Читать книгу Der Krieg - Barbara E. Euler - Страница 8

Fünftes Kapitel

Оглавление

Steif und durchgefroren wühlte Goedele sich aus dem raschelnden Laub. Vorsichtig bewegte sie die schmerzenden Glieder. Die Wärme der Sonne, die schon hoch über dem Horizont stand, würde gut tun. Langsam stand sie auf, während die Blätter von ihr rieselten wie von einem Herbstbaum. Sie sah sich um.

Da hockte was.

Ein Gnom. Nein. Ein Kobold. Ein Zwerg… Goedele blinzelte.

Ein Kind.

Die Kleine sah sie aus sehr großen, dunklen Augen an. Sie lächelte nicht.

Goedele wusste nicht, wie lange sie einander angestarrt hatten, als ein Eichelhäher leise rief und das Wesen mit einem Mal verschwunden war.

Goedele bekreuzigte sich und sank in die Knie. Liebe Gottesmutter Maria, bewahre uns vor dem Bösen. Sie bekreuzigte sich abermals und brachte abermals ihr Gebet vor, aber es half nichts.

Sie hatte Angst.

Da hockte sie nun im hellen Sonnenschein, tief in Gabriels Kapuzenmantel vergraben, die Hände auf die Ohren gepresst und die Augen fest geschlossen, dass sie nichts mehr hörte oder sah. Vielleicht, dass sie sich wegwünschen könnte. Heim.

Als sie hochfuhr, war es zu spät.

Die belfernde Hundemeute schoss geradewegs auf sie zu. Harte, schmale Augen, heraushängende Zungen, die Ohren gespitzt, gelbgezackt die Zahnreihen, scharfe, große Zähne, die heranstürmten, näher, näher - - - Das war das Ende. Goedele rollte sich zusammen und schloss die Augen.

Nach einer sehr, sehr langen Zeit fühlte sie etwas Feuchtes an ihrer Stirne. Sie konnte das Fell riechen. Das Gebell war verstummt. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Sie sah geradewegs in die Augen eines riesigen Köters. Er saß ganz still und stupste sie mit seiner Schnauze. Goedele fühlte, wie ihr sämtliche Kräfte entrannen. Sie blieb einfach liegen.

„Was ist Euch, Herr?“, rief jetzt ein Bursch, außer Atem. Sein buntseidenes Doublet stach aus den Tönen des Waldes hervor. Die Farben der Königin. Jetzt sah Goedele auch das Wappen auf seiner Brust. „Rikko“, hörte sie ihn leise sagen, und das Tier trottete an seine Seite und setzte sich. Auch die anderen Hunde saßen jetzt dicht gedrängt um ihn herum, hechelnd. Es war ein gutes Dutzend, sicher, oder mehr.

„Seid Ihr verletzt, Herr?“, fragte der Bursch besorgt und kam näher, während die Tiere ruhig sitzen blieben. Sehr langsam stand Goedele auf. Waldvögel sangen. Irgendwo schlug ein Kuckuck. Sie konnte auf ihren Beinen stehen. Sie konnte wirklich auf ihren Beinen stehen. Gabriels Mantel verbarg ihr Zittern.

Immer noch saßen die Hunde ruhig beisammen. Goedele straffte sich. Es musste der Mantel sein. Du brauchst ihn. Lelles Mantel, Lelles Gambeson, seine Beinkleider, seine Stiefel… Sie trug Lelles Geruch. An ihr und über ihr und um sie war er, wie eine schützende Hülle, sicher und warm. Sein Geruch. Ihrer. Nimm mein Gewand. Tief unter der großen Kapuze füllten ihre Augen sich mit Tränen. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht zu schluchzen.

„Vergebt mir, Herr“, fuhr der Mann fort, da der Fremde stumm blieb. „Wir suchen eine Nonne, Herr… „, er scharrte mit den Füßen im Laub, „Sie muss hier entlang gekommen sein, von der Brücke… Habt Ihr sie vielleicht gesehen?“ Mechanisch schüttelte Goedele den Kopf. Der Häscher nickte. „Selbstverständlich nicht. Verzeiht. Verzeiht, dass ich Euch belästigt habe. Ihr wart in der Schlacht, nicht wahr?“ Ehrfürchtig besah er den Schwarzen Falken. „Ich wünsche Euch allzeit Glück, Ritter…?“

„Gabriel“, sagte Goedele rau.

„Gabriel!“, rief jetzt der Mann aus. Vorsichtig kam er näher. „Man sagt, Ihr seid verwundet worden…“ Behutsam berührte der Häscher ihren Mantel. „Ich kann Euch zu einem Arzt bringen!“

„Es ist gut“, wisperte Goedele heiser und zog den Mantel an sich. Der Mann sah fragend auf den Ritter. Goedele hielt den Atem an. Sie sollte jetzt die Hand von dem Baumstamm nehmen und losgehen. Geh nach Norden. Geh. Endlich löste sie die Finger von der rauen Rinde und zog den Mantel um sich und atmete tief durch und lief los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die Hunde hatten wieder zu bellen begonnen.

