Читать книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader - Страница 9

Оглавление

3.

Der alte Wilibald saß wieder an seinem Arbeitstisch; es schien jedoch, als ob heute die Arbeit nicht recht vonstattengehen wollte. Bald sah er durch das geöffnete Fenster in den klaren Morgenhimmel hinaus, sann einige Minuten nach und änderte kopfschüttelnd das soeben Geschriebene, bald stand er ungeduldig auf, durchschritt langsam das kleine Dachstübchen und legte ein Stück Zeug oder ein bestaubtes Buch zur Seite, denn die ärmliche Wohnung war nicht, wie gestern, gesäubert und geordnet, sondern die elenden Gegenstände lagen und standen bunt durcheinander, das Bett war, wie er es am frühen Morgen verlassen hatte, und Tisch und Stühle waren grau mit Staub überzogen.

»Mein Gott«, flüsterte der Greis, indem er sich umsah, »wie sieht heute Morgen mein Zimmer aus! Wenn Frau Bertram, meine Nachbarin, fehlt, fehlt mir alles.«

Dann begann er eifrig aufzuräumen und zu ordnen, säuberte mit einem Tuch, das er aus seinem grauen Rock zog, seinen Tisch und das schmale Fensterbrett vom Staub und tränkte die Blumen aus einem irdenen Krug mit frischem Wasser. Dann setzte er sich wieder an die Arbeit. Wohl eine Viertelstunde mochte er geschrieben haben, als er plötzlich die Feder niederlegte und sein greises Haupt in die hohle Hand stützte.

»Revolution«, sprach er dumpf vor sich hin, »Revolution! Ja, wenn alle das Wort recht verständen! Kein Staat kann bestehen, wenn zügellose Freiheit oder Gesetzlosigkeit an der Tagesordnung sind; die Leidenschaften der Menschen würden die Sicherheit der Personen und des Eigentums aufheben und der Stärkere, wie im rohen Naturzustand, den Schwächeren überall unterdrücken. Eine Nation würde mit sich selbst in den Kriegszustand übergehen und sich zuletzt aufreiben. Dies macht den Stand der Bürger in der Revolution gefährlich; der Pöbel, von keinen Gesetzen in Schranken gehalten, äußert die Wirkungen seiner rohen Natur; wer ihm als Feind angegeben oder von ihm selbst dafür gehalten wird, dessen Kopf trägt er zuerst auf Piken durch die Straßen, bis er zuletzt das Herz der Schuldigen wie der verleumdeten Unschuldigen in Stücke zerreißt. Die zusammengerottete Pöbelmasse, von einem Bluthund in Marats Manier aufgehetzt oder von einem Tyrannen wie Robespierre geleitet, schreibt der Nation Gesetze vor, fordert die tugendhaftesten und edelsten Männer als Schlachtopfer und nur revolutionäre Despotie vermag sie zu zügeln. Selten sind die Menschen sich in Grundsätzen gleich, noch seltener haben sie dieselben Vorstellungen oder gleiche Meinungen. Hierdurch werden gewöhnlich, selbst unter den Vernünftigsten, Faktionen erzeugt, die den Bösen den Sieg über die bessere Partei, die unter sich uneinig ist, erleichtert, und in der Regel ist die Zahl der Guten kleiner als jene der Schlechten. Ehe nun die Nation nicht alle Perioden der Erfahrung durchlaufen hat, tritt sie nicht auf, Ordnung und Gesetz zu erhalten und die Besseren unter sich zu unterstützen; die Frevel einer revolutionären Regierung müssen die Nation erst aus dem Schlaf wecken, denn den Pöbel ausgenommen, der nichts zu verlieren hat, ist die andere Hälfte der Nation träge, aus Besorgnis, den Pöbel zu reizen, oder aus Furcht, sich selbst zu verderben. Revolutionen müssen auf Revolutionen folgen, eine die andere stürzen, bis sich zuletzt das Ganze zu einer konstitutiven Verfassung melioriert, die Revolutionen unmöglich macht. Eine revolutionäre Regierung ist eine Despotie, weil kein Gesetz sie beschränkt, weil alles dem Willen einer kleinen Anzahl von Männern untergeordnet ist. Und leider fehlt es keiner Nation an ehr- und herrschsüchtigen Menschen, welche die Gewalt, die ihnen das Zutrauen des empörten Volkes in die Hände gibt, missbrauchen. Und wer kann uns bürgen, dass eine vernünftige Konstitution, auf die Bedürfnisse der Nation ausgelegt, dem Unwesen des revolutionären Despotismus bald ein Ende macht? Ich verstehe das Wort ›Revolution‹, ich kenne deren Schrecken und sehe sie voraus; aber – ich kenne auch den Despotismus der Großen dieser Erde, ich kenne die Qualen einer vierundzwanzigjährigen Gefangenschaft, zu der mich die Willkür niederträchtiger Minister verdammt hat, weil ich die Wahrheit geschrieben und pfäffische Gräueltaten ans Licht gezogen habe. Mein ganzes Lebensglück hat die Hand eines Menschen zerstört, der mit frecher Willkür das Ruder des Staates lenkte, weil er allein die Herzlosigkeit dazu besaß, weil er allein das Netz zu weben vermochte, das man um Millionen von Menschen spann, um sie in körperlicher und geistiger Knechtschaft schmachten zu lassen. Ich war einer der Kühnen, die dieses Netz zerreißen wollten, und darum, weil ich der Regung meines Geistes folgte, wurde ich eingekerkert und moralisch gemordet. Das Volk hat diesen Elenden zwar gerichtet, die Revolution des März hat Gutes geboren, jener ist schimpflich aus dem Vaterland gejagt worden und mich hat die Großmut des Landesvaters, die er ausübte, um das empörte Volk zu beruhigen, wieder in Freiheit gesetzt: aber als ein markloser, abgezehrter Greis stehe ich da; die Kraft meines Lebens liegt im Staatsgefängnis begraben; nicht einmal so viel ist mir geblieben, dass ich die elende Maschine meines Körpers den kurzen Weg fortschleppen kann, den sie noch bis zum Grab zu machen hat – ich muss von dem Mitleid anderer leben! O hätte ich nie das Licht der Freiheit erblickt, hätte mich doch mein Kerker, der mir wenigstens Nahrung gewährte, ohne sie erbetteln zu müssen, begraben!«

