Читать книгу Wenn die Kindheit Schatten wirft... - Barbara Egert - Страница 3

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Einleitung

Glaubt man den Biografien berühmter Autoren, so hatten die meisten eine wohlbehütete, sonnige Kindheit: der Vater streng aber gerecht, die Mutter einfühlsam und liebevoll. So wünscht man sich seine Eltern; kein Wunder also, dass wir unsere frühen Jahre romantisieren. Es kann und darf einfach nicht sein, dass es anders gewesen sein könnte. Denn wer lebt schon gerne mit einem missglückten Start ins Leben? Die Vorstellung einer heilen Kindheit trägt uns eine ganze Weile. Bei der ersten großen Krise kann es aber nötig sein, unsere Vergangenheit in einem anderen Licht zu sehen: realistischer, näher an der Wirklichkeit. War die Mutter wirklich so, wie wir sie gerne gehabt hätten, war der Vater nicht eher unerträglich als nur streng und gerecht? Wenn es uns gelingt, unliebsame Wahrheiten zu akzeptieren und Idealisierungen aufzugeben, sind wir auf dem besten Weg zu uns selbst.

Ich persönlich glaubte wie viele andere auch, eine völlig normale, sonnige Kindheit gehabt zu haben, bis ein harmloser Streit mit meiner Mutter über eine Einladung zu einem Weihnachtsessen, die ich mit gutem Grund absagen wollte, den Stein ins Rollen brachte. Und dieser Stein rollt noch heute, wenn ich aus einem Traum aufschrecke, in dem ich zu etwas genötigt werde, das mir widerstrebt. Oder wenn jemand meint, über mich verfügen zu können. Kein Wunder also, dass ich diesen Stein näher kennenlernen wollte, um nicht von ihm erdrückt zu werden. Also begann ich, meine Kindheit genauer zu betrachten.

Von Ferne gesehen, etwa aus der Perspektive meiner Geschwister, war alles völlig normal: niemand wurde bei uns misshandelt, keiner wurde geschlagen, von den üblichen Ohrfeigen abgesehen. Doch dann fielen mir Kleinigkeiten ein. Wenn ich krank war, wie verhielt sich meine Mutter da eigentlich? Nahm sie mich in den Arm, tröstete sie mich? Im Gegenteil: „Was hast Du denn jetzt schon wieder?“, das war alles. Überhaupt schien ich ihr eher lästig als willkommen zu sein. Wie ich später hörte, schob sie mich, praktisch wie sie war, samt Kinderwagen auf den Balkon: abgeschoben. Und dort begann mein lebenslanges Gefühl der Einsamkeit und die Angst, abgeschoben, verlassen zu werden. Als ich dann noch erfuhr, dass ich nicht nur unerwünscht, sondern gerade eben zwei Abtreibungen entkommen war, war es aus mit der Illusion meiner heilen Kindheit.

Viele haben Ähnliches erlebt. Bei mir kam noch etwas hinzu, das ich mir erst viel später, leider viel zu spät, erklären konnte: meine Hochsensibilität. Ich erinnere mich an einen Geburtstag, laut, ausgelassen, wie Kinder eben so sind, wenn sie feiern. Warum bekam ich, und nur ich, von all dem Lärm rasende Kopfschmerzen und brach in Tränen aus, weil mir alles zuviel wurde? "Was ist denn mit Dir schon wieder los?", war die einzige Reaktion meiner Mutter, die es nicht besser wissen konnte, obwohl ich sicher gehofft habe, wenigstens von ihr verstanden zu werden.

Heute, eigentlich erst seit zwei Jahren, ahne ich, was damals passierte: Reizüberflutung, typisch für Hochsensible. Inzwischen weiß ich mehr über dieses Phänomen, und dass ich zu jenen 20 Prozent gehöre, die sich endlich ihr sonderbares Verhalten nicht nur als Defizit, sondern als Begabung erklären können.

Wenn jener Stein ins Rollen kommt, der uns weismachen will, eine heile Kindheitswelt beschützen zu müssen, kann einem zunächst angst und bange werden. Fragen tauchen auf: Wie waren meine Eltern wirklich? War ich es eigentlich, der sich für einen Beruf, die sexuelle Identität, Vorlieben und Abneigungen entschied oder waren sie es? Bin ich wirklich ich selbst geworden oder immer noch, auch wenn sie längst gestorben sind, nur ein Abbild ihrer Wünsche und Hoffnungen, eine unter den vielen Figuren im Schachspiel ihres Lebens? Werde ich immer mehr wie meine Mutter, mein Vater, obwohl ich mir so sehr wünsche, mit mir selbst identisch zu sein? Wie dominant die inneren Eltern sind, merkt man, wenn jemand sagt, man rede fast schon so wie die eigene Mutter oder wir uns selbst einreden, dieses oder jenes nicht zu schaffen, ohne zu merken, dass das die Abwertung unseres Vaters war. Langsam erst beginnt man zu ahnen, wie selten man sein eigenes Leben lebt, sondern die Eltern einem immer noch zuflüstern, wie man zu leben habe.

Wie wichtig Antworten auf solche Fragen sind, spüren wir bei Angstattacken, Problemen in Beziehungen, in einer Krise oder wenn wir erkranken und ahnen, dass der Schlüssel zu unserer Gesundung in der Kindheit liegen könnte. Dann müssen wir uns erinnern und versuchen, sie neu zu interpretieren, alleine oder mit Hilfe eines Therapeuten. Kein Grund zu verzweifeln, eher der Beginn, sich und seine Besonderheit besser zu verstehen und sich endlich von den Schatten der Kindheit zu befreien.

Wenn die Kindheit Schatten wirft...

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