Читать книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader - Страница 12
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Verhängnisvoll stieg der 31. Oktober über der Hauptstadt empor. Wie ein grauer Flor hielt der Nebel die Spitzen der Türme und die Dächer der ungeheuren Häusermasse bedeckt, als ob er die Sonne hindern wollte, die Schreckensszenen zu beleuchten, die die Revolution an diesem Tag gebar. Angst und Bestürzung war auf allen Gesichtern zu lesen, und nur selten erblickte man auf den Straßen bewaffnete Bürger, denn das Gerücht vom Anrücken der Truppen, die die Rechte der Krone in der nach Freiheit strebenden Stadt wieder erkämpfen und befestigen sollten, hatte sich in Windeseile verbreitet. Schon am Mittag rückten die Regimenter unter lärmendem Trommelschall in die Vorstadt ein, in der Richard mit seiner Mutter und dem kranken Wilibald wohnte, und nahmen ohne einen Schwertstreich davon Besitz. In der inneren Stadt hatte man die Tore verbarrikadiert und dem Vorschreiten der Heeresmacht dadurch ein Ziel gesetzt, doch nach einer kurzen Kanonade fielen auch diese und der Würgeengel zog in die alte Cäsarenstadt ein, um sich mit unbarmherziger Hand seine Opfer zu holen.
Der Nachmittag fand Richard und seine Mutter am Krankenbett des blinden Greises, wo sie in banger Erwartung der Dinge harrten, die da kommen sollten. Wilibald, dem Richard den Sieg der Truppen mitgeteilt hatte, nahm die Nachricht fast gleichgültig auf; er antwortete nur mit einem bitteren Lächeln und fiel dann wieder in seinen gewöhnlichen Schlaf, der oft mehrere Stunden anhielt. Als ob die Vorsehung die Armut unter ihren besonderen Schutz genommen hätte, betrat kein feindlicher Fuß die kleine Dachwohnung; das Getöse auf der Straße und mitunter einige Gewehrschüsse waren alles, was deren Bewohner vernahmen. Nicht aus Furcht, sondern um alles zu vermeiden, was ihn von seiner Mutter und dem Kranken trennen konnte, hatte der junge Mann seine Waffen und die Uniform der Legion in einem geheimen Wandschrank verborgen, denn dass man eine allgemeine Entwaffnung vornehmen und mit den Akademikern dabei besonders streng verfahren würde, stellte er nicht einen Augenblick in Zweifel.
Mit dem Einbruch der Nacht öffnete der junge Mann das Fenster. Auf der Straße herrschte eine Grabesstille, denn kein Mensch wagte, seine Schwelle zu übertreten, da der Generalfeldmarschall den Belagerungszustand über die Stadt verhängt hatte. Als er seinen Blick über die Dächer hinweg zur inneren Stadt schweifen ließ, gewahrte er eine dicke Rauchwolke, die ruhig wie ein Gewitterhimmel dalag. Plötzlich zerteilte sich diese Wolke und der ganze Horizont stand in lichten Flammen, sodass der entsetzte Beobachter in dem grausigen Licht die hervorragenden Giebel der Häuser und die Spitzen der Kirchtürme wahrnehmen konnte, als sei es Tag. Mit starren Augen blickte er in die Glut hinein und eine unbeschreibliche Angst bemächtigte sich seiner, denn er dachte an Anna, die in jenem Teil der Stadt wohnte, der in diesem Augenblick dem Gräuel und der Verwüstung des Krieges preisgegeben war. Eine Sehnsucht nach der lieblichen Jungfrau, wie er sie bisher nicht gekannt hatte, wurde im Herzen des jungen Mannes wach; er vergaß seine Umgebung und folgte seinem Gedankenflug zu dem Ort der Gefahr.