Der Greis sank mit dem Kopf auf den elenden Holztisch und lag mehrere Minuten da, als ob er still weinte; dann aber erhob er sich wieder und rief:

»Nein, ich muss! Zwar ist die Hand abgehauen, die das nichtswürdige Netz webte, aber noch sind die Fäden desselben nicht zerrissen, noch gibt es der geschickten Schurken genug, die das Loch wieder ausbessern, das der erste Freiheitssturm hineingerissen hat. Ich will tausendmal lieber die jähen Schläge einer Revolution als das langsam schleichende Gift einer sogenannten gesetzlichen Regierung. Die Nachwelt wird auf dem Ruin unserer Zeit, auf den Trümmern unseres Glückes, auf den gehäuften Leiden erduldeten Despotismus, genannt Freiheit, eine glücklichere Periode wahrer Freiheit erbauen und dankbar die Früchte von dem Baum genießen, den ich jetzt pflanzen helfen will! Auf, Alter, kämpfe und räche dich!«

Die Feder fuhr wieder über das Papier; die Zweifel, die die Arbeit des Greises unterbrochen zu haben schienen, waren durch dieses Selbstgespräch beseitigt und sein Geist erstarkt und ermutigt, denn es bildete sich Zeile um Zeile, sodass schon nach kurzer Zeit die Seite des grauen Papiers vollgeschrieben war. Als er das Blatt wenden wollte, wurde leise an die Tür geklopft. Ohne zu antworten, ergriff Vater Wilibald rasch sein Manuskript, legte es in den Kasten seines Tisches, verschloss denselben und steckte den Schlüssel in die Tasche; dann ging er zur Tür, schob einen kleinen Riegel zurück und öffnete.

