Читать книгу Wenn die Kindheit Schatten wirft... - Barbara Egert - Страница 10
ОглавлениеMütter und Töchter
Wir Töchter tragen die eine Sehnsucht in uns - auch wenn wir sie zeitweilig heftig leugnen -, von unserer Mutter geliebt zu werden. Auch möchten wir in unserer Gesamtheit gemocht und wahrgenommen werden. Wir wünschen uns, dass die Mutter unsere Fehler verständnisvoll akzeptiert oder zumindest toleriert, uns unseren Weg gehen lässt mit all den Umwegen, die dazu gehören. Sie sollte uns die Freiheit lassen, selbstständig zu handeln und zu entscheiden, aber auch immer für uns da sein, wenn wir Schutz und Hilfe brauchen. Kurz: Unser Traum ist die Ideal-Mutter.
Die kulturellen Klischees, wie eine Mutter zu sein hat, ändern sich kaum. Sie entsprechen auch heute noch mehr oder weniger den Erwartungen der meisten Töchter. Aber auch die Mutter-Ideologie erlegt den Müttern auf, vor lauter Liebe und Fürsorge nur noch glücklich in das Antlitz des geliebten Kindes zu blicken, ob es sie schon seit Stunden nachts wach hält, selten gehorcht oder wie eine Nervensäge schreit. Dass diese idealisierten Erwartungen kaum zu erfüllen sind, auch nicht von der besten aller Mütter, begreifen die verletzten Töchter eventuell erst spät, manchmal zu spät, und dann sind die Kluft und Abneigung bereits unüberbrückbar.
Wenn Mütter den Forderungen ihrer Töchter „Sei die Mutter, die ich brauche, nicht die Mutter, die Du bist“ nachkämen, dann gäbe es sicherlich kaum Schwierigkeiten in ihren Beziehungen, aber auch weniger Chancen zum Wachstum – für beide. Die Klagen der Töchter beginnen meistens mit: „Wenn sie doch nur…..... wäre/hätte“, und dann folgen unendlich viele Wünsche, die sich je nach Alter der Töchter ändern und immer noch und immer wieder die Hoffnung beinhalten, dass ihr Verhältnis zu ihrer Mutter doch liebevoller oder endlich so vollkommen werden möge, wie sie sich diese einmalige Beziehung gedacht hatten.
Heutzutage ist das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern weitaus lebendiger und offener, als wir es von unseren Großmüttern zu unseren Müttern kennen, aber Tatsache war und ist, dass die Mutter eine Autorität für die Tochter ist und zum Leidwesen der Tochter noch allzu lange all-mächtig bleibt, wodurch sie einen enormen Druck ausüben kann. Aber auch viele Mütter können sich nicht von ihren Töchtern lösen, da helfen auch die Pubertät der Tochter und alle Bemühungen, sich so schrecklich wie eben möglich zu verhalten, nicht. Als ich mit 16 Jahren in meine Juliette-Gréco-Phase kam, nur noch schwarz gewandet herumlief, lautstark französische Chansons hörte und hustend versuchte, Gauloise zu paffen, konnte nur mein Vater ein Machtwort sprechen, meine Mutter war für mich nicht mehr maßgeblich.
Der in der Pubertät notwendige Ablösungsprozess kann zwar von der Tochter mehr oder weniger vollzogen worden sein, aber die Mutter hält weiter fest, und dann beginnen die nervenden Kämpfe und Probleme, die bis zu einer endgültigen äußeren Trennung führen können. Die innere Trennung, so scheint es jedenfalls, ist kaum möglich, denn die Emotionen, die noch nach Jahren ausbrechen, wenn das Gespräch auf Mutter oder Tochter kommt, bezeugen die Intensität der inneren Bindung.
