Читать книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader - Страница 14

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8.

Richard hatte indes seine durchnässten Kleider abgelegt und die seines unbekannten Gastgebers angezogen. Als Franz eintrat, saß der Dichter bleich und nachdenkend auf dem Sofa; der plötzliche Wechsel seiner Lage schien keinen günstigen Eindruck auf ihn ausgeübt zu haben. Langsam erhob er sich und fragte in einem fast mürrischen Ton:

»Also Ihnen verdanke ich mein Leben?«

»Ja, ich war der Glückliche«, antwortete Franz, »dessen Gott sich zu Ihrer Rettung bedient hat.«

»Ich kann Ihnen nicht danken«, fuhr Richard düster fort, »denn Sie haben mir einen traurigen Dienst erwiesen.«

»Und ich schätze mich glücklich«, rief Franz, indem er seinem Gast freundlich die Hand drückte, »einem anständigen, braven Mann, der einen Augenblick der Verzweiflung unterlegen war, das Leben gerettet zu haben!«

Richard schwieg einen Augenblick; die Röte der Scham überzog sein bleiches Gesicht – er musste die Blicke zu Boden senken.

»Wer sagt Ihnen, dass ich ein braver Mann bin? Die Tat, die ich begehen wollte, kann als ein Verbrechen gelten, und ich glaube fast, sie ist ein Verbrechen. Mag Gott mich dafür strafen, und Sie, mein Herr, für Ihre schöne Handlung belohnen. Ich bereue nichts, als Sie Ihrer Kleider beraubt zu haben, deren ich mich aus Zerstreuung, oder wer weiß warum, bedient habe – ich danke Ihnen dafür. Leben Sie wohl!«

»Halt«, rief der junge Kaufmann in einem freundlichen Ton, indem er den Verzweifelnden sanft zurückhielt, »so dürfen Sie mich nicht verlassen. Sie sind für diese Nacht mein Gast und bleiben so lange hier, bis Sie sich völlig erholt haben.«

»Lassen Sie mich, mein Herr, ich bedarf der Erholung nicht – lassen Sie mich!«

»Sie wollen gehen«, sprach Franz in einem ruhigen, aber mahnenden Ton, »und Ihre Mutter?«

Richard bebte zusammen.

»Himmel«, rief er, »wer hat Ihnen gesagt, dass ich eine Mutter habe?«

Statt der Antwort überreichte Franz dem Dichter die beiden Papiere, die man bei ihm gefunden hatte.

»Klagen Sie mich nicht der Indiskretion an«, entschuldigte sich Franz, »denn nicht ich, sondern die Polizeipatrouille hat Ihre Taschen durchsucht, um Auskunft über Ihre Person zu erhalten.«

Schweigend empfing Richard die Papiere und steckte sie zu sich. In diesem Augenblick trat eine Magd ein und servierte einen Tisch mit Wein und Speisen. Franz half den Tisch zu arrangieren, während Richard an ein kleines Bücherbrett trat und die darin aufgestellte Bibliothek prüfte.

»Und nun zu Tisch«, rief Franz, als beide wieder allein waren, »dass der Wein das Blut erwärme und unsern Gedanken eine andere Richtung gebe!«

Richard konnte nicht ausweichen, er musste der Einladung seines Gastgebers folgen und sich zu Tisch setzen. Der Dichter hatte nicht viel Appetit, wie sich wohl denken lässt, und zwei Gläser Wein, die Franz ihm aufnötigte, reichten nicht nur hin, sein Blut zu erwärmen, sondern es heißer als gewöhnlich zu machen. In dem gemütlich warmen Zimmer und hinter einer Flasche Wein zerschmolz bald die menschenfeindliche Rinde, die das Elend um sein Herz gezogen hatte, und bald fing er an, sich im Stillen Vorwürfe über seinen Freitodversuch zu machen.

