Читать книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader - Страница 8

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2.

Auf einem großen Platz der inneren Stadt erhob sich ein schönes, drei Stock hohes Haus, über dessen Haupteingang die Firma »Hubertus et Comp.« in mächtigen Buchstaben zu lesen war. Schon früh, wenn der Morgen dämmerte, öffneten sich dessen schwere Flügeltüren, um zahlreichen Arbeitern den Zutritt in den Hof zu gestatten, der die weitläufigen Fabrikgebäude des Herrn Hubertus umfasste. Einem Garten gleich war dieser freundliche Hof zu schauen, denn Beete mit duftenden Blumen und Gesträuchen, und Alleen von Schatten spendenden Linden- und Kastanienbäumen bildeten für den aus der grauen Häusermasse der Straßen Eintretenden einen lieblichen Kontrast, sodass er sich auf dem Lande wähnte. Diese Illusion wurde indes gestört, wenn man die Blicke zu der dem Haus entgegengesetzten Seite schweifen ließ, denn eine dunkle, von starken Strebepfeilern gestützte Steinmasse, riesengroß über die heiteren Fabrikgebäude emporragend, bot einen unerquicklichen Anblick dar. Es war das Staatsgefängnis, eine aus dem Mittelalter herstammende Burg, in der man Verbrecher, und namentlich politische, während ihrer Untersuchung in Haft hielt. Wie ein drohendes Gespenst lag das alte graue Gemäuer da, und wenn auch die an den kleinen ovalen Fensteröffnungen angebrachten Holzkästen, die den Gefangenen den Anblick der freien Luft entziehen sollten, seinen Zweck nicht sogleich verraten hätten, so erfüllte es den Beschauer dennoch mit einem unheimlichen Gefühl, dessen sich selbst der nicht erwehren konnte, der den Anblick nicht zum ersten Mal hatte. Auf den Gartenwegen gewahrte man jedoch nichts von diesem Grab lebender Menschen, wenn in der schönen Jahreszeit die Bäume und hohen Gesträuche ihr grünes Blätterdach ausspannten, und wohl mancher hat den Garten betreten, ohne die grausige Nachbarschaft auch nur geahnt zu haben.

Die Kontore und Lager des Fabrikherrn befanden sich im Erdgeschoss des geräumigen Vordergebäudes, das erste Stockwerk enthielt dessen Wohnzimmer und im zweiten befanden sich außer einigen Gästezimmern die der Domestiken.

Die Firma des Herrn Hubertus war eine der geachtetsten in der ganzen Stadt; mehr als hundert Arbeiter fanden unter seinem Dach fortwährende Beschäftigung und Lebensunterhalt, und seine Seidenfabrikate waren beliebt, weil sie gut und solide gearbeitet waren. Obgleich die Firma noch einen Kompagnon andeutete, so war Hubertus doch deren alleiniger Inhaber; er hatte sie beibehalten, wie er sie von seinem Vater geerbt hatte. Auch an ihm war die verhängnisvolle Zeit nicht erfolglos vorübergegangen; die allgemeine Stagnation des Handels und der Geschäfte, durch die Revolution aller Länder erzeugt, hatte ihn, den Kaufmann von echtem Schrot und Korn, veranlasst, Einschränkungen in seinem Geschäft vorzunehmen und teils die jüngeren Arbeiter zu entlassen, teils Kürzungen des Gehaltes eintreten zu lassen; Maßnahmen, die den ohnehin strengen Herrn bei seinen Arbeitern nicht beliebter machten, denn sie nahmen an, dass er von dem in guten Zeiten durch ihren Schweiß aufgehäuften Vermögen in der vorübergehenden schlechten nichts opfern wolle und dass nur der Geiz, nicht aber die Not der Zeit ihn zu diesem Schritt veranlasst habe. Diese Meinung war indes eine irrige; schon seit einigen Jahren hatte Hubertus durch Fallissements ausländischer Häuser nicht unbedeutende Verluste erlitten; die leidige Konkurrenz in neuester Zeit hatte ihn zur Herabsetzung der Fabrikpreise getrieben, und wenn er nicht schon längst zu einer Einschränkung seines Geschäftes geschritten war, so hatte ihn nur der Stolz, die Firma seines Vaters in dem bisherigen Glanz fortbestehen zu lassen, davon abgehalten.