Bald sah er die Jungfrau hilfeflehend aus dem Fenster eines brennenden Hauses die Arme ausbreiten; deutlich erkannte er in dem Widerschein der Feuersbrunst ihre schönen, von Angst entstellten Züge; die Menge blickte mitleidig empor, aber niemand wagte Rettung zu bringen, da wilde Kriegerhaufen im Innern des Hauses plünderten und jeden, der sich nähern wollte, niedermetzelten, um sich der Beute allein zu bemächtigen; bald sah er, wie sie von einem wilden Soldaten mit braunem Gesicht, zerlumptem, rotem Mantel und blutbefleckten Händen bei den Haaren durch die Straße geschleppt wurde; er hörte ihre Schmerzensschreie und das Hohngelächter ihres Mörders … seine Hand zuckte, er wollte den Unmenschen zu Boden schmettern … da weckte ihn das Gestöhn des Kranken, der erwacht war, aus seinem Traum. Er wandte sich um und fuhr mit der Hand über seine Augen, als ob er sich der Wirklichkeit versichern wollte. Annas Bild war verschwunden, aber die Sehnsucht nach ihr war geblieben.
Am folgenden Morgen befand sich die ganze Stadt in den Händen der siegenden Armee. Die Führer und auch großenteils die Teilnehmer des Aufstandes wurden verhaftet und nach kurzem Verhör als Missetäter niedergeschossen. An Flucht konnte keiner dieser Unglücklichen denken, da die Stadt fast hermetisch von Kanonen und Bajonetten eingeschlossen war; sie fielen alle als ein Opfer des Kriegsgerichts, das mit unerbittlicher Strenge, sogar grausam, ausgeübt wurde.
Schon drei Wochen hatte Wilibald keine Nachricht, mithin auch keine Unterstützung von Anna erhalten, und die gegenwärtige Lage der Dinge gab wenig Hoffnung, dass sich daran so bald etwas ändern würde. Wie wir wissen, hatte der Greis seinem Pfleger nie die Quelle genannt, aus der ihm die bisher erhaltenen Subsistenzmittel zugeflossen waren; der junge Mann konnte daher auch die Besorgnis des Kranken nicht teilen, dass der Familie des wohltätigen Mädchens ein Unglück geschehen war. Obgleich ihm diese Besorgnis schwer auf dem Herzen lag, verschloss er das kleine Geheimnis doch fest in seiner Brust, denn er wollte Richard das Gefühl der Scham ersparen, zumal, da ihm der Eindruck nicht entgangen war, den das junge Mädchen auf den armen Dichter ausgeübt hatte.
Es war am dritten Tag nach der Einnahme der Hauptstadt, als der Mangel unseren Richard zwang, seine Wohnung zu verlassen, um für Nahrungsmittel zu sorgen. Den kranken Wilibald hatte er der Obhut der Mutter übergeben, deren Geisteskrankheit sich seit einiger Zeit nur in einer stillen Schwermut äußerte. Er kannte die innige Freundschaft, mit der die arme Frau dem Greis zugetan war, und auf diese bauend, sowie von der Not getrieben, hatte er sich zu diesem Schritt entschlossen. Mit dem letzten Geldstück in der Tasche, das ungefähr den Wert eines Brotes hatte, trat der junge Mann auf die Straße. Doch welch ein Anblick bot sich ihm dar! Mit jedem Schritt trat er auf ein Gewehr, einen Säbel oder eine militärische Kopfbedeckung; das ganze Straßenpflaster war mit Waffen übersät, die die Wehrmänner aus Furcht vor Strafmaßnahmen in der Nacht aus den Häusern geworfen hatten. Richard musste einen Augenblick stehen bleiben, um ein Gefühl zu unterdrücken, das ihm fast die Brust zersprengte.
»O mein Gott«, sprach er leise zu sich selbst, »das also sind die Früchte einer Revolution, die nur die der Menschheit angestammten Rechte erringen wollte! Das also waren die Männer, die ihr Leben der Freiheit opfern wollten! Die Großen haben recht, diese Geschöpfe als Sklaven zu betrachten, denn sie sind nichts Besseres wert. Schmach über die Knechte!«
Mit Tränen in den Augen setzte er seinen Weg fort.
