Читать книгу Der Krieg - Barbara E. Euler - Страница 13
Zehntes Kapitel
ОглавлениеAuch nach Tagen war keiner über sie gekommen. Plötzlich musste Lelle daran denken, als sie den Hasen sah, den der kunstvoll geschnitzte Pfeil Bantaks nicht getötet, sondern nur am Boden festgenagelt hatte, dass das Tier zappelte und schrie. Sie waren ganz alleine hier im Wald, sie und Bantak, der Zigeuner, der den komischen kleinen Ritter zu einer Jagdpartie mitgenommen hatte; aus Neugier; aus Lust… Lust auf Töten. Lust auf Liebe… Lelle fragte sich, was er in ihr sah. „Geht mit ihm!“, hatte Moira gesagt.
Bantak packte den Hasen, dessen rehbraunes Fell sich voll Blut zu saugen begann, und zog den Pfeil aus dem Boden und aus dem weichen, zuckenden Körper und hatte plötzlich ein Messer in der Hand und durchschnitt dem Hasen die Kehle und es war vorbei. Er hielt den Kadaver von sich weg, dass das Blut in die Erde lief, und grinste. „Häuten und ausnehmen!“, sagte er, als er ihr das Tier zuwarf. Das blutige Tier flog gegen Gabriels Mantel. Lelle packte den warmen Körper und beugte sich darüber und sog den herben Geruch des Blutes ein. „Das Messer“, sagte sie rau. Bantaks Grinsen erstarb. Zögernd reichte er ihr das Jagdmesser. Lelle nickte. Es war kein Skalpell, aber es war scharf und die Spitze lang und schmal. Der Anblick beruhigte sie und schärfte ihr die dämmrigen Sinne und lüftete den Schleier, den Moiras Tees darüber gelegt hatten, weil Lelle wieder geschrien hatte in der Nacht.
Wie sie es bei Bantak gesehen hatte, bereitete sie ein Bett aus frischen Farnen und legte den kleinen Hasen darauf. Sie zitterte, aber nicht aus Furcht, sondern aus Erregung, weil sie so lange auf diesen Moment gewartet hatte. Weil sie eine Sünde begehen würde, zumindest in ihren Gedanken. Jetzt. Ohne Zaudern schlitzte sie den Rücken auf und zog die fellbewachsene, feste Haut ab und reichte sie dem Zigeuner. Dann eröffnete sie das Tier mit einem entschlossenen Schnitt in den Bauch. Da. Das Herz. Die Lunge. Die Leber. Der Magen. Der Darm. Mit den Fingern befühlte sie die warmen Eingeweide. Chirurgen wurden in der Küche gemacht. Oder auf dem Schlachtfeld. Oder in den Leichenhallen, wenn es ihnen egal waren, ob sie lebten oder gehenkt wurden; verbrannt; gerädert; alles war möglich. „Pass mit der Galle auf“, sagte Bantak. Dann sagte er nichts mehr. Mit einem sauberen Schnitt löste Lelle das rot glänzende Herz aus dem kleinen Körper. Zügig nahm sie das Tier weiter aus. Einen Moment lang überlegte sie, ob es ihr egal war, ob sie lebte oder verbrannt würde oder gehenkt. Sie wusste es nicht und selbst die Frage war ihr gleichgültig, weil jetzt die kleinen Nierchen vor ihr lagen; die Nieren, die mit ihren Steinen diese unsäglichen Schmerzen bereiten konnten. Es gab Tees. Und es gab Steinschneider. Lelle lächelte bitter. Steinschneider, die an Hasen übten. An Schweinen, wenn der Patient Glück hatte. An anderen Patienten. An ihm. Manchmal brachte man solche noch ins Hospiz. Lelle dachte an Werogand. Er hatte so geschrien, bis zum Schluss. Liebe Gottesmutter Maria voll der Gnaden, warum? Und nie wurde wer belangt. Die Bader holperten weiter mit ihren klapprigen Wägen, in routinierter Eile, um im nächsten Weiler weiter zu morden gegen Geld.