Herr Hubertus war Witwer; seine Gattin ruhte schon seit fünf Jahren im Grab. In seiner Tochter Anna, einer blühenden Jungfrau von achtzehn Jahren, war ihm indes das Ebenbild seiner geliebten Hausfrau geblieben; auf sie hatte er alle seine Liebe übertragen, bei ihr fand er Trost und Erholung, wenn die stets welkende Blüte seines Geschäfts ihn missmutig gestimmt hatte, und nur sie war dann imstande, die Wolken von seiner Stirn zu verscheuchen und ihm Mut und Hoffnung auf die Zukunft einzuflößen.

Anna war in einer der ersten Pensionsanstalten der Hauptstadt erzogen worden; zwar ausgerüstet mit den nötigen Kenntnissen und Manieren, um sich in den Zirkeln der großen Welt bewegen zu können, hatte sie dennoch die schlichte und gerade Denkart einer einfachen Bürgerstochter bewahrt, und obwohl ihr liebenswürdiger Charakter durch die moderne Erziehung einen leichten Anstrich von romantischer Schwärmerei erhalten hatte, waren ihre religiösen Empfindungen dennoch rein und unverfälscht geblieben; ihre guten Vorsätze und Handlungen entsprangen stets ihrem unverfälschten Herzen; Koketterie, diesen mächtigen Hebel an Geist und Herz verbildeter junger Damen, kannte sie nicht. Ein köstlicher Maimorgen hatte sich zur Erde niedergesenkt. Rosen und Veilchen wetteiferten, den kleinen Park des Herrn Hubertus mit lieblichen Gerüchen zu füllen, und ein leichter angenehmer Morgenwind durchsäuselte das junge frische Grün an Gesträuchen und Bäumen. Die Fenster der den Park umgebenden Fabrikgebäude waren geöffnet und ein ununterbrochenes monotones Rauschen, das sich mit dem Flüstern des Morgenwindes mischte, gab Kunde von der Regsamkeit der Arbeiter. Die Fabrikuhr zeigte die zehnte Stunde an, als Anna, ein leichtes elegantes Strohhütchen auf dem Haupt, in einem weißen Kleid, mit einem kurzen schwarzseidenen Mantel darüber, aus dem Tor des Hauptgebäudes trat und leicht wie ein Reh durch die reinlichen Wege des Gartens hüpfte. Bei einem Rosenstock, dessen Knospen die Frühsonne halb erschlossen hatte, blieb sie stehen und bewunderte einige Minuten die Fülle der jungen Blumen, die mit der Zahl der Blätter wetteiferten; dann schlug sie den leichten Mantel zurück, trat einen Schritt in das Beet hinein und pflückte, ohne die zarte Hand von der engen Hülle des weißen Handschuhes zu befreien, einige der duftenden Blumen. Darauf trat sie in den Weg zurück, formte die Rosen durch einen silbernen Ring zu einem Strauß und schickte sich an, den Garten wieder zu verlassen. In diesem Augenblick trat ein junger Mann aus einem Seitengang und vereitelte durch einen freundlichen Gruß die Absicht des jungen Mädchens. Anna blieb stehen und dankte dem Grüßenden mit einem heiteren, doch ruhigen Lächeln, wobei sie ihm die Hand entgegenstreckte.