Die Stadt machte einen sonderbaren Eindruck; die wenigen Vorübergehenden, die ihm begegneten, schienen nicht mehr ihren Geschäften, sondern ihren Leidenschaften nachzugehen. Statt jener sorglosen, gemütlichen Physiognomie, die der weltbekannte Hauptcharakter der Residenz war, sah er auf den Gesichtern der Leute nur Hass oder Verfolgungseifer. Bald traf er auf Gruppen, die sich an der Erzählung von der Gefangennahme eines begeisterten Freiheitskämpfers ergötzten, bald auf andere, die vorübergehenden Polizeispionen oder wild aussehenden Militärpatrouillen laut ihre Freude über den errungenen Sieg zuriefen; er traf sogar Menschen, die sich nicht entblödeten, armen Gefangenen, die man schändlich geknebelt zum Richtplatz führte, Hohn und Verwünschungen nachzurufen. Richard kannte seine Umgebung nicht mehr wieder; er wähnte sich in die Zeit des Mittelalters zurückversetzt, in ein Land, das europäische Sitten nie gekannt hat. Mit Entsetzen und Grausen aber erfüllte ihn der Anblick eines jungen Mannes, den eine Horde Soldaten in roten Mänteln und mit Säcken erbeuteter Sachen auf dem Rücken über einen Platz schleppten und mit Kolbenschlägen und Bajonettstichen bei jedem Schritt, den er nicht mehr gehen konnte, so zurichteten, dass er endlich leblos auf der Straße liegen blieb.
Einen Fluch ausstoßend, zogen die Soldaten weiter. Mitleidig trat Richard zu dem Unglücklichen und beugte sich zu ihm hinab, um zu sehen, ob Rettung noch möglich war; aber entsetzt bebte er zurück, als er in das brechende Auge eines alten Universitätsfreundes sah. »Richard«, stöhnte der Sterbende, indem er beide Hände auf die von Bajonetten durchbohrte Brust drückte, und verschied. Noch stand Richard da und starrte mit hohlen, trockenen Augen auf die Leiche des ermordeten Freundes, als ein Wagen über den Platz fuhr, der von Soldaten und scheußlich aussehenden Arbeitern geführt wurde. »Halt!«, riefen die Soldaten, und der Wagen hielt in Richards Nähe an. Wie Raben auf ein Aas stürzten einige von den Männern über den Leichnam, entblößten ihn von seinen blutigen Kleidern, steckten diese in Säcke, die sie auf dem Rücken trugen, und warfen die nackte Leiche auf den Wagen. »Vorwärts!«, riefen die heiseren Kehlen, und der Wagen, Blutspuren hinterlassend, rasselte weiter, neue Opfer aufzusuchen und in Empfang zu nehmen. Fast selbst eine Leiche vor Entsetzen und Jammer, blickte der junge Mann auf die von Freundesblut geröteten Steine; ihm war, als ob die ganze Natur nach Rache schreien müsse über diesen Frevel, aber vor Entsetzen verstumme wie er selbst. Mechanisch setzte er endlich seinen Weg fort, trat in der nächsten Straße in einen Bäckerladen und kaufte für sein letztes Geldstück ein Brot; dann beeilte er sich, wieder nach Hause zu kommen. Als er um eine Straßenecke bog, stieß er auf eine Gruppe Menschen, die neugierig einen großen Anschlagzettel lasen. Unwillkürlich blieb er einen Augenblick stehen und richtete seine Blicke auf das Papier, das Folgendes enthielt:
»Eine Belohnung von dreitausend Dukaten wird dem zugesichert, welcher dem Generalkommando den Verfasser der Schmähschrift ›Die Jesuitenkrone‹ dergestalt zur Anzeige bringt, dass er zur Rechenschaft gezogen werden kann. Wer imstande ist, dem Vaterland diesen Dienst zu erweisen, kann sich außer der Belohnung auch der Verschweigung seines Namens für gewiss halten.«
»Dreitausend Dukaten!«, sprach Richard leise vor sich hin, indem er weiterging. »Dreitausend Dukaten werden hier einem Verräter angeboten, während ich seit Jahren nicht imstande war, durch den angestrengtesten Fleiß so viel zu erwerben, dass ich meine arme Mutter vor Mangel schützen konnte. Elendes, schmachvolles Leben, du machst mich irre an der Vorsehung!«
Als er in das Dachstübchen trat, fand er seine Mutter darin vor. Sie war sorglos beschäftigt, schon längst verdorrte Blumen mit Wasser zu begießen und deren zusammengetrocknete Blätter unter leisem Gesang sorgfältig zu entfalten. Dieser Anblick brachte den armen jungen Mann wieder zur Wirklichkeit zurück; der Schmerz über den traurigen Geisteszustand seiner Mutter zerstörte die Rinde, die der Lebensüberdruss um sein Herz gebildet hatte; mit inniger Teilnahme sah er der Beschäftigung der Kranken einen Augenblick zu.