Lelle war fertig. Sie reinigte ihre Hände und das Messer mit weichem Moos und reichte Bantak das Messer und den ausgenommenen Hasen, dessen Leib sie sorgsam zugeklappt und in grünen Farn gewickelt hatte. Sie übergab ihm auch die Innereien, die man essen konnte, ein kleines Paket aus Blättern, frisch und sauber. Das Herz. Den Magen. Die Leber. Eigentlich aßen diese Leute alles. Fast alles. Was unbrauchbar war, hatte sie im weichen Waldboden vergraben. Stumm steckte Bantak die Beute in seine speckige Ledertasche. Das Messer schob er in seinen Gürtel zurück. Er versuchte das junge, harte Gesicht unter der Kapuze zu lesen, doch das blättrig grüne Dämmerlicht verwischte jeden Ausdruck. „Danke“, knurrte er und sie stapften weiter. Bantak erwischte noch zwei Hasen, eine Bisamratte und zwei Eichhörnchen, die Lelle alle ausnahm, das Gesicht glänzend vor mühsam verhohlener Freude. Schließlich kamen sie heim.
Wieder war da das Feuer, das durch die Bäume schien. Das schimmernde Wasser. Das Lachen. Die Musik. Mit einem Mal begann Lelle nach Atem zu ringen, weil hartes Schluchzen ihr die Kehle zuschnürte. Statt weiter Bantaks federndem Schritt zu folgen, sank sie hilflos auf das Wurzelwerk nieder und ballte die Fäuste. Auf einmal war alles wieder da. Alles. Alles, was dort in der Kathedrale geschehen war. Kein Bilsenkraut hatte das auslöschen können. Alles tanzte jetzt in ihrem Kopf, die bunten Kirchenfenster, die Orgelklänge, der Pastor im feuchten Mantel, der regennasse Habit, das Kreuz, das Fläschchen. Eine Lederkapsel. Ein afrikanisches Lied. Eine Wunde ohne Blut. Tränen in Augen, in denen sich die ihren spiegelten. Lelle schlug die Hände vors Gesicht und weinte, bitterlich und lange.
Endlich ließ das Tosen in ihr nach und alles ebbte weg, bis nur noch dieser Blick blieb, der auf ihr lag. Und dieser Satz. Dieser eine Satz. Geh nach Norden. Geh nach Norden. Geh nach Norden. Gehorsam stand sie auf und stolperte los, die sinkende Sonne zu ihrer Linken.
Nacht fiel über sie; fiel über sie wie anderswo über eines jungen Ritters frisches Grab; am Rand des Waldes entlang stolperte sie und dann mitten hinein, blind vor Trauer und Wut und Bilsenkraut und Liebe. Keiner hielt sie auf.
Nachtlied der Vögel. Ein Käuzchenruf. Sie kannte schon die Sprache des dunklen Waldes, an dessen Saum sie nun hauste. Ihr war nicht bang, wie sie ins Dunkle lief. Sie war ja auf dem rechten Weg. Solange sie Gabriels Worte befolgte, würde ihr nichts geschehen. Sie lief weiter, trotzig und treu. Bald hatte die Nacht alle Geräusche des Lagers am Waldsee verschluckt.
Sie waren geschäftig dort am Ufer des stillen Sees. Grobe Hände rupften Rapunzel und Löwenzahn in kleine Stücke, Sauerampfer und Löffelkraut und was sonst wild wuchs um sie her, und streuten es in die dicke Brühe in einem zerbeulten Topf in der Glut, dass der herbe Duft ihre Sinne streichelte; jemand sang. Jemand hatte Kibitzeier geraubt, die er sorgsam aus seinem Hemd in die brodelnde Flüssigkeit gleiten ließ; Kinder mit knallroten Mündern tauchten die Hände in eine Schüssel voll Walderdbeeren. Leute lachten; einer spielte falsche Akkorde, bis er die richtigen fand. Pilze und kleine Fische wurden auf Äste gespießt, um sie über dem Feuer zu braten.
