Читать книгу Der Krieg - Barbara E. Euler - Страница 6
Drittes Kapitel
ОглавлениеAls die Sonne sich zum Abend neigte und ihr immer noch die meiste Zeit ins Gesicht schien, war Goedele endlich auf einen Pfad abgebogen, der nach rechts abzweigte, nach Norden. Bis dahin hatte sie ihre Hoffnung auf die festgestampfte Straße gesetzt, die unweit des Klosters vorbeiging, in zahllosen verspielten Windungen und Wendungen, erbaut vom alten König Rodewig und schrullig wie dieser. Die Straße war voller Leben gewesen, lärmig und bunt, hoch beladene Ochsenkarren, Marktweiber, krumm gebeugt unter riesigen Kiepen, Kinder, Hunde, Pferde, Herren hoch zu Ross in prachtvollen Gewändern und immer wieder Kriegsknechte mit ihren Lanzen, in losen Gruppen, lachend. Niemand hatte sie beachtet. Manchmal hatte sie innehalten müssen, um die baumelnden Ketzer zu betrachten, die am Wegesrand von den Galgen hingen. Bisweilen war sie an die kleinen Tafeln herangetreten, die der Sünder Vergehen auflisteten. Buhlschaft mit einer Hexe gehabt. Eine Hofstatt niedergebrannt mit dem Bösen Blick. Auf eine Heilige Hostie gebissen. Goedele war erschauert.
Wer schon länger hing, hatte der Krähen Hunger gestillt. Goedele hatte sich die Knochen und die Gedärme besehen, die sie bislang nur erahnt hatte und erfühlt unter ihren empfindsamen Händen, wenn sie im Hospiz über die Leiber der Leidenden gestrichen hatte, um Schmerz oder Brüche zu ertasten oder Salben und Tinkturen aufzutragen. Ganz genau hatte sie hingeschaut. Einmal hatten zwei Krähen um eine frische Leber gestritten. Einmal hatte sie ein Herz gesehen.
Als sie sich noch einmal nach dem Turm der Kathedrale umblickte, war er hinter dem Horizont verschwunden. Sie marschierte weiter, trotzig und treu, auch nun, da die Nacht sich senkte über diese neue Welt mit ihrem weiten Himmel, der so ganz anders war als das lichte Viereck über dem Kreuzgang; der sich weltenweit wölbte über sie hin und bis an die Enden der Erde reichte.
Die Enden der Erde. Rasch befahl sie sich in Gottes Hand. Sie hatte die Bilder gesehen von den Sündern, die dort herabstürzten in gnadenlose, allesverschlingende Tiefen.
Salve regina, mater misericordiae, vita, dulcedo, et spes nostra, salve! Ad te clamamus, exsules filii Evae. Ad te suspiramus, gementes et flentes in hac lacrimarum valle…
Seit Stunden lief sie, doch nun drohten Hunger und Durst und der Schmerz in ihren Füßen sie zu bezwingen. Im Kloster hatten sie längst die Abendmahlzeit bekommen. Brot und Käse und ein Krug frischen Wassers auf dem großen eichenen Tisch des Refektoriums, die vertraute Stimme der Schwester Oberin, die den Schwestern im Schein einer Kerze aus dem Stundenbuch vorlas, während sie aßen, schweigend, wie die Klosterregeln es geboten…Mechanisch fingerte Goedele nach dem magischen Fläschchen, doch es war nicht mehr da. Natürlich nicht. Sie hatte es weggegeben. Es war…
Nein! - - - NEIN!!!!
Mit aller Gewalt hielt sie die hervorquellende Erinnerung nieder, dass nicht das Herz ihr bräche vor der Zeit. Geh nach Norden. Laufen, laufen, einen Schritt vor den andern. Nicht denken. Nichts. Flieh!
Plötzlich stand sie an der Uferböschung eines Flusses. Mehr hörte sie ihn, als dass sie ihn noch sah in der hereinbrechenden Nacht. Heftig rauschten unter ihr die Wasser, zum Bersten satt von der Schneeschmelze und dem heftige Regen. Goedele kniff die Augen zusammen und maß die Entfernung bis zum drüberen Ufer. Sie musste hinüber, wollte sie die Richtung nicht verlieren.
Der Weg hinunter war steil und felsig. Mit der einen Hand raffte Goedele Lelles Mantel, während sie sich mit der anderen von Ast zu Felsvorsprung zu Wurzel hangelte. Die Füße in den weichen Stiefeln tasteten nach festem Grund, stolperten jetzt, glitten, abwärts, abwärts, nichts fanden ihre Hände plötzlich mehr in der Dunkelheit, sie schrie. Krallte sich in den Boden, blieb liegen, schwer atmend. Unter ihr die Wasser rauschten ungerührt, sie sah jetzt gut das andere Ufer hinter dem breiten, aufgewühlten Band. Sie konnte nicht schwimmen.
Es dauerte länger, wieder hochzuklettern. Sie klopfte den Dreck aus ihrer Kleidung und leckte über die Schrammen auf den Händen. Wie dumm sie war. Sie spuckte aus und sah am Ufer entlang. Links oder rechts? Sie legte einen Finger auf die oberste Lasche des Gambesons und fuhr die Reihe entlang bis nach unten. Links, rechts, links, rechts, links, rechts…. Links. Sie zog den Umhang fest um ihren schmalen Körper und stiefelte los.