»Mutter«, sprach er mit Tränen in den Augen, »hier ist Brot!«
»Brot?«, rief Frau Bertram schnell, indem sie vom Fenster zurücktrat und sich mit kindischer Freude an den kleinen zerbrechlichen Tisch setzte. »Brot? Das ist schön, mein Sohn, denn mich hungert. Komm, wir wollen unsere Mahlzeit halten; wenn Herr Wilibald erwacht, werde ich ihm auch ein Stück von diesem schönen Brot bringen; der arme Mann hat schon seit einigen Tagen nichts gegessen, nur Wasser hat er getrunken. Komm, Richard, und iss!«
Mit den letzten Worten hatte sie ein Stück abgeschnitten, dann begann sie mit großem Appetit zu essen. Richard hatte Mühe, seine Tränen zu verbergen.
»Soll ich meine Mutter beklagen oder sie beglückwünschen«, murmelte er vor sich hin; »sie lebt in ihrer eigenen Welt, unbekümmert um die Leiden dieser Erde; ein Stück Brot genügt, um sie glücklich zu machen. O ewiges Rätsel, ob dich der Tod zu lösen vermag? Großer Gott, zerstöre das Glück meiner Mutter nicht, gib ihr nimmer den Verstand wieder, denn die Erkenntnis dieses Lebens ist der Vorgeschmack der ewigen Verdammnis! Ja, es ist eine Verdammnis, Verstand zu besitzen, denn er sagt mir, dass ich vielleicht morgen nicht imstande bin, das Glück dieser Armen zu erhalten und ihr ein Stück Brot zu verschaffen, wenn ich nicht betteln will. O wie ohnmächtig, wie elend bin ich mit meinem Verstand!«
In dumpfer Verzweiflung starrte Richard vor sich hin. Plötzlich, als ob ein Entschluss in ihm entstanden wäre, sprang er auf, setzte sich an seinen Schreibtisch, ergriff die Feder und begann einen Brief zu schreiben.
Ein leises Klopfen im Nebenzimmer ließ sich vernehmen. Es war das Zeichen, dass der Kranke ein Begehren hatte.
»Du willst arbeiten«, sprach Frau Bertram; »gut, dann gehe ich zu unserm Kranken, um ihm seine Mahlzeit zu bringen, denn er ist erwacht. Auf Wiedersehen, mein Sohn!«
Die Mutter hatte das Zimmer verlassen. Richard war allein.
»Herr Direktor!«, schrieb er, »meine Mutter ist krank und durch den Druck der Zeit von allem entblößt, was der Armen einige Linderung verschaffen könnte. Elend und Verzweiflung bringt der nächste Tag, wenn Sie der Kranken ein Plätzchen in dem Hospital verweigern, das unter Ihrer Leitung der leidenden Menschheit stets ein schützendes Asyl bietet. Im Namen Gottes bitte ich Sie, erbarmen Sie sich meiner Mutter, geben Sie ihr die Segnungen, die die allgemeine Wohltätigkeit in Ihre Hand gelegt hat, und der Segen des Himmels wird Sie dafür lohnen.«
Richard Bertram. R.gasse Nr. 10. im vierten Stock.
Richard faltete und siegelte den Brief, dann schrieb er die Adresse, steckte ihn zu sich und trat in den Vorsaal.