Bantak kam, die Tasche prall gefüllt, und sie umringten ihn freudig, zu inspizieren, was er gebracht hatte. Niemand fragte nach dem kleinen Ritter, den er mit sich genommen hatte; ein jeder ging hier seiner Wege und wenn wer verschwand, so hatte es seinen Grund. Dieser hier war wohl ein Deserteur gewesen. Oder ein Dieb. Ein Mörder. Aber es ging sie nichts an. Der kleine Ritter war mit Moira gekommen und Moira hatte gesagt, dass es seine Ordnung hatte mit ihm, und dass sie ihn in Ruhe lassen sollten, und das genügte.
Bantak schüttelte die Erinnerung an die blutige Freude ab, deren Zeuge er dort im Walde geworden war. Seine Neugier war gestillt, gründlich. Den Teufel würde er tun, davon zu sprechen. Siegessicher warf der Zigeuner die schönen Päcklein in das weiche Moos. Er war wirklich ein guter Jäger.
Sie hätte etwas zu essen mitnehmen sollen. Sehnsüchtig dachte Lelle an die kleinen Hasen, an die Eichhörnchen, an die Bisamratte. Die Herzen. Die Lebern. Ärgerlich raffte sie ihren Mantel und stolperte weiter. Wenn der Tag anbrach, würde sie sich an des Waldes Früchten laben. Wenn er anbrach. Noch war es nicht lange her, dass des alten Tages letztes Licht hinter den schwarzen Bäumen versickert war.
Da! Was war das? Lelle verhielt abrupt ihren Schritt. Nichts. Sie musste sich getäuscht haben. Sie holte tief Luft und stapfte weiter, über wildes Wurzelwerk, das in der Dunkelheit nach ihren Füßen haschte, durch dornenbewehrtes Gestrüpp, das nach ihrem Mantel griff, unter Blätterwerk, das raschelnd ihr über die Kapuze strich. Schneller. Sie musste schneller gehen. Da! Wieder. Das war kein Irrtum. Da war jemand. Instinktiv ließ sie sich fallen, wo sie war, und atmete heftig in die mit kleinen Tannennadeln übersäte Erde. Eine dicke Ameise lief vorbei. Lelle wartete. In der Stille meinte sie fast den Tritt der winzigen Beine hören zu können. Nichts geschah. Vorsichtig hob Lelle den Kopf.
„Das muss besser werden“, sagte eine Stimme über ihr. Die Stimme gehörte zu den zwei kräftigen Füßen vor ihrem Gesicht. Moiras Stimme. Lelle drehte sich auf den Rücken und starrte sprachlos auf die Waldfrau, die kopfschüttelnd auf sie heruntersah. „Das muss besser werden“, wiederholte sie.
„Was?“ endlich hatte Lelle ihre Stimme wiedergefunden. „Was muss besser werden?“ Moira grinste so breit, das man es selbst in der Dunkelheit sehen konnte. „Alles“, sagte sie schlicht. „Alles.“ Sie streckte Lelle eine Hand hin. „Kommt!“, sagte sie und zog den kleinen Ritter hoch. Lelle schüttelte sich, dass die Tannennadeln von ihr rieselten. „Ich habe Euch übrigens nicht gesucht“, beschied Moira den Ritter. „Ich laufe keinem nach. Ich bin hier, um nach Kräutern zu suchen. Bei Vollmond sind sie am stärksten.“
„Vollmond….“, krächzte Lelle durch die Dunkelheit, „welcher Vollmond?“ Moira wies hinter sich. Eben hob sich zwischen den dunklen Stämmen die Scheibe des Mondes empor, ein riesiges silbriges Rund, welches hoch stieg und höher und Moiras Gesicht beschien, das ruhig war und sicher, wie von jemandem, der wusste, was er tat. Lelle sah dem Mond beim Aufsteigen zu und ließ das Silberlicht über sich laufen. Tief sog sie die nächtliche Luft ein. „Danke“, sagte sie zu niemand im Besonderen.
