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Sechstes Kapitel

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Allmählich begann die kleine Stadt sich zu füllen. Immer mehr Menschen strömten von den Höfen und Burgen, Dörfern und Weilern der Umgebung nach Skanderberg hinein, hohe Herrschaften insbesondere, die Zeit und Mittel für die Reise erübrigen konnten, auf hohen, stolzen Rössern oder in prunkvoll verzierten Kutschen und Sänften dem breitgetretenen Dreck der Straße enthoben. In ihrem Sog kamen die Händler, die Huren, die Diebe, die Bettler.

Auch der alte Joris war da. Er trug seinen Namen zu recht, denn er hatte schon in der Stadt gearbeitet, als sie den Großvater der Königin zu Grabe trugen – gewiss zählte er vierzig Lenze oder mehr. Langsam bewegte er sich durch die Menge und hielt immer wieder seine Betteldose hoch, die er um den Hals trug. „Almosen!“, rief er. „Gebt ein Almosen! Der Himmel wird es Euch danken!“

„Joris!“

Der Alte fuhr herum. Nein! Er sah hoch. Doch… Doch! Auf seinem verwitterten, schmutzigen Gesicht entfaltete sich ein prächtiges, breites Lächeln, das all seine Zahnstümpfe entblößte. Doctor Cornelis…

Ehrfürchtig traten die Leute beiseite, um dem Leibarzt des Königs Platz zu machen. „Joris…“, wiederholte der Physikus, der ganz gegen den Anschein der ältere der beiden war, und raffte seinen kostbaren Mantel und hockte sich neben den Mann in den Straßenschmutz. „Wie geht es Katie?“, fragte er, weil er trotz allem, was er erlebt hatte, nicht zynisch genug war, einen Mann nach seinem Befinden zu fragen, der, mit den Händen auf Holzklötze gestützt, sich auf kurzen, mit Lumpen und Leder umwundenen Beinstümpfen durch den Staub schleppte.

„Sie erwartet wieder was Kleines“, sagte der Bettler zufrieden. Cornelis nickte. Es war gut, dass er damals Kaat überredet hatte, den jungen Invaliden zu heiraten. Der Physikus wusste, wie sehr es eines frohen Herzens bedurfte, um am Leben zu bleiben, und Kaat hatte Joris froh gemacht. Auch für sie selber war die ungewöhnliche Verbindung zum Segen geworden. Zunächst war Joris freilich nur einer gewesen, der ihr das Balg abgenommen hatte, wenn sie ihren Dienst im Hause des Grafen Serafinus versah. Das Balg, das dem schönen Grafen so ähnlich sah, wie sehr die Vierzehnjährige auch behaupten mochte, sie wisse nicht, wer der Vater sei. Alle sagten sie das in solchen Fällen, die häufig waren, und Cornelis war nicht in sie gedrungen. Zu einfach war es für einen hohen Herren, sich einer Magd zu entledigen, die Schande über sein Haus gebracht hatte.

Kaat hatte das zu verhindern gewusst. Der englische Bader hatte sie auf der Straße entbunden, weil sie alles verschwiegen hatte bis zum Schluss. Am nächsten Tag hatte sie ihren Dienst angetreten wie gewöhnlich, das Balg unter dem Kittel.

Cornelis erinnerte sich noch gut. Es war eine seiner ersten Entbindungen. Ehe er hierher kam, war die meiste Zeit das Schlachtfeld sein Arbeitsplatz gewesen – ungewöhnlich für einen, der an den besten Universitäten Europas studiert hatte und sich ganz der Pflege hoher Herren in behaglichen Palästen hätte hingeben können, statt mit gemeinen Feldscheren, Badern und Chirurgen in dreckigen Zelten die furchtbaren Folgen unsäglicher Gemetzel zu… nun, zu heilen, war ein großes Wort und traf es kaum, konnte es kaum treffen, wenn auch bei Cornelis mehr als bei anderen.

Weit mehr.

So war es ihm ein Geringes gewesen, als eines Mittags vor fast zwanzig Jahren die junge Magd vor seine Füße gestürzt war, wie er eben seinen Baderwagen verlassen hatte – das ärmliche Gefährt, das zu seiner neuen Arbeits- und Schlafstätte geworden war, nachdem etwas ihn aus seinem alten Leben gerissen hatte, über das er mit niemandem sprach. Cornel of Clovesborough war danach lange krank gewesen und hatte schließlich allem den Rücken gekehrt – seiner Arbeit, seinen Freunden, seiner Familie, seinem König. Seinem Land. Für immer. Doch die Magie in seinen Händen und der Zauber in seiner Seele waren nicht zerstört. Die Leute, die zu dem jungen englischen Bader kamen mit faulenden Zähnen, ausgerenkten Gliedern und zehrendem Fieber, mit gebrochenen Knochen, schrundiger Haut, blutigen Abszessen und verschmähter Liebe, spürten seine segensreiche Kraft und kehrten getröstet und oft sogar geheilt nach Hause zurück.