»Mutter«, rief er leise durch die halb geöffnete Tür in das Krankenstübchen, »ich gehe aus; in einer Viertelstunde kehre ich zurück. Achten Sie gut auf den Kranken!«
Dann eilte er zu dem in einer benachbarten Straße liegenden Hospital, gab dort im Büro seinen Brief ab und trat den Rückweg an. Als er über den Platz schritt, den er am Morgen schon einmal betreten hatte, fuhr ein Wagen, von einer starken Reiterabteilung umgeben, an ihm vorüber. Wie gewöhnlich, liefen die Menschen zusammen und gafften dem Zug nach.
»Was ist das?«, hörte man von allen Seiten fragen. »Das muss entweder ein sehr vornehmer oder ein sehr großer Verbrecher sein.«
»Das ist der General B.«, antwortete ein gut gekleideter Mann, und auf seinem Gesicht sprach sich große Schadenfreude aus. »Er hat schon lange im Geheimen der Krone entgegengearbeitet, indem er unter seinen Soldaten den sogenannten demokratischen Geist zu verbreiten suchte und die Unglücklichen dahin brachte, dass sie ihrem Eid untreu wurden und in den Reihen des aufrührerischen Volkes die Stadt gegen das Militär verteidigten. Schade, dass man so viele Umstände mit dem Verräter macht und ihn nicht gleich an dem ersten besten Baum aufhängt oder niederschießt wie die Schufte von Soldaten. Nur Geduld«, fügte der gut gekleidete und gut genährte Mann hinzu, »es wird schon noch besser kommen!«
»Wer ist dieser Mann?«, fragte Richard einen neben ihm Stehenden.
»Der Mann ist eigentlich nichts«, war die Antwort; »aber wenn Sie einen Menschen, der sich durch unerhörte Schwindeleien und Prellereien zehn bis zwölf Häuser in der R.gasse zu verschaffen wusste, für etwas gelten lassen wollen, dann ist er der Hausbesitzer S.«
»Also mein Hausherr«, murmelte der junge Mann. »Es war höchste Zeit, mich um ein anderes Obdach für meine Mutter zu kümmern, denn dieser Freund gesetzlicher Ordnung wird uns sicher mithilfe der Gesetze auf die Straße werfen lassen; es wäre vielleicht schon längst geschehen, wenn man die alte, gute Ordnung früher wieder eingeführt hätte.«
Traurig kehrte Richard in seine Wohnung zurück, denn alles, was er gehört und gesehen hatte, trug dazu bei, seinen Lebensüberdruss zu vermehren. Die Nacht verbrachte er am Krankenbett des blinden Greises, dessen Zustand mit jeder Stunde bedenklicher wurde. Wilibald klagte nicht, es sprach sich sogar eine ruhige Heiterkeit in seinen Zügen aus, die eher eine baldige Genesung als den Tod vermuten ließ.
Mit dem Anbruch des Morgens erwachte der Kranke aus einem unruhigen Schlummer. Als er Richards Anwesenheit im Zimmer bemerkte, fragte er, was er noch nie getan hatte, nach Nachrichten über den Stand der Dinge in der Stadt. Der junge Mann berichtete, was er wusste. Schweigend und mit geschlossenen Augen hörte Wilibald der Erzählung zu, die, obgleich sie alles mit lebhaften Farben schilderte, dennoch keinen Eindruck auf den Hörer hervorzubringen vermochte. Als Richard aber von der Belohnung sprach, die man dem Denunzianten des Verfassers des Libells zusicherte, und von der Gefangennahme des Generals B., hob er leise die verschlungenen Hände empor, als ob er einen Augenblick betete, und verfiel darauf wieder in seine Lethargie zurück.