„Wenn Ihr achtgebt, wo Ihr hintretet, hören sie Euch nicht“, belehrte Moira ihre Begleitung beiläufig, als sie kurze Zeit später nebeneinander herliefen. Lelle blieb stocksteif stehen. „Wer? Wer hört mich nicht?“ sagte sie tonlos. „Na, die Gonligots… zum Beispiel“, entgegnete Moira verwundert. Konnte es sein, dass Lelle nichts von den Gonligots wusste?
„Die, die kleine Kinder rauben“, klärte Moira den Stadtmensch geduldig auf. „Manchmal greifen sie auch ausgewachsene Männer an und würgen sie“, fügte sie hinzu. „Und dann sind da noch die…“ sie unterbrach sich, als Lelle ihr die Fingernägel in den Arm grub. „Für einen Ritter seid Ihr ziemlich…“, sie wusste, wie grob sie war, und besann sich. „Seht hier, da sind sie schon…“, sagte sie versöhnlich, als sie an eine kleine Lichtung kamen. Die Fingernägel in ihrem Arm sagten ihr, dass es nicht versöhnlich genug gewesen war. „Ihr tut mir weh“, sagte sie kalt und machte sich los und bückte sich. Zögernd tat Lelle es ihr nach.
„Eisenhut“, sagten sie beide wie aus einem Mund. Moira fuhr herum und starrte den Ritter an. „Und wofür braucht man das?“, raunte sie streng, als sie sich wieder gefasst hatte. „Zur Wundheilung und gegen Geschwüre“, raunte Lelle zurück, und kniete neben der Pflanze nieder und hatte die Gonligots schon vergessen, „man zerstampft die Blätter und macht einen Brei daraus.“ Sie hörte Moira neben sich zufrieden schnaufen. „Gegen Dämonen und Hexen hilft es auch“, ergänzte die Waldfrau. Lelle zuckte zurück und hob abwehrend die Hände. „Unsinn…“, sagte sie beschwörend, „Unsinn… Das ist Aberglaube…“ Mühsam stand sie auf. „Es gibt keine Hexen“, sagte sie heiser und wollte fort.
Moira schoss hoch. Stadtmenschen waren kompliziert und dieser hier besonders. „Es ist gut. Zur Wundheilung“, flüsterte sie rasch und erfasste einen Zipfel des schwarzen Mantels. „Zur Wundheilung“, wiederholte sie, als jetzt der kleine Ritter neben ihr niedersank. „Es gibt keine Hexen“, murmelte er immer wieder, „es gibt keine Hexen“. Vorsichtig strich Moira über die schmalen, zuckenden Schultern. „Es ist gut“, wiederholte sie. „Hier!“, sie streckte Lelle einen abgewetzten Leinenbeutel entgegen und zückte ihr rostiges Messer. Ruhig begann sie die zähen Zweige abzusäbeln und in den Beutel zu stecken, den Lelle mit fahrigen Händen offen hielt.
Die winzigen Blüten spiegelten das weiße Licht des Mondes. Ein leichtsinniger Vogel sang im Schlaf. Bald darauf schrie er, als der Fuchs ihn holte oder der Marder. Moira fuhr mit ihrer Arbeit fort, unberührt. Lelle sah ihr zu und zwang sich, ruhig zu sein. Ruhig und mutig und stolz. Ein Schwarzer Falke. Gabriel.
Nein. Nicht.
Sie biss sich auf die Lippen und hieß ihre Augen trocken sein.
Moira sah auf. „Fehlt Euch etwas?“ Lelle schüttelte den Kopf. Sprechen hätte sie jetzt um alles in der Welt nicht gekonnt.