In einer Untersuchung, in der 60 Frauen befragt wurden: “Wolltest Du werden wie Deine Mutter oder ganz anders?“ antworteten 58 Frauen eindeutig: „Anders, ganz anders, bloß nicht wie meine Mutter“. Bei manchen Frauen zeigt sich diese Ablehnung dann in etwas ab-wegigem Verhalten, das ihrem eigenen Naturell gar nicht entspricht. Sie lebten nun das exakte Gegenteil ihrer Mutter und damit gegen ihr eigenes Wesen. Diese Oppositionshaltung kann sich in sehr vielen Eigentümlichkeiten und Eigenarten zeigen, jedoch ist eines sicher, solange sich die Tochter so konträr verhält, hat die Mutter sie noch fest im Griff.
Wir mussten als Kinder glauben, dass unsere Mutter vollkommen und immer für uns da ist, weil wir damals von ihr abhängig waren und sie eben die Welt, das Leben schlechthin für uns bedeutete. Sogar misshandelte oder abgelehnte Kinder rufen und sehnen sich immer noch nach ihrer Mutter, weil der tiefe Wunsch oder die Illusion, eine liebende Mutter gehabt zu haben, übergroß und (über-) lebenswichtig ist.
„Es ist besser, wenn wir als Kinder so früh wie möglich lernen, dass Mutter uns zwar liebt, aber nicht ausschließlich.“ Und: „Der Mythos, dass Mütter ihre Kinder immer lieben, ist so beherrschend, dass selbst eine Tochter, die zu einem gewissen Zeitpunkt zugeben muss, dass sie ihre Mutter nicht mag, nichts als positive Empfindungen gegenüber ihren Kindern äußern wird.“ (Nancy Friday: Wie meine Mutter)
Abgesehen von den drastischen missbräuchlichen Verhaltensweisen der Mütter erscheinen viele Beziehungen zwischen Töchtern und Müttern nicht durchweg schlecht oder problematisch, bei genauerem Hinsehen jedoch sind sie aber eben doch ziemlich kompliziert und von zuweilen chaotischer Struktur. Die emotionale Bindung zwischen Müttern und Töchtern ist sehr stark, und Mutterliebe und Mutterhass liegen manchmal nahe beieinander. Nur kann man über letzteres nicht sprechen, da es meist an Frevel grenzt, die Frau, die uns das Leben geschenkt hat, so total abzulehnen.
Mütter und Töchter sind eben auf besondere Weise miteinander verbunden, denn durch diese primäre Beziehung bildet sich das Ich-Gefühl, die Identität einer Tochter, einer Frau, ihr Selbst-Verständnis von Gefühlen und der Bedeutung, eine Frau zu sein, was den weiblichen Körper und die Sexualität mit einschließt. Was wir von unserer Mutter erwarten und erhoffen, ist von jener kaum zu erfüllen, aber sie ist nun mal der einzige Mensch, an den wir all unsere Wünsche richten können, und außerdem sind wir in der Kindheit davon überzeugt, dass sie alles kann, wenn sie nur will.
Bei einer Tochter äußert sich ein negativer Mutterkomplex unter anderem darin, dass sie um keinen Preis wie ihre Mutter sein will, alles – nur nicht wie die Mutter. „Das Verblüffende an diesem Phänomen ist die Tiefe der Angst und der eingewurzelte Glaube an die negative Macht der Mutter, die für so groß gehalten wird, dass, wenn die Tochter auch nur im geringsten wie ihre Mutter ist, diese Macht sich wieder einstellt und auf andere die gleiche Wirkung hat, wie sie auf die Tochter hatte – so glaubt die Tochter jedenfalls.“ (Kathie Carlson: Nicht wie meine Mutter)
Ihr Unbewusstes ist vergiftet durch die verinnerlichten Eigenschaften der Mutter, die eine ungewollte Bindung erzeugen und sie oft genug in dunkle Tiefen ziehen. Das ist auch einer der Gründe, warum Töchter sehr früh heiraten. Sie realisieren allerdings nicht, dass damit die Mutterbindung nicht gelöst, die Fixierung an sie nicht gelöscht wird. Ein negativer Mutterkomplex kann später durch eine Episode, das Verhalten eines anderen Menschen oder einen Traum etc. aktiviert werden. Alle mit diesem Komplex verbundenen verschütteten Emotionen überfallen sie und lassen sie so heftig reagieren, dass sie selbst und ihr Umfeld erschrocken sind. Und sie dachten, sie hätten die Mutterproblematik überstanden…Weit gefehlt, sie war nur eine Zeit lang nicht präsent.