Der junge Mann war einfach, aber sorgfältig gekleidet, fast mit jener Ängstlichkeit, die den jungen Leuten eigen zu sein pflegt, wenn ihnen besonders daran liegt, jemandem zu gefallen. Sein Gesicht war zwar bleich, aber ohne ihm ein krankes Aussehen zu geben; sein dunkelblaues Auge, von schwarzen Wimpern und starken dunklen Brauen beschattet, zeugte von Geist und Charakter, und die Regelmäßigkeit seiner Züge verlieh ihm ein Interesse, das mancher blühende Jüngling umsonst zu erstreben sucht. Drei- bis vierundzwanzig Jahre schienen bereits an seinem Haupt vorübergegangen zu sein.

»Wie, Anna«, sprach der junge Mann in einem vertraulichen, doch ehrerbietigen Ton, »so früh wollen Sie schon ausgehen?«

»Ich kann es, dem Himmel sei Dank«, antwortete Anna und ließ ihre Hand in der des Fragers ruhen, »ich kann es, denn mein Vater bedarf jetzt schon meiner Sorge nicht mehr. Die zurückgekehrte Gesundheit des Körpers hat einen so wohltätigen Einfluss auf den sonst so verschlossenen Charakter des Greises ausgeübt, dass er schon vor einer Viertelstunde einen Spaziergang aufs Land unternommen hat, wozu er, wie Sie wissen, bis jetzt nicht zu bewegen war. Ich wollte ihn begleiten, allein er lehnte es ab und forderte mich auf, da die Reihe an mir sei, mich den Damen unsres Vereins anzuschließen und die Wohnungen der Armen zu besuchen, die durch den Druck der Zeit dem Elend preisgegeben sind.«

»Anna«, rief der junge Mann mit Empfindung und drückte die kleine Hand an seine Lippen, »Sie können diesen köstlichen Maitag nicht besser beginnen als durch Handlungen der Wohltätigkeit! Ich weiß, Ihrem schönen Herzen ist es fremd, mit dem Wohltätigkeitssinn zu kokettieren; Sie trachten nicht danach, wie so viele andere Damen unserer Residenz, durch Spenden an die Armut Aufmerksamkeit erregen zu wollen und nur unter Beachtung einer gewissen Förmlichkeit den Leidenden beizustehen, einer Förmlichkeit, die alles Mitgefühl in der Brust erkalten lässt und in eine Mode verwandelt – aber weil ich Ihr Herz kenne, fürchte ich, dass der Anblick des Jammers, den so viele Tausende unserer Mitbrüder jetzt erdulden, Sie schmerzlich berühren und in Ihnen Gefühle erwecken muss – ach, Anna, und ich habe Ihnen so viel zu sagen!«

»Fürchten Sie das nicht«, sprach Anna mit einem zauberischen Lächeln, »das Bewusstsein, Gutes getan zu haben, ist kein drückendes Gefühl. Nur wenn ich daran denke, dass ich nicht allen helfen kann, treten mir die Tränen in die Augen, und ich muss bekennen, dass ich nur mit Bitterkeit an die Urheber all dieses Elends denke. Glauben Sie mir, lieber Franz, wäre ich eine Kaiserin, es sollte anders um die armen Leute stehen; anstatt vor dem Ausbruch der Verzweiflung fliehen zu müssen, sollte mich alles freudigen Auges als Mutter begrüßen; die Dankbarkeit sollte meine Schutzwache sein und die Liebe meiner armen Untertanen die glatten Worte verdrängen, die jene herzlosen Damen flüstern, die, alle Weiblichkeit verleugnend, nur ehrgeizigen Plänen nachhängen, das Gewimmer der Armut verspottend. Darum lassen Sie mich, lieber Franz, ich kehre bald zurück und dann …«

»Nur einige Augenblicke«, rief der junge Mann dringend und ergriff abermals die Hand des jungen Mädchens, »später habe ich keine Zeit, da die Arbeiter heute ihren Lohn ausgezahlt bekommen.«