Stunden arbeiteten sie so und Lelle wurde ganz ruhig dabei. „Und wofür ist das?“, frug die Waldfrau ein ums andere Mal und meist antwortete der kleine Ritter fehllos, und wenn sie sich was dazudachte, das er nicht gesagt hatte, was von Zauberkraft und Liebestrank und Hexerei, so behielt sie’s für sich. Von Pflanze zu Pflanze gingen die Frauen durch den silberbeglänzten Nachtwald. Sie fühlten über hohe, rau behaarte Stängel, rochen an zarten Blüten, betasteten wirres dunkles Kraut und harte runde Beeren und sammelten, was ihnen gut dünkte. Moiras rostiges Messer glitt durch nachgiebiges frisches Grün, arbeitete sich durch widerspenstiges Holz und löste knotige Wurzeln aus der sandigen Erde und duftende Früchte aus groben Schalen. Schon trugen sie beide einen prall gefüllten Beutel. Ihre zerkratzten Hände waren üppig mit schweren, würzigen Säften getränkt, allüberall war betörender Dunst von Baldrian und Bilsenkraut und wildem Majoran und Lorbeer und Salbei und Eisenkraut und von so manchem, das Agnes noch nie gesehen hatte. Das Johanniskraut ließen sie stehen. „Ich hol’s an Johanni, dann ist es am stärksten“, raunte Moira und zog den kleinen Ritter weiter, bis sie die nächste Pflanze fanden, und weiter, und weiter.
Unversehens hielt Lelle inne, wie jetzt mit einem mal dumpf und bleiern die Müdigkeit auf sie fiel. „Lasst mich…“, wisperte sie und tastete nach einem Ast, sich festzuhalten, weil ihr schwindelte. Moira musterte sie streng. „Ihr könnt hier nicht bleiben, Ritter“, sagte sie. Sie sah zum Mond, der nun hoch über ihnen stand, riesig und leuchtend, und ungerührt all die Stunden markierte, die sie sich vom Lager entfernt hatten. Lelle schüttelte den Kopf und sank in die Knie, den duftenden Kräutersack fest umklammert. Moira räusperte sich. Es musste wohl sein. „Gut“, schnappte sie und wandte sich zum Gehen. „Sicherlich seid Ihr gut bewaffnet, Ritter“, sagte sie über die Schulter, „… gegen die Gonligots…“ Die Waldfrau verbiss sich ein Grinsen, als der Stadtmensch hochschoss. „Kommt“, sagte sie schlicht. „Wir gehen zurück.“ Und Lelle wollte wohl und stolperte willig hinterdrein und widersprach nicht, als Moira ihr den Beutel abnahm. Immer wieder fielen ihr die Augen zu und ihr Schritt ging holprig und mit langen Pausen. Schließlich blieb Moira stehen. Es hatte keinen Zweck. Die Kleine würde es niemals schaffen.
Besser, sie machte dem ein Ende.
Die Waldfrau öffnete ihren Beutel und schüttete den gesamten Inhalt auf den Teppich aus sachtem Moos, der sich um die lichtumschwommenen Bäume legte. Dann setzte sie sich mit untereinandergelegten Beinen auf ihren löchrigen Mantel und betrachtete die Schätze aus dem Wald. Lelle blinzelte und hielt sich an ihrer Schulter fest, bis Moira ihr ärgerlich bedeutete, sich neben sie zu setzen. Lelle plumpste in das weiche Moos.
Moira saß jetzt sehr gerade und ließ den Blick über Blätter und Wurzeln, Beeren und Blüten gehen. Langsam fuhr ihre Hand über die Pracht, die im kühlen Nachtdunst die ganze Wucht ihrer Düfte preisgab. Moira schloss die Augen und inhalierte tief und hielt beide Arme über die Pflanzen wie zum Segen. Dann stieß, habichtgleich, ihre Hand hinunter in den wirren Haufen und zog ein Zweiglein heraus, an dem eine Dolde tief purpurner Früchte hing. Moira öffnete die Augen und besah das Ästlein in ihrer Hand. Sie pflückte ein paar der kleinen Beeren, eine, zwei, drei, und ließ sie in ihre schwielige Handfläche fallen. Dann hielt sie Lelle die Beerlein hin.