»Guten Morgen, Herr Wilibald«, sprach freundlich, aber nur halblaut, eine angenehme, weibliche Stimme.

»Ach, mein liebes Fräulein!«, rief der Greis überrascht; »treten Sie doch bitte ein.«

Der Greis öffnete so weit wie möglich die kleine Tür und Anna Hubertus, erhitzt vom Steigen der finsteren Treppen, trat mit hochroten Wangen ein.

Die Verlegenheit des alten Mannes, dass er die schöne junge Dame in seinem ungeordneten Zimmer empfangen musste, war in der Tat komisch. Mit großer Emsigkeit schob er alles beiseite, was ihm nicht am rechten Platz zu stehen schien, doch stets brachte er dann den Gegenstand dahin, wo er am wenigsten an seinem Platz war – kurz, er musste zuletzt selbst darüber lächeln und Annas freundlicher Aufforderung, sich ruhig zu verhalten, genügen. Anna war indes zum Fenster getreten, hatte den halb verwelkten Veilchenstrauß aus dem kleinen Becher entfernt und dafür die Rosen hineingestellt, die sie am Morgen im Garten ihres Vaters gepflückt hatte.

»O mein Gott«, rief Herr Wilibald, »wie Sie für mich alten Mann sorgen! Gleich einem lieblichen Engel, der dem Paradies entstiegen ist, schmücken Sie den Aufenthalt der Armut mit den Kindern des Frühlings! Ihre Blumen sind das einzige Zeichen, das mich an den köstlichen Mai erinnert, denn aus meinen Fenstern sehe ich nichts als die grauen, verwitterten Dächer und den lieben freien Himmel; alles andere muss ich entbehren.«

»Warum unternehmen Sie nicht einen Spaziergang?«, fragte Anna, indem sie sich auf einem Stuhl niederließ; »die Luft ist heute warm und rein, sie wird Sie erquicken.«

»Ausgehen? Ich?«, antwortete der Greis lächelnd. »Meine alten Füße würden mich nicht weit tragen, und dann bedenken Sie einmal die steilen, hohen Treppen! Ich werde diese Wohnung wohl erst dann verlassen, wenn man mich hinausträgt! So Gott will, liegt dieser Zeitpunkt nicht mehr fern.«

»Beruhigen Sie sich«, tröstete das junge Mädchen teilnehmend, »die Zukunft wird sich besser gestalten, als Sie glauben.«

»Ich hoffe nichts mehr von der Zukunft, mein liebes Kind, denn ein Greis in meinen Jahren hat keine Zukunft mehr. Und wollen Sie die kurze Frist, die ich noch zu leben habe, Zukunft nennen, so muss ich Ihnen offen bekennen, dass ich auch davon nichts erwarte als körperliches und geistiges Elend. Ich habe mit der Welt abgeschlossen, weder Furcht noch Hoffnung finden ein Plätzchen in meiner Brust. Die einzige Freude bereiten Sie mir durch Ihre menschenfreundlichen Besuche; doch auch diese ist nicht ungetrübt, denn wenn ich bedenke, mit welchen Unannehmlichkeiten und Überwindungen Sie zu kämpfen haben …«

»Sprechen wir nicht davon«, fuhr Anna rasch fort; »wenn ich Sie heiter antreffe, ist mein Wunsch erfüllt.«

»Gott lohne es Ihnen mit einer herrlichen, glücklichen Zukunft!«, rief Wilibald, indem er seine verschlungenen Hände gen Himmel richtete. »Doch eine Frage erlauben Sie mir, mein liebes Fräulein: Ich weiß bis jetzt nicht, welchen Namen ich in mein Gebet einschließen soll, wenn ich abends und morgens an meinen wohltätigen Engel denke – o nennen Sie mir Ihren Namen!«

»Nennen Sie mich Anna«, sprach das junge Mädchen errötend, »doch nicht nur abends und morgens, ich wünsche, dass Sie mich immer so nennen.«