Über ihr glitzerten die Sterne. Schwester Theresia hatte gesagt, dass auch sie den Menschen den Weg wiesen, doch Goedele wusste nichts Genaues darüber. Hatte es nie gebraucht. Es war auch viel Teufelszeug dabei. Besser, man versuchte nicht, in den Sternen zu lesen. Mühsam riss sie ihren Blick von der funkelnden Pracht. Das war etwas für Heiden. Sie bekreuzigte sich und lief weiter. Es musste doch eine Furt geben oder besser noch, eine Brücke.
Der Pfad entlang des Hochufers begann sich im Gestrüpp zu verlieren. Goedele bog Äste beiseite, stieg über knorriges Wurzelwerk, schrammte an dornenbesäten Zweigen entlang, die ihr die Hände aufrissen und ihren Mantel festhielten. Sie zog und zerrte, bis sie ihn losbekam. Sie weinte, aber sie lief weiter. Das ferne Tosen des Flusses an ihrer rechten Seite wies ihr den Weg.
Sub tuum praesidium confugimus, sancta Dei Genitrix: Nostras deprecationes ne despicias in necessitatibus, sed a periculi cunctis libera nos semper, virgo gloriosa et benedicta.
Jungfrau, erhaben und gesegnet. Unerwartet endete das Gestrüpp. Sie stand am Rande einer breiten Fuhrstraße, die geradewegs auf eine Brücke zulief. War es Rodewis Sraße? Hätte sie ihr nur weiter folgen müssen? Egal. Sie hatte es geschafft. Freudig ging sie auf die Brücke zu.
Magnificat anima mea Dominum et exsultavit spiritus meus in Deo, salutari meo; quia respexit humilitatem ancillae suae ecce enim ex hoc beatam me dicent omnes generationes…
„Die Losung!“
Goedele hielt abrupt inne. Sie hob die Hand vors Gesicht, weil jemand ihr eine Fackel vor die Augen hielt. Die Flamme widerspiegelte sich auf einem polierten Harnisch. Breit schob der Soldat sich ihr in den Weg. Aus der Hütte, die sie vage hinter ihm ausmachte, trat ein zweiter hinzu. Das Metall seiner Rüstung klirrte. Die Männer waren sehr groß. Goedele starrte sie an. Wachen. Die Brücke war bewacht. Wachen.
Zeig es den Wachen. Endlich fasste Goedele nach der Kapsel um ihren Hals. Mit fliegenden Händen fingerte sie das kostbare Dokument heraus. Verlier es nicht. Sie hielt es dem Mann mit der Fackel hin, ohne es loszulassen.
„Die Losung“, wiederholte der Mann.
Sein Kamerad schob ihn beiseite. Grob zog er das Papier zu sich heran, um es betrachten zu können. Goedeles Finger krampften sich um das Pergament. Tief unten rauschte der Fluss.
Endlich ließ der Mann das Dokument los. „Es ist ein Schwarzer Falke“, sagte er, zu dem anderen gewandt. „Er zieht in die Schlacht.“ Er sah ihm ins Gesicht. „Lass ihn gehen!“ Der andere nickte und trat beiseite.
Während Goedele hastig das Dokument faltete, fühlte sie, wie ihr schwindlig wurde. Die Wachen wollten den taumelnden Ritter am Arm fassen, doch er schüttelte sie wütend ab.
Ein Schwarzer Falke. Goedele straffte sich und marschierte über die Brücke. Er zieht in die Schlacht. Unter ihr tosten die Fluten. Sie fühlte die Macht des Wappenemblems auf ihrem Rücken. Er. „Ich bin hier für uns beide“, flüsterte sie und grub ihre Hände in Lelles Mantel, der nach Rauch roch und kostbaren Ölen und nach Lelles Schweiß. „Für uns beide.“
Kräftig schritt sie aus. Die breite Straße zog sie weiter, weit jenseits jeden Hungers, jeder Schwäche, jeder Angst, weiter. Niemand störte mehr ihren nächtlichen Weg unter dem weiten Firmament. Bei Tagesanbruch würde die Straße sich wieder mit Truppen füllen, die an die Front zogen, doch jetzt war Goedele ganz allein.
Im ersten Morgenlicht begann sie zu zittern. Es war genug. Genug. Fiebrig suchten ihre Augen den Wegesrand nach etwas Essbarem ab. Als sie die kleinen Erdbeeren sah, ließ sie sich fallen. Halb im Schlaf aß sie und aß und aß, bis Hunger und Durst ihr gestillt waren. Dann kroch sie weiter ins Dickicht hinein. Sie konnte hier nicht bleiben. Weiter! Unter einer mächtigen Eiche sank sie endlich nieder. Die verschlungenen Wurzeln bildeten eine Kuhle, in der noch das Laub des letzten Herbstes lag. Sie schmiegte sich unter ihrem Mantel in das schützende Blätterbett, das nach Erde und Pilzen roch, und blieb reglos liegen. Endlich durfte jetzt alles in ihr zusammenstürzen, das sie aufrecht erhalten hatte über die Enden ihrer Kräfte hinaus. Endlich, endlich durfte sie sich überwältigen lassen von den mächtigen Wogen aus himmlischem Glück und einem Schmerz, der ihr die Seele zerriss. Ein wilder Klagelaut würgte sich aus ihrer Brust empor. Einen Augenblick lang hatte sie die Seligkeit zurückerlangt und im nächsten Moment war alles verloren – zerbrochen, zerschnitten, zerschmettert, zerstört – und sie fiel, fiel…..
Das Bellen der Hunde war noch sehr, sehr weit weg. Aber sie hörte ohnehin nichts mehr.