„Esst!“, sagte Moira ruhig.
Beeren, rot wie Blut. Lelle wich erschrocken zurück. Im Rückwärtskriechen schüttelte sie den Kopf, immer wieder. „Nein…. Nein…. Nein!“
Über Moiras hochwangiges, schönes Gesicht ging ein Lächeln. „Esst!“, wiederholte sie und streckte die Hand aus, in der die roten Beeren einladend hin und her rollten.
Lelle saß jetzt mit dem Rücken gegen eine starke, alte Fichte gelehnt. „Nein…“, murmelte sie, „… nein…. nein…“, und zog die Knie gegen den mageren Körper unter dem weiten Mantel. Moira erhob sich. Immer noch hielt sie die Hand mit den Beeren ausgestreckt, als sie jetzt ganz nah an Lelle herankam. „Esst…“, flüsterte sie, vertraulich und weich.
Lelle zitterte. Nichts konnte sie tun als mit den Augen funkeln, in denen jetzt Tränen glitzerten. Moira legte den Kopf schräg. „Esst“, sagte sie.
Lelle presste ihre beiden Hände über den Mund und starrte auf die kleinen Beeren, die vor ihren Augen tanzten, und auf Moira, deren walddunkler Blick geradewegs durch sie hindurch zu gehen schien. Mit einem Mal hob die Waldfrau ihre Hand, ohne dabei den Blick von Lelle zu lösen, und warf sich die purpurnen Beerlein in den Mund und begann zu kauen.
Lelle starrte sie an.
„Wenn Ihr mir nicht vertraut“, sagte, nachdem sie hinuntergeschluckt hatte, die Waldfrau, „so werden unsere Wege sich trennen.“ – „Nein!“, beinahe hätte Lelle laut geschrien. „Bitte…“, sie rang um Fassung, „lasst mich nicht allein…“ Mühsam schob sie sich an der rauen Rinde hoch, bis sie stand. Angestrengt hielt sie die Augen offen und sah Moira ins Gesicht. „Ihr verlangt viel, Moira“, sagte sie leise, „sehr viel.“
„Auch Ihr verlangt sehr viel“, sagte Moira ernst, „…Ritter…“ Sie begann die ausgebreiteten Kräuter wieder in ihren Beutel zu sammeln. Vorsichtig kniete Lelle sich neben sie, um ihr zu helfen. Moira ließ sie gewähren. Bald war alles verstaut. Moira stand auf, sehr munter jetzt, raffte die beiden Beutel zusammen und wandte sich schnellen Schrittes dem heimatlichen Lagerplatz zu.
Lelle stolperte hinterher. Ihre Hände griffen nach jedem Ast, den sie erreichen konnte, sonst wäre sie gefallen. Sie konnte nichts dagegen tun, dass der Abstand zwischen ihr und Moira sich zusehends vergrößerte. Moira drehte sich nach ihr um. Lachte sie? „Mit diesen Beeren bleibt man wirklich wach!“, rief sie noch über die Schulter. Dann lief sie weiter.
Das also war es. „Wartet…“, keuchte Lelle. Moira reagierte nicht. Moira lief weiter; fast hüpfte sie, und war da nicht ein Liedlein auf ihren Lippen? „Wartet…“, stammelte Lelle, leise und sinnlos. Endlich gab sie es auf. Gab sie sich auf.
Halt. Nein. Nicht. Sie hatte eine Aufgabe. Sie hatte ein Ziel. Sie brauchte Moira nicht, die in der Ferne trotzig weiterträllerte, als gäb es keine Gonligots auf der Welt. Abrupt machte Lelle kehrt und taumelte wieder in den Wald hinein. Sie hatte ein Ziel: Nach Norden… nach Norden…