»Sie machen mich glücklich durch diese Erlaubnis, denn mein Herz hat sich schon daran gewöhnt, Sie als meine Tochter zu betrachten – pflegen Sie mich doch wie einen Vater; darum lassen Sie mich dankbar sein und Sie wie eine Tochter lieben!«

Der Erguss der Dankbarkeit des Greises hatte die arme Anna, die so gern eine solche Unterhaltung vermieden hätte, in die peinlichste Verlegenheit gesetzt. Vergebens sann sie darauf, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand hinzuleiten; sie konnte aber in ihrer Verwirrung keinen finden und musste sich begnügen, ihr flammendes Gesicht mit dem Taschentuch zu verdecken. Der alte Wilibald hatte sich erschöpft auf dem Stuhl vor seinem Arbeitstisch niedergelassen.

»Wie geht es Ihrer armen kranken Nachbarin?«, rief Anna plötzlich, die froh war, ein anderes Gesprächsthema gefunden zu haben.

»Frau Bertram ist noch immer leidend«, antwortete Wilibald, »die Aufregung von gestern hat sie so erschüttert, dass sie das Zimmer noch nicht verlassen kann.«

»Wer pflegt denn die arme Frau?«

»Wer sie pflegt? Ihr Sohn, und in dessen Abwesenheit – ich!«

»Sie, Herr Wilibald, der der Pflege selbst bedarf?«

»Ich muss wohl, wenn Richard gezwungen ist, nach Arbeit auszugehen.«

»Nehmen Sie«, sprach Anna und legte eine kleine Börse auf den Tisch, »hier sind Mittel, um einen Arzt zu beschaffen.«

»Anna, Anna!«, rief der Greis, »Sie tun des Guten zu viel – erst gestern waren Sie so großmütig und heute …«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Richard, Frau Bertrams Sohn, trat ein; als er jedoch den Besuch erblickte, verbeugte er sich, wie es schien, bestürzt und wollte sich wieder entfernen.

»Bleiben Sie, Richard«, sprach Wilibald, indem er aufstand, »denn ich möchte Sie unserer gemeinschaftlichen Schützerin vorstellen; Sie kommen gerade zur rechten Zeit!«

Anna winkte dem Greis; dieser aber, vom Gefühl der Dankbarkeit durchdrungen, achtete nicht darauf, ergriff die Hand Richards und sprach:

»Richard Bertram, ein Schriftsteller mit einem schönen Talent begabt. Leider liegt es jetzt unter der Last politischer Ereignisse begraben; ich hege indes die feste Hoffnung, dass es sich bald eine schöne Geltung verschaffen wird.«

»Mein Herr«, antwortete Anna, ihre Fassung nur mit Mühe behauptend, »als eine Verehrerin der Dichtkunst schätze ich mich glücklich, einen ihrer Jünger kennenzulernen; erlauben Sie mir, dass ich Ihnen die ausgesprochene Hoffnung des Herrn Wilibald als meinen herzlichsten Wunsch zu erkennen gebe.«

Richard vermochte nur: »Mein Fräulein« zu stammeln und sich tief, wie vor einer Königin, zu verbeugen. Sein Anzug war, obwohl ärmlich, dennoch sauber und ganz geeignet, die schlanke, kräftige Gestalt in einem vorteilhaften Licht erscheinen zu lassen. Das feine weiße Gesicht des jungen Mannes war in diesem Augenblick mit einer Purpurröte übergossen, die von einer ungewöhnlichen Bewegung seines Innern zeugte; sein langes braunes Haar hing in natürlichen Locken auf die Schultern herab, und das große blaue Auge haftete wie angewurzelt auf dem Boden. Die Gegenwart des jungen Mädchens, das Richard zwar schon gesehen, aber nicht gesprochen hatte, schien ihn außergewöhnlich zu berühren, denn er war seiner so wenig Herr, dass er die Regeln des Anstandes und eine passende Antwort auf Annas freundliche Anrede völlig vergaß.