»Sie sehen«, sprach Franz, indem er mit seinem Gast anstieß, »dass mir ihre Lage bekannt ist und dass Sie Vertrauen zu mir haben können.«

»Was fordern Sie«, antwortete Richard und stellte sein leeres Glas auf den Tisch zurück; »soll ich Ihnen meine Unglücksgeschichte erzählen? Der Brief und die elenden Verse müssen Ihnen schon genug gesagt haben. Zwar arm, erhielt ich dennoch die Erziehung eines Reichen, und dies war mein Unglück. Eines schönen Tages stand ich mit meiner Mutter allein in der Welt, niemand beachtete, niemand unterstützte uns; mein Talent, Verse zu machen, war die einzige Quelle, die uns das kärgliche Brot zum Lebensunterhalt bot. Den Schluss haben Sie gesehen: Um meiner kranken Mutter einen Platz im Hospital zu verschaffen, wollte ich mir einen in den Wellen suchen. Dies alles ist sehr einfach, mein Herr, und kann kaum Ihre Neugierde reizen.«

»Wohl wahr«, sprach Franz, die Gläser füllend; »allein der Mann, der Sie bis zum Äußersten trieb …«

»… hat nur seine Pflicht getan«, fiel der Gast ein. »Das Elend in dieser ungeheuren Stadt übersteigt alle Begriffe; es ist wahrhaft entsetzlich! Eine Witwe«, fuhr er mit Bitterkeit fort, »kann an der Tür eines Hospitals noch als reich gelten, wenn sie einen Sohn hat! Es ist wahr, mein Herr, mir liegt die Pflicht ob, für meine Mutter zu sorgen; allein ist es meine Schuld, wenn ich trotz aller Bemühungen keine Arbeit finden kann? Kann man mir meine Erziehung zum Vorwurf machen? Ist es meine Schuld, wenn man mich in allen Karrieren, die ich versuchte, stets unter dem Vorwand wieder entließ, ein Dichter sei zu nichts gut? Überall zurückgestoßen, musste ich wohl in diesem schwachen Talent, das mir bis dahin nur Trost gewährt hatte, eine Nahrungsquelle suchen. Um sicherzugehen, malt man das, was man gesehen, gibt man wieder, was man empfunden hat; und dieser Grundsatz bestimmte mich, der Sänger der verachteten Klasse, der Dichter des Elends und der Not zu werden. Ein unsinniges Unternehmen!« rief er mit einem Seufzer aus, »denn die Glücklichen unseres Jahrhunderts, jene Leute, die nicht glauben, dass es möglich ist, vor Hunger zu sterben, behandelten mich wie einen Träumer, wie einen Misanthropen. Und wenn ich hier oder da einige Sympathie erweckte, so war es nur in den Herzen derer, die in Mangel und Elend lebten wie ich. Um das Maß meines Unglücks vollzumachen, bemächtigte sich meiner eine Leidenschaft, die ebenso hoffnungslos wie schrankenlos ist – doch wozu diese Erörterungen, die Ihnen nur lästig werden, mein Herr; ich bin ein armer Verrückter, von Stolz und Ohnmacht aufgebläht, ein elender Teufel, dem nichts bleibt als der Selbstmord!«

»Mut, Mut, lieber Freund!«, tröstete Franz.

»Freilich ist es schauderhaft, so zu reden, aber ich bin der festen Überzeugung, dass der Dämon der Zerstörung seine Versuche erneuert und dass ich zum zweiten Mal erliege. Ja, sehen Sie mich nur an, mein Herr, ich verdiene das Mitleid nicht, das Ihnen mein Zustand einflößt; es ist Torheit, selbst Schande, sich für mich zu interessieren!«

Mit großer Teilnahme hatte der Associé des Herrn Hubertus den Leidensbericht und die Ausbrüche der Verzweiflung seines Gastes angehört; starr sah er vor sich hin, als ob er auf ein Mittel sänne, dem Elend desselben abzuhelfen. Plötzlich blickte er den armen Dichter freudig an und sprach in einem Ton, der keinen Zweifel über die Annahme seines Vorschlags und über den Ernst, mit dem er gemacht wurde, übrig ließ:

»Wenn Ihnen nun in einer Fabrik, die freilich für den Augenblick mit dem Druck der Zeit zu kämpfen hat, aber bald wieder ihren alten Flor behaupten wird, ein bescheidener, sicherer Platz angewiesen würde, der Ihnen erlaubte, auf bessere Tage zu warten? Wenn sich Ihre Tätigkeit nur auf die Korrespondenz und die Führung einiger Register beschränkte?«

Richard zuckte mit den Achseln, als ob er dies für ein Ding der Unmöglichkeit hielt.