Wir sind so emotional und verstrickt in alte Gefühlsmuster, dass wir unsere Mutter und Kindheit nur schwer mit einer gewissen Distanz betrachten können. Wir werden eher selektiv die schwierigen Eigenschaften unserer Mutter wahrnehmen. Die negativen Gefühle setzen sich in uns fest, und all die liebenswerteren Wesenszüge werden ins Unbewusste verbannt. Wenn der Archetypus der Großen (schrecklichen) Mutter in sie projiziert wurde, dann sind diese Projektionen sehr langlebig und nur mit größten Schwierigkeiten aufzulösen. In Gesprächen über unsere Mutter heißt es dann meistens: „Sie konnte auch nett sein, aber…“, wobei das „Aber“ die zeitweilig wahrgenommene Nettigkeit quasi wieder auslöscht. Wahrscheinlich kommen die Betroffenen nicht umhin, zur Aufarbeitung und Bewältigung alle Emotionen noch mal zu durchleben. Anders geht es nicht! Man löst das Problem nur durch Bewusstwerdung der Vergangenheit.
„Viele Mütter neigen dazu, die Tochter mehr noch als den Sohn als Teil des eigenen Selbst zu sehen, und das führt dazu, dass sie die Eigenart der Tochter und ihre individuellen Bedürfnisse ungenügend wahrnehmen..... Die Mutter kann in ihrer Tochter auch abgelehnte Teile ihrer eigenen Person unbewusst wahrnehmen, die sie dann in der Tochter bekämpft.“ (Margarete Mitscherlich: Die friedfertige Frau)
Wenn Töchter vor lauter Ablehnung, Wut und Verzweiflung oft am liebsten vorzeitig das Elternhaus verlassen möchten, haben sie auch triftige Gründe. Älter gewordene Töchter setzen sich bewusster mit einer Mutter auseinander, die selbst in ihrer ganz speziellen Problematik gefangen ist und offenbar nur sich und ihre Krisen sieht. Sie beneidet ihre Tochter um deren Jugend, Lebendigkeit und Freunde und gönnte ihr das nicht, natürlich nicht offen und direkt, sondern auf subtilere Weise. Ich hatte eine Kollegin, die jedes Mal, wenn sie mit ihrer Familie in Urlaub fahren wollte, schon darauf wartete, dass ihre Mutter genau zu diesem Zeitpunkt krank wurde und jammerte, sie müsse sicherlich ins Krankenhaus oder würde sogar sterben.
Nicht einfach zu enträtseln sind auch die in dem Kapitel „Doublebinds“ verdeutlichten Doppelbotschaften der Mütter, wenn sie etwa klagen: “Geh nur aus, ich komme schon allein zurecht…“, die die Tochter in eine missliche Lage bringen. Der Abend, an dem die Tochter sich mit ihrem Freund treffen will, ist überschattet von den unausgesprochenen, aber angedeuteten Wünschen der Mutter, die ja immer alles für ihr Kind getan hat und nun diesen Feiertag alleine verbringen muss. Dieser durch die Doppelbotschaften entstandene moralische Druck macht wütend und hilflos, da diese Wut nicht gezeigt und ausgesprochen werden darf, denn die Mutter könnte dann in Tränen ausbrechen oder einige Tage mit leidendem Gesicht herumlaufen und der Tochter ein permanent schlechtes Gewissen machen.
Und dann sind da noch Schuldgefühle, die wechselseitig zwischen Müttern und Töchtern entstehen und zumeist die Töchter vergraulen. „Ich habe mich für Dich aufgeopfert“, ist ein Kernsatz, der solche Schuldgefühle in der Tochter erzeugt, dass sie wie gelähmt ist, obwohl ihre persönliche Erfahrung und ihr gesunder Menschenverstand ihr sagen, dass soviel Aufopferung gar nicht stimmen kann.