Goedele stolperte weiter, weglos, sie versuchte nicht, die Straße wiederzufinden, die nun voller Menschen und Tiere und Wagen sein würde. Gestern noch hatte sie sich sicher gefühlt im Schutz der Masse. Seit heute barg jede Begegnung eine tödliche Gefahr. Sie kämpfte sich weiter, über wirres Wurzelwerk und durch störrische Sträucher, immer geradeaus. Ab und an versicherte sie sich, dass die Sonne zu ihrer Rechten stand.

Sie lief immer weiter und hatte gar nicht wahr, wie eine wachsende Dumpfheit ihr Geist und Körper abspenstig zu machen begann, wie sie fühllos wurde, schwebend, weil alles anders nicht mehr zu ertragen war – der brennende Durst, der Hunger, der ihren mageren Körper durchbohrte, der Schmerz in ihren Füßen, die bleierne Erschöpfung in allen Gliedern, das namenlose Entsetzen, das lange noch zu keiner Trauer reifen würde, die Angst; lief weiter, träumend, und hatte nicht wahr, wie auch das nichts mehr half und sie in die Knie brach, wo sie eben war, und einschlief vor aller Augen – wenn es Augen gegeben hätte.

Es gab sie. Denn es war wieder da. Das Wesen. Das Mädchen. Aber dieses Mal war es nicht allein.

Zu zweit hockten sie auf den Fersen im weichen Bett aus Laub, Nadeln und Moos. Ein kleines Mädchen und ein großes, eine Frau eher, in erdfarbene Lumpen gehüllt eine wie die andere, Blicke tauschend, kluge.

„Schöner Mantel“, wisperte die Große und fühlte nach dem rostigen Messer, das sie unter dem Gewand trug.

„Sie ist nicht tot“, flüsterte die Kleine.

„Er. Er ist nicht tot. Ich weiß. Besoffen ist er.“

„Sie ist krank“, flüsterte die Kleine.

„Er, Kind. Ein Schwarzer Falke. Lass uns gehen.“

„Nein!“ Wütend hieb die Kleine ihre Fäustchen in das raschelnde Laub. „Sie ist krank.“

„Tabbe!“ zischte die Große und griff die kleine Hand und stand auf.

In diesem Moment schlug Goedele die Augen auf. Sie sah in ein schmutziges Gesicht, geradewegs in tiefbraune, warme, dunkle Augen sah sie und mit einem Mal wusste sie: Dieser Frau würde sie vertrauen bis an die Enden der Erde.

Mühsam kam sie hoch; auf die Knie kam sie, nicht weiter. Stumm beäugten die Waldwesen den armseligen Versuch. Das kleine sah das große herausfordernd an, bis dieses nach seinem Messer fühlte und näher trat. Der Mantel war wirklich sehr schön. Ein weiter Radmantel. So viel Stoff. Und guter. Langsam ging die Frau auf den betrunkenen Ritter zu. Er musste sehr reich sein. Ein Schwert trug er nicht. Sicherlich hatte er es verloren. Ziemlich klein war er auch. Resolut fasste sie ihn am Arm, bis er schwankend stand.

„Wer seid Ihr?“, fragte sie.

„Gabriel“, sagte Goedele. Später erinnerte sie sich noch daran, wie leicht ihr das schon gefallen war…

„Seid Ihr verrückt?“ – jemand schüttelte sie heftig an den Schultern und sie schlug die Augen auf. Die Waldfrau… Goedele versuchte ihr ins Gesicht zu sehen, doch die Frau war schon fort und Goedeles Blick blieb im kühlen Blätterdach hoch über ihr hängen, durch das feine Strahlen von Sonnenlicht brachen. Plötzlich war eine raue Holzschale an ihrem Mund, die nach Gerbstoff und Harz schmeckte, und sie schluckte die bittere, heiße Flüssigkeit, gierig, sie hatte Durst, großen Durst. „Ho… ho… langsam….“, sagte die Waldfrau und nahm die Schale fort und bettete Goedeles Kopf vorsichtig zurück und Goedele sank, sank, wie ein schwerer, großer Stein, der in einen Fluss fällt, in die Wasser des Flusses sank sie, taumelnd, immer tiefer, tiefer, tanzte, streifte über den rauen, sandigen Grund, wurde weitergetragen von den wirbelnden Wassern, bis etwas sie festhielt und sie liegenblieb, so schwer und dunkel und ganz still.

Die Abendkühle weckte sie schließlich. Sie wollte sich aufsetzen, doch ihr Kopf, einem riesigen, klobigen Kürbis gleich, zog sie unerbittlich auf das Lager zurück und sie stöhnte. Vorsichtig drehte sie das Gesicht hin und her, ein wenig nur. Sie konnte den frischen, weichen Farn riechen, auf dem sie lag. Ihre Zunge fuhr über ihre rauen Lippen und sie schmeckte Bitterkeit; eine Bitterkeit, die ihr sehr vertraut war.