Obgleich Anna bei dem Anblick des jungen Mannes nicht minder verwirrt war, so hatte sie doch zu viel Takt, um sich ganz von dem Eindruck bemeistern zu lassen. Ein seltsames Gefühl, dessen Ursprung sie im ersten Augenblick in dem Mitleid suchte, das sie für den armen, jungen Mann empfand, hatte sich ihrer Brust bemächtigt, denn dass es mehr sei, konnte sie nicht glauben, da sie ihn erst einige Male flüchtig gesehen hatte. Annas Mitleid war zu groß mit dem verlegenen Richard, als dass sie ihn länger in dieser peinlichen Lage lassen konnte; mit dem artigen Ton einer gebildeten Dame unterbrach sie die eingetretene Stille, noch ehe es Herr Wilibald vermochte, der schon Miene dazu machte.

»Mein Herr«, sprach sie, »in einigen Tagen ist der Geburtstag meines Vaters. Ich gedenke ihn dieses Jahr festlicher zu begehen als sonst, da er seit kurzer Zeit von einer schweren Krankheit genesen ist: Würden Sie mir wohl zu diesem Zweck ein passendes Gedicht liefern?«

»O wie gern!«, stammelte Richard und sein Auge blickte ermutigt empor; doch wie von dem Strahl einer mächtigen Sonne geblendet, schlug er die Blicke wieder zu Boden, denn er hatte in Annas liebliche Augen geschaut, die voll unaussprechlicher Milde und Empfindung auf ihn gerichtet waren. Auch das junge Mädchen, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, bebte zurück – weshalb, wusste sie sich nicht zu erklären; sie fühlte nur, dass ihr ganzes Gesicht wie Feuer brannte und dass ihr Blut heftiger in den Adern pulsierte als sonst.

Auch diesmal trat die Zeit als Vermittlerin auf, denn die Uhr der nahen Pfarrkirche kündigte die Mittagsstunde an.

»Zwölf Uhr«, lispelte sie, »ich muss eilen! Kann ich mir vielleicht übermorgen das Gedicht von Herrn Wilibald holen oder abholen lassen?«

»Es wird bereit sein«, antwortete Richard, indem er sich tief verneigte.

»So leben Sie wohl, Herr Wilibald!«

Anna reichte dem Greis die Hand, grüßte den immer noch bestürzten Richard durch eine anmutige Verbeugung und verschwand wie eine Fee durch die kleine Tür. Als Wilibald wieder öffnete, um ihr das Geleit zu geben, hörte man ihren leichten Fußtritt schon auf den unteren Stufen der Treppe.

»Wer ist die junge Dame?«, rief Richard, als der alte Mann ins Zimmer zurückkehrte. Verwundert über den Ton blickte dieser den hastig Fragenden an.

»Ich weiß es nicht, lieber Richard.«

»Wie, Sie wissen es nicht?«

»Nein, alles, was ich weiß, ist, dass sie Anna heißt.«

»Wie kommt es aber, dass Sie öfter Besuche von ihr erhalten? Wenn ich nicht irre, sah ich sie auch gestern in Gesellschaft einer älteren Dame bei Ihnen?«

»Sie haben sich nicht geirrt, mein junger Freund. Beide Damen beehrten mich schon während meiner Krankheit mit ihrem Besuch. Ich bin ihnen zu hohem Dank verpflichtet.«

»Aber mein Gott«, rief Richard ungeduldig und verwundert zugleich, »wissen Sie denn nichts weiter als ihren Namen?«

»Nur den Namen und dass sie ein Engel von Herzensgüte ist.«

»Sie ist ein Engel in jeder Beziehung«, rief Richard wie begeistert. »Haben Sie die himmlisch schönen Züge gesehen?«

»Ja«, antwortete Wilibald.