»O es ist nicht so schwer, wie Sie glauben«, fuhr Franz mit Wärme fort, der die Pantomime des Dichters falsch verstanden hatte, »es ist wahrhaftig nicht so schwer, und außerdem kenne ich jemanden, der sich glücklich schätzen würde, Ihnen Anleitung zu geben. Als Gegenleistung von Ihrer Seite würden Sie in den Mußestunden dem Herrn dieser Fabrik, einem guten jungen Mann, der sich bisher nur mit seinem Geschäft befasste, Unterricht in den Wissenschaften erteilen, denn Sie müssen wissen«, fügte er halblaut hinzu, »die Liebe hat diesen Fabrikherrn auf andere Ideen gebracht; er ärgert sich, dass er in den Augen seiner Braut als ein dummer, unwissender Mensch erscheinen muss. Nun«, rief er laut aus, »wenn man Ihnen einen solchen Platz anböte, würden Sie noch daran denken, sich das Leben zu nehmen?«

»Der Vorschlag ist so übel nicht«, meinte Richard; »allein«, setzte er seufzend hinzu, »wo soll ich einen solchen Platz finden?«

»Hier, in meiner Fabrik!«, rief Franz, indem er die Gläser von Neuem füllte. »Sind Sie mit dem zufrieden, was ich Ihnen biete, so stoßen Sie an, denn es kommt aus gutem, wohlmeinendem Herzen!«

Überrascht erhob sich der Dichter von seinem Platz und griff fast zitternd nach dem Glas. Beide stießen an und tranken.

»Sie haben mir Ihre Geschichte erzählt«, begann Franz wieder und zog den Gast auf den Stuhl zurück, »jetzt werde ich Ihnen in wenigen Worten die meinige erzählen. Von meiner frühen Jugend ist mir nur so viel bekannt, dass mich Herr Hubertus, der Besitzer dieses Hauses, aus Mitleid von der Straße aufgenommen hat. Mich hungerte, und er gab mir zu essen; mich fror, und er gab mir Kleidung. Nach zehn Jahren wurde ich sein Kommis, später erhob er mich zu seinem Associé und endlich … doch es ist unnütz, Ihnen zu sagen, durch welche unverhoffte, unerhörte Gunst er das Werk seiner Wohltätigkeit krönte – mit einem Wort: Ich lasse mich für ihn in Stücke reißen! Unglücklicherweise ist es aber nicht wahrscheinlich, dass er je meines Lebens bedürfen wird – wie soll ich ihm nun meine Dankbarkeit beweisen? Da habe ich denn gedacht, ich tue dasselbe für einen andern, was er für mich getan hat. Wollen Sie mir diese Schuld abtragen helfen?«

»O mein Gott«, rief Richard und Tränen traten ihm in die Augen, »es gibt doch noch gute Menschen auf deiner Erde! Reichen Sie mir Ihre Hand, edler Mann!«

»Haben Sie daran gezweifelt?«

»Ich war stets so unglücklich, dass ich nicht anders denken konnte.«

»Nur getrost, mein lieber Freund, Herr Hubertus wird Sie mit den Menschen wieder aussöhnen; unsere Freundschaft soll Sie mit neuen, festen Banden an das Leben knüpfen. Morgen stelle ich Sie meinem Wohltäter vor, dann eilen Sie zu Ihrer Mutter, um die arme Frau durch gute Nachrichten zu trösten, und kehren fröhlich und froh zu uns zurück.«

Dem Dichter wollte das Herz zerspringen vor Freude und Dankbarkeit; bei dem Gedanken an seine Mutter rannen ihm die Tränen über die Wangen; er ergriff beide Hände des jungen Fabrikherrn und rief:

»Wer sind Sie denn, mein Herr, der Sie mich so unaussprechlich glücklich machen? Ich kenne Sie kaum und schon üben Sie einen unwiderstehlichen Einfluss auf meinen Geist aus, dass ich mich nie wieder von Ihnen trennen möchte.«

»Ich bin Ihr Freund und, wenn Sie wollen, Ihr Schüler, denn morgen schon werden wir mit dem Unterricht beginnen. Doch nun zu Bett, lieber Freund, es ist schon spät und wir beide bedürfen der Ruhe.«

Franz ergriff ein Licht und führte seinen Gast in ein Zimmer, das auf demselben Korridor dem seinigen gegenüberlag und mit allen Bequemlichkeiten versehen war.

»Gute Nacht, mein edler, großmütiger Freund!«

Beide reichten sich noch einmal die Hände, dann schieden sie voneinander.

Obgleich erschöpft von der Anstrengung des kalten Flussbades, floh unseren Richard dennoch der Schlaf; alles was ihn umgab, bewies zwar die Wahrheit der glücklichen Umgestaltung seiner Verhältnisse, durch das Elend aber, in dem er stets gelebt hatte, war er so kleinmütig geworden, dass er immer noch nicht daran glauben konnte.