Gegen Mittag, als Frau Bertram bei dem Kranken war, erhielt Richard, der sich in seinem Zimmer befand, durch einen Boten einen Brief. Er war von dem Direktor des Hospitals und enthielt Folgendes:
»Mein Herr! Es tut mir leid, Ihrem Wunsch für jetzt nicht genügen zu können. Fünf Stellen habe ich nur zu vergeben und mehr als fünfzig Gesuche sind eingegangen. Meine Wahl würde ebenso gut auf Ihre Mutter fallen wie auf irgendeinen andern; da es aber noch unglücklichere Personen gibt und sie einen Sohn hat, der arbeiten und ihr Unterstützung gewähren kann, halte ich es für meine Pflicht, die Hilfsbedürftigsten vorzuziehen. Dem Sohn steht die Mutter näher als dem Hospital.«
»O Himmel«, rief Richard erbleichend, als er den Brief gelesen hatte, »also ich bin der Stein des Anstoßes, der meine arme Mutter hindert, die Schwelle des Hospitals zu überschreiten! Wohlan, Herr Hospitaldirektor, Sie haben dem Sohn den Weg bezeichnet, den er zu wandeln hat; er wird Ihnen die Mutter so nahe bringen, dass Sie die Arme nicht mehr zurückstoßen können! Es ist lächerlich«, fuhr er bitter fort, »meine Mutter gilt hier als reich, für die Aufnahme in das Asyl der Armut als nicht geeignet, weil sie einen Sohn hat, der selbst dem Hunger preisgegeben ist. – Mutter, mein Dasein soll dir das Leben nicht verbittern, denn es ist auch mir schon längst zur Last geworden!«
Der junge Mann trat zu seinem Schreibtisch und begann seine Papiere zu ordnen. Nachdem er mehrere zerrissen hatte, fiel ihm plötzlich ein Blatt in die Hände, das er lange und, wie es schien, bewegt betrachtete.
»An Anna«, rief er endlich aus. »Ein toller, aber ein schöner Traum, ein süßer Wahnsinn, der mich oft die Welt vergessen ließ, der mich oft an das erinnerte, was ich jetzt meiner Mutter schuldig bin. Ich gebe dem Schöpfer das Leben zurück, das ich so lange als eine Wohltat betrachtete, wie es mir und andern nicht zur Last wurde; ich gebe es zurück, denn ich erliege der schweren Prüfung! Lebe wohl, Anna, und wenn der Zufall dir die Kunde von meinem Tod bringt, beklage mich nicht, denn ich habe aufgehört zu leiden; ich bin dann in jener Welt, wo kein Unterschied der Stände die Regung des Herzens erstickt, wo das große, erhabene Ziel erreicht ist, nach dem die Menschen hier umsonst streben! Und du, meine Mutter«, fuhr er wehmütig fort, »wirst zwar keinen Sohn mehr haben, aber die gerechtesten Ansprüche auf die Wohltätigkeit der Menschen. Arme, schwer geprüfte Frau, lebe wohl!«
Richards Augen füllten sich mit Tränen; er wollte sie zurückhalten, aber unaufhaltsam rollten sie über seine bleichen Wangen. Schluchzend bedeckte er das Gesicht mit beiden Händen und ließ den Kopf auf den Tisch herabsinken. In dieser Stellung hatte er wohl eine halbe Stunde verbracht, als er sich plötzlich erhob, die Feder ergriff und zu schreiben begann. Nachdem er fertig war, legte er das Papier zusammen und steckte es zu sich. Dann ergriff er seinen Hut und verließ das Zimmer. Leise trat er in das Krankenstübchen, das von dem letzten Strahl der scheidenden Sonne nur noch matt erhellt war. Der Greis lag schlummernd in seinem Bett und Richards Mutter, ebenfalls eingeschlafen, saß auf dem kleinen Holzstuhl, der an der Seite des Krankenlagers stand.
Wie festgebannt blieb der junge Bertram bei diesem Anblick an der Türschwelle stehen; ein namenloses Gefühl zerriss ihm die Brust; er konnte kaum verhindern, dass er in lautes Weinen ausbrach. Noch einmal streckte er die Hände aus, als ob er beide umarmen wollte, dann zog er sich leise zurück, verschloss die Tür und eilte aus dem Haus.
Die Vesperglocken tönten durch den klaren Abend, als er die Straße betrat.