner durch die Straße; der Lärm der zusammenströmenden Menge und der zu ihren Sammelplätzen eilenden Wehrmänner wurde mit jedem Augenblick größer; alles rannte und schrie durcheinander. Aus dem Chaos von Stimmen drangen deutlich die Worte herauf:
»Es rücken Soldaten heran, um die akademische Legion aus der Aula zu vertreiben und zu entwaffnen!«
»Mutter«, rief Richard, als er diese Worte vernommen hatte, »Sie haben recht, ich muss fort! Gelingt den Feinden dieser Anschlag, sind wir verloren; man wird uns noch schwerere Fesseln schmieden, als wir bis jetzt getragen haben. Meine Büchse!«
»Hier ist sie!«, rief Frau Bertram zitternd und reichte sie dem Sohn.
»Leben Sie wohl, meine Mutter!«
»Gott behüte dich, mein Sohn!«
Der junge Mann küsste seine Mutter auf die Stirn, verließ hastig das kleine Zimmer und eilte zu seinem Sammelplatz.
Nach einigen Minuten trat Frau Bertram an das Bett des kranken Greises.