»Mir kommt alles wie ein schöner Traum vor«, sprach er zu sich selbst. »Sollte ich wirklich einen Freund gefunden haben, der mich in die Lage versetzt, meiner armen Mutter für die Zukunft eine Stütze zu sein? Ich kann an dieses Glück kaum glauben, denn das Schicksal hat für uns nur Not und Elend; die Freuden des Lebens sind für andere bestimmt. Nein, nein, es ist doch Wahrheit und kein Traum, denn noch höre ich die Worte, noch fühle ich den Händedruck meines neuen Freundes; es ist Wahrheit! Und durch ein Verbrechen, durch den Selbstmord ist diese Veränderung meines Lebens herbeigeführt worden. O mein Gott«, rief er aus und streckte die Hände empor, »ich fühle, dass es nicht recht war, an dir zu verzweifeln, denn du bist ja immer da am nächsten, wo die Not am größten ist; du lässt keines deiner Geschöpfe im Elend untergehen! Wohlan, ich will von diesem Augenblick an nie mehr an den Tod denken, sondern mich standhaft dem Leben stellen und fleißig für meine Mutter arbeiten; vielleicht ist das Schicksal müde uns länger zu verfolgen, denn wir haben genug gelitten. Gute Nacht, Mutter, morgen, wenn der Tag graut, sehe ich dich wieder, um dir unser Glück zu verkünden!«

Dieser Vorsatz schien den aufgeregten Geist des jungen Mannes beruhigt zu haben; der Schlaf kam und schloss ihm die müden Augen. An der Schwelle des Tores, durch das Richard in das Reich der Träume trat, stand Anna; aber wie ein Nebelgebilde verschwand sie wieder, kaum dass er sie gesehen hatte.

Der nächste Morgen brachte einen kalten, aber hellen Novembertag. Kaleb, der alte Kassierer, war der erste im Haus, der sein Bett verlassen hatte. Die Sorge um das Kapital, das er trotz der beruhigenden Nachricht, die Franz gebracht hatte, dennoch bei dem Bankier nicht sicher wähnte, lag ihm so schwer auf dem Herzen, dass es ihn nicht länger auf seinem Lager hielt. Es war sechs Uhr, als der Greis in das Kontor trat und dessen Fensterläden öffnete. Nachdenkend blieb er einige Augenblicke stehen und betrachtete durch die Scheiben des Fensters den roten Streifen, der im Osten den jungen Tag verkündete.

»Was wird dieser Tag uns bringen?«, seufzte Kaleb; »ein ahnendes Gefühl prophezeit mir nichts Gutes!«

Langsam verließ er das Zimmer, schritt durch den weiten Hausflur und öffnete die Haupttür des Hauses. Der große Platz lag noch in den Schatten der Nacht eingehüllt, und die Laterne, die an einem langen eisernen Arm neben der Tür angebracht war, verbreitete noch einen hellen Lichtschein. Als sich der alte Mann wieder in das Innere des Hauses zurückziehen wollte, trieb der Zugwind, der durch das Öffnen der Tür entstanden war, ein Stück Papier von der Straße heran. Neugierig bückte sich Kaleb zur Erde und hob es auf.

»Was ist das?«, sprach er leise und trat unter die Laterne, um den Fund näher zu untersuchen. »Ein Stück von einem Anschlagzettel«, fuhr er beruhigt fort, als er die großen gedruckten Buchstaben sah; »wahrscheinlich hat sich ein Mutwilliger den Spaß gemacht, ihn von der Ecke unseres Hauses abzureißen, wo in der Regel die Bekanntmachungen der Behörden angeklebt werden. Wollen doch sehen, was er enthält.

Eine Belohnung von dreitausend Dukaten wird dem zugesichert, welcher dem Generalkommando den Verfasser der Schmähschrift ›Die Jesuitenkrone‹ dergestalt zur Anzeige bringt, dass er zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Dreitausend Dukaten für eine Anzeige! Ich habe gestern schon davon gehört, allein ich wollte es nicht glauben. Die Verführung zur Verräterei ist wahrlich groß; ich bin ein eifriger Verehrer der gesetzlichen Ordnung, aber zu solchen Verlockungen sollten deren Vertreter die Steuern der Untertanen nicht verwenden; das ist ein Judaslohn, der hier ausgelobt wird! Hätte ich den Zettel an unserm Haus erblickt, ich hätte ihn ebenfalls abgerissen. Aber wissen möchte ich doch, was diese Schrift so Unerhörtes enthält, dass man eine solche Summe darauf setzt – sie muss entweder Lügen verbreiten oder Wahrheiten, die man fürchtet, und eine Regierung sollte doch die Wahrheit nicht fürchten!«

Der Greis hatte sich so tief in sein Selbstgespräch versenkt, dass er einen einfach gekleideten Mann, der schon seit einigen Minuten aus dem Dunkel an ihn herangetreten war und ihn belauscht hatte, nicht bemerkte. In dem Augenblick, als Kaleb kopfschüttelnd in das Haus zurückkehren wollte, vertrat ihm der Fremde den Weg.