»Die göttlichen Augen, in denen die Engelsseele des Mädchens lag?«

»Ja.«

»Und die schöne weiße Stirn, den Sitz der Unschuld und Tugend?«

»Ja.«

»Und das braune Lockenhaar, das wie Wellen das reizendste Gesicht der Erde umspielte?«

»Richard«, sprach der Alte lächelnd, »dies alles haben Sie mit einem Blick wahrgenommen? Denn soviel ich weiß, haben Sie nicht mehr als einen Blick auf die Jungfrau gerichtet.«

»Es ist wahr«, antwortete Richard mit leuchtenden Augen, »nur einen Blick, aber er traf das Ideal meiner Träume, meiner Dichtungen; ich sah das Madonnenköpfchen nicht zum ersten Mal!«

»Wie mir scheint, wird Ihnen das aufgetragene Geburtstagsgedicht gelingen, denn der erforderliche Grad von Inspiration ist vorhanden.«

»Noch heute gehe ich an die Arbeit!«

»O mein Gott«, seufzte der Greis leise vor sich hin, indem er an das offene Fenster trat, »auch ich war einst so glücklich, von einem Ideal begeistert zu sein; die feuchten Mauern des Kerkers verlöschten aber das Feuer des Jünglings, der geträumte Himmel wurde durch die Wahrheit der Hölle zertrümmert und ich erwachte, um lebendig unter dem Elend der Erde begraben zu werden.«

Richard saß wie träumend auf dem Stuhl, auf dem zuvor Anna gesessen hatte; er schien alles um sich her vergessen zu haben und bemerkte darum den alten Wilibald nicht, der mit düsteren Blicken in die Wolken hinausstarrte. Der junge Mann schwärmte in der Gegenwart, der Greis gedachte mit einem bitteren Gefühl der Vergangenheit.

»Junger Freund«, begann Wilibald plötzlich, als ob er seine Gedanken redend fortsetzte, »steigen Sie herab aus Ihrem Himmel und kehren Sie zur Erde zurück, denn sie erschließt Ihnen eine hoffnungsreiche Zukunft. Der Alb, der die Geister drückte, ist verjagt und mit ihm die Finsternis, die uns umfangen hielt, uns, die wir jetzt Greise sind. Wir durften nur das zu hoffen wagen, was nicht außer dem Bereich der Knechtschaft lag und die künstlich gestalteten Verhältnisse erlaubten; Ihnen aber ist das Geschick in die Hand gelegt, der Geist darf sich eine Bahn brechen und frei nach seinem Ideal ringen. Darum Mut, mein Freund, und gehören Sie der Erde an, die im ersten Morgenrot der jungen Freiheit zittert. Der Träumer ist ein Verräter an sich selbst!«

»Würdiger Freund«, rief Richard, »Sie haben recht! Meine Mutter, meine arme Mutter wurde ein Opfer der Verhältnisse, ich will es nicht werden! Noch bin ich jung, noch sind Körper und Geist voller Kraft, sich diesen Verhältnissen entgegenzustemmen, sie zu überwinden und eigene zu schaffen. Mein Mut und meine Überwindung sollen meine Mutter rächen!«

»Ihre Hand, Richard«, sprach Herr Wilibald zufrieden lächelnd; »ich sehe, Sie haben mich verstanden!«

»Zwar bin ich arm«, fuhr der junge Mann fort und seine Augen wurden trübe, »so arm, dass ich oft mit Entbehrungen zu kämpfen habe, doch seit Sie mich gelehrt haben, mich selbst zu erkennen, fühle ich mich wie ein Krösus. Die Schätze, die mir der Himmel verliehen hat, kann mir niemand rauben; durch sie will ich meiner armen Mutter das Alter zu verschönern suchen!«

»Brav, Richard«, sprach der Greis, »Sie sind ein guter, wackerer Sohn! Wie werden Sie das Gedicht fertigen?«, fügte er betonend hinzu.

»Als ob ich es für meinen eigenen Vater schriebe.«

»Der Himmel stärke Sie in Ihrem Vorsatz. Jetzt gehen Sie zu Ihrer Mutter!«

Mit einem herzlichen Handschlag schieden die beiden Männer. Richard ging in das Zimmer seiner Mutter, die er zu seiner Freude außerhalb des Bettes antraf, und der greise Wilibald setzte sich, nachdem er seine Tür verschlossen hatte, wieder an seine Arbeit.

Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe)

Подняться наверх