»So bleibt uns morgen und übermorgen noch Zeit!«

»Anna«, sprach Franz mit einem bitteren Lächeln, »soll auch ich an Ihren Wohltätigkeitssinn appellieren? Bin ich von Ihrer Milde ausgeschlossen?«

»Franz, Sie lästern!«, rief das junge Mädchen schelmisch drohend, und eine Röte der Verlegenheit überzog ihr liebliches Gesicht, die mit dem frischen Purpur der Rosen zu wetteifern schien. Beide standen einen Augenblick verlegen da, dann sprach Anna in einem Ton, der deutlich die Reue verriet, dass sie dem jungen Mann nicht gleich Gehör geschenkt hatte:

»So reden Sie, lieber Franz, ich werde ein wenig rascher gehen, um die versäumte Zeit aufzuholen. Was haben Sie mir zu sagen?«

Franz ergriff sanft ihren Arm und zog sie hinter den Rosenstrauch zurück, der die Aussicht auf die Fabrikgebäude verdeckte; Anna, die Blicke auf ihren Rosenstrauß geheftet, folgte ohne Widerstreben, obgleich der Ausdruck ihres Gesichts deutlich anzeigte, dass sie die Unterredung lieber vermieden hätte.

»Wollen Sie mich einige Minuten ruhig anhören, liebe Anna?«, fragte Franz, indem er beide Hände der Jungfrau ergriff.

»Reden Sie, lieber Freund, ich bin bereit zu hören!«

Mit einem tiefen Seufzer schien sich Franz zu sammeln, dann begann er:

»Anna, noch ehe das Grün dieser Bäume schwindet, soll ich Sie zum Altar führen!«

»Ich weiß es«, flüsterte Anna, und senkte abermals ihre Blicke auf den Blumenstrauß zurück.

»Mein Glück«, fuhr der junge Mann mit Leidenschaft fort, »ist so groß, dass ich kaum daran zu denken wage, und wenn ich daran denke, schätze ich mich dessen für so unwert, dass ich es nur für einen schönen Traum halte. O mein Gott – ich Ihr Gatte, der arme Kommis der Gatte eines Engels! Ach, Anna, Sie wissen nicht, dass ich Sie schon so lange liebe, wie ich Sie kenne! Und das ist schon eine sehr lange Zeit, denn als Ihr Vater mich in sein Haus aufnahm, waren Sie noch ein Kind, und ich, der ich es ebenfalls noch war, zitterte bei Ihrem Anblick, wie ich in diesem Augenblick bei dem Gedanken an mein unbeschreibliches Glück zittere. Ich liebte Sie schweigend, hoffnungslos, denn wie konnte ich mir einbilden, dass ich mich je bis zu Ihnen erheben würde oder dass Sie zu mir herabsteigen würden? Da bewirkte der Wille Ihres Vaters dieses Wunder, das mir im Reich der Unmöglichkeit gelegen hatte, und ich glaubte vor Freude und übergroßem Glück den Verstand zu verlieren. Und dennoch ist meine Freude nicht ganz rein und vollkommen, denn seit dem Tag, an dem unsere Verbindung festgesetzt wurde, sind Sie nicht mehr dieselbe, Sie sind traurig und nachdenklich, und dies macht mir wieder Kummer. Anna, seien Sie offen, betrübt Sie diese Heirat? O bekennen Sie mir den Grund Ihrer Veränderung, welcher es auch sei, ich werde Ihnen darum nicht böse sein! Ich weiß, Anna, Ihre Erziehung ist von der meinigen sehr verschieden; Sie sind in der ersten Pensionsanstalt der Residenz gebildet worden und besitzen alle jene Kenntnisse, die erforderlich sind, um in den größten Zirkeln zu glänzen, während ich, ein einfacher Buchhalter, mich nur unter meinen Registern und Fabrikarbeitern zu bewegen weiß – Sie müssen mich sehr unwissend und roh finden; darum reden Sie jetzt offen wie eine Schwester zu dem Bruder: Können Sie mich lieben, Anna?«