»Sie wollen wissen, was jene Schmähschrift enthält«, sprach der Mann, »auf deren Verfasser man eine Belohnung ausgesetzt hat? Ich kann es Ihnen sagen.«

»Mein Herr«, rief Kaleb erschrocken, »wer sind Sie, dass Sie es wagen …?«

»Erschrecken Sie nicht, alter Freund, mich leitet keine böse Absicht. Das Libell beschuldigt die Krone, dass Sie sich der Jesuiten bedient habe, das Volk in geistiger und körperlicher Knechtschaft zu halten; es entdeckt Frevel und Verbrechen, die in den Klöstern und Staatsgefängnissen verübt worden sein sollen; es stachelt das Volk zu offenem Aufstand an, die Vergangenheit durch den Umsturz des Thrones zu rächen und die durch die letzte Revolution errungenen Freiheiten zu sichern und auszudehnen. Es bemüht sich ferner zu beweisen, dass die Krone nicht aufrichtig gesinnt ist, dass sie die Fäden der Reaktion bereits wieder gesponnen hat und das arme Volk im passenden Augenblick durch einen furchtbaren Schlag in den Abgrund der Knechtschaft zurückschleudern will. Diese Anklagen, mein Freund, enthält die fragliche Schrift. Soviel man bis jetzt ermittelt hat, ließ sie der General B., der mit einem Teil seiner Truppen zum Volk übergetreten ist, vor der Eroberung der Hauptstadt im ganzen Land verbreiten, um zur Erreichung des angegebenen Zwecks die Provinzen für sich zu gewinnen; allein das Los der Waffen hat bereits zu seinem Nachteil entschieden. Obgleich durch Truppenmacht gesichert, ist der Monarch in der öffentlichen Meinung dennoch schwer gekränkt, und aus diesem Grund legt man ein so großes Gewicht auf die Entdeckung des Verfassers.«

Das anständige Äußere des Fremden und der freundliche, belehrende Ton, mit dem er sprach, hatten den alten Kassierer abgehalten, sich zu entfernen; neugierig hörend war er an der Schwelle der Tür stehen geblieben.

»Ist es möglich«, rief er erstaunt, »dass man solche Beschuldigungen gegen die Krone erheben kann? Es ist ja doch nur Verleumdung, nicht wahr? Aber welchen Zweck verfolgen Sie, mein Herr, dass Sie hierherkommen und mir dies alles sagen?«

»Ich verfolge durchaus keinen Zweck«, antwortete der Fremde gleichgültig; »ich ging hier vorbei, hörte zufällig Ihr Selbstgespräch und wollte nur Ihre Neugierde befriedigen.«

»Danke, mein Herr! Demnach ist der Verfasser jenes Libells ein Anhänger des Generals?«

»Die Umstände bestätigen diese Vermutung.«

»Ich bedaure den armen Mann«, sprach Kaleb.«

»Warum?«, fragte der Fremde rasch. »Haben Sie ihn gekannt?«

»Nein, ich habe ihn nicht gekannt, aber das Volk kenne ich, dessen Sache der General so töricht war, zu verfechten.«

»Der General war ein braver Mann, der von den Soldaten und vom Volk allgemein geachtet und geliebt wurde.«

»Er war, sagen Sie, mein Herr? Ist er im Kampf gefallen, oder hat man ihn heimlich erschossen?«

»Nein, mein Freund«, erwiderte der unbekannte Mann, »noch ist er am Leben; aber er ist gefangen und soll diesen Morgen als Hochverräter vor ein Kriegsgericht gestellt werden.«

»Vor ein Kriegsgericht«, rief Kaleb und schauderte unwillkürlich zusammen. »Man wird nicht wagen, ihn zum Tode zu verurteilen.«