Bilsenkraut.

Sie fuhr hoch, ihres schmerzenden Kopfes ungeachtet, plötzlich sehr wach. „Ihr hättet mich umbringen können!“, entfuhr es ihr. Die Waldfrau, die ihr gegenüber saß und stumm ihr Erwachen beobachtet hatte, nickte. „Ich hätte Euch erwürgen können“, bestätigte sie bereitwillig. „Ihr habt im Schlaf geschrien!“

Goedele starrte sie an. Ihr war jetzt sehr kalt. Sie zog den Mantel eng um ihren schmalen Körper und tastete nach ihrer Stimme.

„Was… was habe ich geschrien?“

Die Waldfrau sah sie ruhig an. „Wer ist Lelle?“, fragte sie statt einer Antwort.

Goedele starrte auf die Waldfrau, die in einem zarten Nebel hin und her schwamm. „Lelle ist mein…“, hörte sie sich sagen. Mit letzter Kraft kniff sie die Augen und die Lippen zusammen. Ihr Kopf drohte zu zerspringen.

DU SOLLST NICHT LÜGEN. DU SOLLST NICHT LÜGEN. DU SOLLST NICHT LÜGEN. DU SOLLST NICHT LÜGEN. Goedele verbarg das Gesicht in ihren Händen.

„… mein Name…“, krächzte sie schließlich, mit geschlossenen Augen.

Es war keine Lüge. So unfähig sie als Kind gewesen war, des Bruders Namen auszusprechen, so wenig hatte Gabriel vermocht, den ihren über die kleinen Lippen zu bringen. Lelle war Gabriel war Goedele. War ihr Name wie der seine. Sie nahm die Hände von den Augen und sah auf die Waldfrau. Dunkelheit sank durch die Bäume. Die Waldfrau legte ihren braunäugigen Blick auf Goedele. „Lelle….“, wiederholte sie, wie ein Schüler, der etwas Gelerntes aufsagt. „Von Gabriel.“ Lelle nickte matt und erbrach sich in das duftende Farn.


Die Waldfrau hielt sie bei den Schultern. „Ritter vertragen mehr“, stellte sie nüchtern fest. „Und so hübsch sind die auch nicht“, ergänzte sie, als sie Lelles Gesicht mit Moos sauber wischte. Lelle riss die Augen auf und wollte etwas sagen. „Schsch…“, machte die Waldfrau und zog ihr die Kapuze über den strubbeligen Kopf. Sie dachte an Cuira, an Sybil, an Mirthe, die auch so gewesen waren, und daran, was mit ihnen geschehen war. „Ist schon in Ordnung, Lelle!“ Es gelang ihr, gleichgültig zu klingen.

Sie würde die Neue fürs Erste behalten. Sie hatte ihre Hände gesehen. Die konnte anpacken. Und wenn sie ihr dumm kam… sie wusste, was sie wusste und wem sie nur einen kleinen Hinweis zu geben brauchte, damit Lelle für immer verschwand. Wenn sie überhaupt etwas dafür tun musste. Sie dachte an das, was sie in den schwieligen Handflächen des Mädchens gelesen hatte, als es im Tiefschlaf gelegen war. Die Waldfrau schüttelte sich. Vielleicht hatte sie sich auch getäuscht.

„Ich bin übrigens Moira,…Ritter“, sagte sie lächelnd. „Und das ist Tabbe“, sie wies nach dem Koboldkind, das wie aus dem Nichts erschienen war und Lelle unverwandt anstarrte. „Tabbe, das ist Ritter Gabriel. Lelle“. „Sie ist krank“, sagte das Kind störrisch. „Er, Kind. Bitte. Und es geht ihm schon besser…“ Moira zuckte mit den Schultern. „Sie ist ein Kind“, sagte sie. Kommt!“ Sie half Lelle hoch und lief los. Mühsam taumelte Lelle hinter der wasigen Waldfrau her, die immer wieder mit dem Grünbraun des Unterholzes verschmolz. Das Koboldkind war weit und breit nicht zu sehen. Dafür hörte sie jetzt Stimmen und Gelächter und Musik. Hinter den Bäumen schimmerte es wie Silber und Gold. Ein Feuer. Ein See. Warmes Licht von Flammen, das auf kühlen grünen Wassern tanzte.

Hinter Moira kämpfte sie sich durch das letzte Unterholz und stand am Ufer des Waldsees. Statt wirren Wurzelwerks war unter ihren Stiefeln auf einmal zartes, sanftes Gras. Sie blieb stehen, weil da Leute waren; viele. Harte Gesichter mit leuchtenden Augen, vom Feuerschein erhellt. Worte, die sie nicht verstand. Raues Lachen und ein Geruch von gebratenem Fisch. Und über allem zauberperlten diese Klänge, die so wunderlich waren und so warm; es musste eine Laute sein, die jemand, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, am Feuer spielte; so weich und sanft und traurig und schön, und sie sank in das weiche Gras und weinte.


Der Krieg

Подняться наверх