So also auch Kaat, die auf der Straße lag, damals vor beinahe zwanzig Jahren, und alle Menschen, doch nicht Cornel of Clovesborough, in die Flucht schlug mit ihren grauenvollen, gellenden Schreien. Dem Physikus waren diese vertraut und lieb, denn wer so schrie, der hatte noch Kraft. Er legte Kaat seinen Mantel unter und sprach sie sanft mit ihrem Namen an, den er ihr zwischen zwei Wehen entlockt hatte, und stellte sich mit dem seinen vor und hockte sich hinter sie und nahm sie in seinen Schoß, dass sie besser lag, und stützte sie und rief sich die einzige andere Entbindung ins Gedächtnis, der er beigewohnt hatte. Er versuchte, nicht allzu besorgt darüber zu sein, dass es sich bei der Gebärenden damals um die Prachtstute eines englischen Herzogs gehandelt hatte, und es war auch nicht nötig, denn das Kind kam rasch und von selbst und er hatte nichts zu tun als es abzunabeln. Er dankte Gott und mahnte Kaat, dasselbe zu tun, und trug die Frau und das Kind in seinen Wagen und wärmte und wusch und fütterte sie…

Noch heute spürte er den tiefen Frieden, wenn er an jene Stunden zurückdachte, die voll zärtlicher, absichtsloser Intimität gewesen waren, ein Geschenk. Ein winziger Abglanz dessen, was er verloren hatte vielleicht.

An das andere, das später passiert war, fiel es ihm noch heute schwer zu denken. „Und wie geht es Euch, Doctor?“, fragte jetzt der alte Bettler. „Was?“, sagte Cornelis, aus seinen Gedanken gerissen. Wie es ihm ging… Wortlos nahm der Physikus den Alten, dreckig wie er war, auf seinen breiten Rücken. Die Bettelbüchse und die an einer Schnur um Joris’ Nacken hängenden Holzklötze baumelten gegen seine Brust, als er sich erhob. Er lief los, die Beinstümpfe unter seine kräftigen Arme geklemmt.

Ein Ochsenkarren hatte das getan, damals, vor an die zwanzig Jahren. Sie hatten den englischen Bader gerufen, weil kein Arzt zu den Armen kam, und er hatte das Maultier getrieben, dass sein Wagen holperte und sprang. Rasch war er zur Stelle gewesen. Nur einen Moment lang hatte der Anblick ihm den Atem geraubt. Er hatte den jungen Färbergesellen, den sie inzwischen aus der alles zermalmenden Gewalt der schweren Räder befreit hatten, vorsichtig auf seine Bahre gehoben, die nur ein einfaches Brett war, und ihn mit Hilfe einer älteren Frau, der einzigen, die nicht wie gelähmt stand, auf seinen Tisch im Wagen gelegt, während er ruhig zu ihm sprach.

Mit einem Blick hatte der Bader seine Materialien überflogen. Es war alles bereit.

Er hatte dem Jungen ein Stück Holz zwischen die Zähne gegeben und ihm einen Schwamm vors Gesicht gebunden, der mit den Säften von Alraune und Bilsenkraut und dem Pulver von Mohnsamen getränkt war. Dann hatte er die zwei kräftigsten Männer, die er im Publikum sah, mit seinem Dolch bedroht, dass sie in den Wagen kämen und den Jungen festhielten. Sorgfältig hatte er seine Hände in einer Schüssel mit Essigwasser gewaschen, ehe er die blutgetränkten Beinlinge des Jungen von der Bruech gelöst und heruntergestreift hatte. Dann hatte er saubere Leinwandbinden genommen und die zertrümmerten Beine mit der ganzen rohen Kraft seiner Chirurgenarme abgeschnürt - - -

Der junge Bader atmete tief durch. Seit seiner Ankunft mochten gerade einmal fünf Minuten verstrichen sein. Vorsichtig wusch er das Blut mit verdünntem Wein fort und studierte die Verletzungen. Dann wickelte er Skalpelle und Knochensägen, die er auch nach kleinen Eingriffen wie dem Abtrennen einer erfrorenen Zehe stets sorgsam reinigte und in der Glut eines Feuers läuterte, aus einem großen, sauberen Lappen. Er ergriff ein damastgeschmiedetes arabisches Skalpell und wog es in der Hand. Der große hakim Abdhul ibn Mah’allah hatte es ihm geschenkt; damals; in einem andern Leben. Es war des Baders kostbarster Besitz.

Mit sicheren Bewegungen amputierte Cornelis die rettungslos zerschmetterten Glieder und presste frisches Linnen auf die dicken Stümpfe, wieder und wieder, bis die Tücher sich nicht mehr rot färbten und die Blutung stand. Längst hatten der Schmerz und der Schock den Jungen in gnädige Bewusstlosigkeit gesenkt und die starken Männer hatten sich davongemacht. Der Bader ließ sie ziehen und versorgte ruhig die Wunden. Erst hinterher, als er den Brei von Fleisch, Blut und Knochen vom Tisch in einen Eimer wischte und sich und seinen Wagen reinigte, begann er am ganzen Leibe zu zittern. Es war eine Weile her gewesen, dass er so etwas noch getan hatte, und er hatte andere Ausrüstung gehabt. Er zitterte noch immer, als er in der Dämmerung den Inhalt seines Eimers auf einen von streunenden Hunden und wilden Schweinen umlagerten Abfallhaufen schüttete.

Der Junge war ins Haus seines Meisters gebracht worden. Selbst wenn er überlebte, würde der Meister den unnützen Esser bald hinauswerfen.

Wenn sein Lehrling aber starb, würde er den Bader töten.

Sie hatten es beide überlebt. Der Leibarzt des Königs rückte den Bettler auf seinem Rücken zurecht und strebte einer Taverne zu. Er sehnte sich nach einem Becher Wein und einem guten Gespräch.


Der Krieg

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