»Und warum?«

»War es nicht der General, der den Pöbel in der verhängnisvollen Zeit durch sein Ansehen im Zaum hielt? War er es nicht, der das Leben und das Eigentum des Bürgers schützte und der Anarchie entgegenwirkte? War er es nicht, der das Ansehen der Gesetze zu erhalten suchte, während der Monarch und seine Minister die Hauptstadt verließen, statt ihre Pflicht zu erfüllen und durch Nachgiebigkeit sowohl als durch Strenge den Frieden wiederherzustellen? Mir scheint, er hat durch das, was man ihm zum Verbrechen anrechnet, mehr der Regierung als dem Volk genützt – ich kann es nicht glauben, dass man ihn zum Tode verurteilt!«

»Aber das Kriegsgericht wird ihn zum Tode verurteilen«, sprach der Fremde, indem er dem Kassierer des Herrn Hubertus näher trat und den Ausdruck seines Gesichtes scharf beobachtete.

»Aber was werden seine Freunde dazu sagen?«, antwortete Kaleb. »Wie man sagt, hat er deren viele, sowohl in den höheren Ständen als unter den Bürgern. Außerdem gehört er auch einer Familie an, deren Angehörige sich seit langer Zeit in der Nähe des Thrones befanden und wichtige Staatsämter bekleideten – sollten diese nichts zu seiner Rettung unternehmen?«

Der Fremde schwieg einen Augenblick und sah den alten Mann prüfend an. Dann antwortete er mit leiser Stimme:

»Man wird etwas zur Rettung des Generals unternehmen; wollen Sie dabei hilfreiche Hand leisten?«

Kaleb fuhr überrascht zurück.

»Wie«, rief er, »ich soll dabei helfen?«

»Sprechen Sie leise, lieber Freund«, sagte der Fremde und sah sich vorsichtig um; »sprechen Sie leise, dass uns niemand hört!«

»Mein Herr«, fragte Kaleb, der sich von seinem Erstaunen nicht erholen konnte, »was kann ich dabei tun?«

»Der General befindet sich als Gefangener in dem Staatsgefängnis, das an Ihre Fabrik grenzt.«

»Ist es möglich!«

»Man weiß, dass ein unterirdischer Gang vorhanden ist, der das Gefängnis mit den Kellern dieses Hauses verbindet. Der Gang ist im letzten Krieg verschüttet worden, er kann aber in wenigen Stunden wieder geöffnet und so als Rettungsweg für den General benutzt werden. Wenn sich nun zwei vertrauensvolle Männer mit einem verabredeten Erkennungszeichen, die sie als von Freunden des Generals ausgesandt kennzeichnen, bei Ihnen einstellten, würden Sie ihnen wohl Zutritt in Ihre Keller gestatten? – Setzen Sie einen Preis auf diesen Dienst, auch wenn er noch so hoch ist.«

»Mein Herr«, antwortete Kaleb, dessen Verwunderung den höchsten Grad erreicht hatte, »ich bin nur ein Diener in diesem Haus; darum ersuche ich Sie, meinem Herrn diesen Vorschlag zu machen. Wenn Sie wollen, werde ich Sie zu ihm führen.«

»Das ist unnütz!«

»Hat Ihnen Herr Hubertus vielleicht schon eine abschlägige Antwort erteilt?«

»Mein Freund«, antwortete der Fremde ausweichend, »halten Sie die Ausführung meines Verlangens für ein Verbrechen?«

»Allerdings«, antwortete Kaleb bestimmt, »denn sie könnte meinem Herrn die strengste Strafe zuziehen. Obgleich ich lebhaften Anteil an dem Geschick des unglücklichen Generals nehme, würde ich mich doch nie entschließen können, ihm das Glück des Herrn Hubertus zu opfern, selbst wenn dies das einzige Mittel wäre, ihn vom Tod zu retten!«

»Ist das Ihr letztes Wort? Wollen Sie nichts tun, um der Welt einen braven Mann zu erhalten, einen Mann, der seinen Lebensretter vielleicht schon in Kürze glänzend belohnen und ehrenvoll auszeichnen kann?«

»Unter den Bedingungen, mein Herr, die Sie mir vorgeschlagen haben, mein letztes Wort; kann ich auf andere Weise nützen, bin ich bereit.«

»Vergessen Sie, dass Sie mich gesehen haben«, sprach der Fremde, wandte dem greisen Kassierer den Rücken zu und schritt eilig über den Platz, auf dem sich nach und nach die Morgendämmerung ausbreitete.

Nachdenkend kehrte Kaleb ins Haus zurück.

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