»Franz«, sprach Anna mit einem milden Lächeln, das von der Güte ihres Herzens zeugte, »warum sollte ich Sie nicht lieben? Sind Sie nicht der Gefährte meiner Jugend? Sind Sie nicht meines Vaters bester, treuester Freund, dessen Sorge und Tätigkeit ihn bereits zweimal vom drohenden Untergang rettete? Konnten Sie vermöge ihrer Talente, die auch andere zu schätzen wussten, nicht schon öfter vorteilhaftere Stellungen erhalten, und haben Sie nicht stets alle Anerbietungen ausgeschlagen und sind bei uns geblieben? Ich müsste ja eine undankbare Tochter sein, wenn ich bei solchen Beweisen von Aufopferung und Liebe unempfindlich bliebe!«

Des jungen Mannes Lippen umspielte ein trübseliges Lächeln, denn er hatte das Ausweichende in Annas Antwort nur zu gut verstanden; der heitere, gefühlvolle Ton, in dem ihm diese Antwort erteilt worden war, konnte ihn nicht täuschen. »Anna«, sprach er mit unterdrückten Tränen, indem er sich zur Seite wandte und ein Blatt von dem Rosenstrauch brach, »Ihre Worte beweisen abermals, wie gut Sie sind, und lehren mich den Schatz kennen, den Ihr künftiger Gemahl in Ihnen besitzen wird; aber Ihre Hand als Lohn für die Dienste anzunehmen, die ich so glücklich war, Ihrem Vater leisten zu können, wird mich nichts in der Welt vermögen. Dass ich ihn nicht verlassen habe, als man mir vorteilhaftere Angebote machte, rechnen Sie mir zum Verdienst an? Nein, Anna, auch ohne die Aussicht auf den Besitz Ihrer Hand wäre ich geblieben, denn bin ich nicht eines seiner Kinder? Habe ich, die arme verlassene Waise, in Ihrem Haus nicht die liebende Familie wiedergefunden, die ich in meiner frühen Jugend schon verloren habe? Nicht Ihr Vater hat meiner, sondern ich Ihres Vaters bedurft, nicht er ist der Verpflichtete, sondern ich! Und, Anna, was das Wichtigste ist, nicht Dankbarkeit und Freundschaft bilden das Glück der Ehe – ich selbst würde der unglücklichste aller Männer sein, wenn ich meine Liebe nur durch das Gefühl der Dankbarkeit und Freundschaft erwidert sähe. Nein, Anna, rechnen Sie mir nicht zum Verdienst an, was Notwendigkeit und Dankbarkeit mir zu tun geboten haben; weder Sie noch Ihr Vater sind mir zu irgendeinem Opfer verpflichtet.«

Die letzten Worte hatte Franz so leidenschaftlich gesprochen, dass Anna, wie zum Scherz erschreckend, einen Schritt zurückgewichen war. Der junge Mann bemerkte das Zurückweichen nicht, denn um die Glut seines Gesichts zu verbergen, hatte er sich wieder zu dem armen Rosenstrauch gewendet und brach mit einer wahren Hast Blatt um Blatt und Knospe um Knospe ab, die er anschließend auf den Weg warf. Anna hatte einige Augenblicke Zeit, sich zu fassen; ruhig, mit der ihr eigentümlichen Milde, trat sie ihm wieder näher, ergriff seine Hand und sprach in einem Ton, der Franz das Herz durchschnitt:

»Was wollen Sie denn für eine Antwort von mir, lieber Franz? In meinem Institut, das ich erst seit einiger Zeit verlassen habe, hatte ich nie Gelegenheit, über solche Dinge zu reden; die Sprache der Liebe ist mir noch fremd, ich höre sie heute zum ersten Mal; aber ich muss auch bekennen, dass mich diese Sprache durch ihre Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit erschreckt. Ist es nicht gleichviel, unter welchem Titel Sie mir lieb und wert sind? Ich kenne alle Pflichten einer christlichen Hausfrau und versichere Ihnen, dass ich sie mit großer Freude erfüllen werde. Was verlangen Sie mehr von mir?«