Andererseits haben viele Mütter Angst, ihrer Tochter nicht ausreichend Zeit und Zuwendung geben zu können, überhaupt wenn sie berufstätig oder allein erziehend sind. Das Bemühen, eine „perfekte“ Mutter zu sein, ist hoffnungslos zum Scheitern verurteilt und doch plagen sich die Mütter mit einem schlechten Gewissen und der Angst, nicht „gut genug“ zu sein. Töchter, die trotz aller liebevollen Bemühungen der Mutter abweisend und wenig zugänglich sind, erzeugen in ihr immer wieder Schuldgefühle.
Durch meine Recherchen zum Mütter/Töchter-Thema und meinen eigenen Erfahrungen und Gesprächen wurde mir immer bewusster, dass diese Beziehung stets von hoher Emotionalität ist, dass sie noch lange, oftmals über den Tod der Mutter hinweg, kaum an Intensität verliert. Wenn man scherzt: „Im Zweifelsfall ist immer die Mutter schuld“, wird das allzu beifällig begrüßt, erspart es doch den Töchtern, den eigenen Schatten und ihren Beitrag zu diesem Teufelskreis wahrzunehmen.
Der Tochter bringt es später nichts mehr, ihrer Mutter für alles Negative, was in der Vergangenheit zwischen ihnen geschah, die Schuld zu geben. Ich denke, wir erwachsenen Töchter könnten versuchen, die Vergangenheit – nun mit etwas mehr Distanz – zu verstehen, es sei denn, die Mutter hat uns grob misshandelt und uns nachhaltig geschädigt. Hatte man z.B. eine Alkoholikerin zur Mutter und unter ihr sehr zu leiden, so würde ich mir die Frage stellen, durch wen oder was war meine Mutter so voller Angst, dass sie die Realität ohne Bewusstseinsveränderung nicht mehr aushielt? Kaum eine Mutter ist nur schlecht, und zu bedenken, was sie an Gutem für uns getan hat, helfen sicher auch, unseren Groll und ihre Verneinung abzubauen. Vielleicht können wir auch im Nachhinein Mitgefühl entwickeln, weil die schwierige Lebensgeschichte der Mutter, angefangen von dem vielleicht miserablen Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter bis zur Aufgabe all ihrer Jugendträume (durch Krankheit, Scheidung, soziale Probleme etc.), uns nachsichtiger und weichherziger werden lässt.
Auch die Schattenproblematik zwischen Müttern und Töchtern ist ein enorm wichtiges Thema. Stellen wir uns vor, dass eine Tochter im Laufe ihrer Adoleszenz die Welt der männlichen Wesen und ihre Sexualität entdeckt. Es wird nicht ausbleiben, dass sie sich aufreizend anzieht, beginnt, Augen und Lippen in schwarz-rote Gemälde zu verwandeln und sich abends, längst nach der von den Eltern fest gesetzten Zeit, in ihr Zimmer schleicht.
Stellen wir uns weiter vor, dass die Mutter in einem prüden Elternhaus erzogen wurde und früher gerne auch ihre Erfahrungen gemacht hätte. Aber ihr Umfeld und Elternhaus gestatteten ihr keine Experimente mit dem anderen Geschlecht, und so heiratete sie früh ihren Jugendfreund. Der Schatten der Mutter, also die abgelehnten und ungelebten Teile in ihr, die sie aus diversen Gründen nicht akzeptieren kann und somit verdrängen muss, bekämpft sie nun in der Tochter und lässt sie wütend schimpfen, sie solle ihr bloß nicht mit einem Kind nach Hause kommen bzw. sich wie ein Flittchen anziehen etc. Es wäre für Mütter der heranwachsenden Töchter äußerst hilfreich, wenn sie sich psychologische Kenntnisse aneignen könnten, die beiden – zumindest einige – heftige Auseinandersetzungen und Missverständnisse ersparen würden.
Ein Verständnis dieser psychischen Prozesse täte beiden gut. Auf einer übergeordneten Ebene würde ich persönlich davon ausgehen, dass wir genau die Mutter bekommen bzw. die Mutter genau die Tochter bekommt, die für beide in diesem Leben richtig ist – als eine Herausforderung und Chance im Sinne unserer Individuation.