»O mein Gott, können Sie mir verzeihen?«, rief Franz, indem er sich den Schweiß von der hohen Stirn trocknete und bei dieser Gelegenheit auch den Tränenschleier entfernte, der sich über seinen Augen gebildet hatte. »Ach, meine Fragen müssen Sie wohl erschreckt haben und ich erscheine Ihnen als ein unzurechnungsfähiger Mensch. Es ist ja klar, Anna«, fuhr er schmerzlich lächelnd fort, »wie können Sie mich anders lieben, als es jetzt der Fall ist; später wird es vielleicht anders sein. Ach«, rief er freudig, »die Hauptsache ist, dass Sie außer mir keinem andern so zugetan sind; ich kann deshalb ruhig sein, nicht wahr? Wo auch sollten Sie einen andern jungen Mann kennengelernt haben?«

»Herr Franz!«, sprach Anna mit vorwurfsvollem Ton und wendete sich schmollend halb zur Seite. »Kann ich nun gehen?«

»Hören Sie mich noch einen Augenblick an: Jetzt, da ich weiß, woran ich bin, will ich Ihnen einen Plan mitteilen, den ich im Laufe dieses Sommers noch ausführen werde.«

»Einen Plan?«, fragte das junge Mädchen verwundert.

»Ja, einen schönen Plan.«

Franz stockte einen Augenblick, als ob ihm die Mitteilung dieses Planes wieder leidtun würde oder er sich dessen schämte.

»Nun«, fragte Anna neugierig, indem sie sich ihm wieder zuwandte.

»Anna«, begann der Kommis endlich mit halber Stimme, als ob er fürchtete, von einer dritten Person gehört zu werden, »damit sie sich vor der Welt, und vorzüglich vor Ihren Freundinnen, Ihres Mannes nicht zu schämen brauchen, habe ich beschlossen, mich in all den Wissenschaften auszubilden, die Sie in der Pensionsanstalt erlernt haben und die mir bis jetzt fremd geblieben sind – zum Beispiel Geschichte, Zeichnen, Musik; es ist zwar ein wenig spät, aber Sie werden mich anfeuern und meine Studien leiten. Wollen Sie das?«

»Gern, mein Freund«, antwortete das junge Mädchen fast gerührt; »nur fürchte ich, dass Sie Ihre Lehrerin in kurzer Zeit überflügelt haben werden, denn ich kenne Ihre Ausdauer und Ihren empfänglichen Geist. Doch«, fügte sie sanft hinzu, »nicht des Zweckes wegen, den Sie vorhin nannten, wollen wir uns beschäftigen, sondern der Unterhaltung und des Vergnügens wegen. Meine kleine Bibliothek steht Ihnen zur Verfügung, sooft Sie es wünschen; hören Sie, sooft Sie es wünschen.«

Die Fabrikuhr deutete durch zwei halbe Schläge an, dass eine halbe Stunde vergangen war.

»Mein Gott«, rief Anna überrascht, »schon halb elf Uhr? Nun, kann ich jetzt gehen?«

»Ach, Verzeihung«, rief der glückliche Franz, »dass ich Sie so lange mit meinem lästigen Geschwätz aufgehalten habe. Auf Wiedersehen, auf recht baldiges Wiedersehen!«

»Der Kommis küsste die niedliche Hand der Jungfrau, dann ging er durch den Weg, den er gekommen war, in sein Kontor zurück.

Anna verließ, wie es schien, sinnend das Haus, bestieg einen Fiaker, der auf dem Platz hielt, und fuhr in das Innere der Stadt.

Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe)

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