Читать книгу Wenn die Kindheit Schatten wirft... - Barbara Egert - Страница 4
ОглавлениеI. Wenn die Kindheit Schatten wirft…
„... doch wohin ich schaue, sehe ich das Gebot, die Eltern zu respektieren, nirgends aber ein Gebot, das Respekt für das Kind verlangt.“ (Alice Miller: Am Anfang war Erziehung)
Von Geburt an sind wir Erfahrungen ausgesetzt, deren Auswirkungen uns ein Leben lang begleiten, und wir werden von ihnen bestimmt, ob wir sie wahrnehmen oder nicht. Die in der Kindheit entstandenen inneren Konflikte und die daraus resultierenden Probleme haben unterschiedliche Schweregrade. Je nachdem, wie sehr man verwundet und misshandelt wurde, werden einen die Folgen und Auswirkungen später immer wieder heimsuchen und auffällig häufig um einen bestimmten Themenkomplex kreisen. Diese nachhaltigen Leiderfahrungen können nur gelöst werden, wenn man den Mut aufbringt, sich seinen dunklen Seiten zu stellen und um Bewusstwerdung zu kämpfen.
Ich möchte allerdings nicht nur auf die allerdunkelsten Schatten eingehen, die mit sträflichem Missbrauch verbunden sind, sondern auch die helleren Schattierungen aufzeigen, die in fast jeder Eltern-Kind-Beziehung zu finden sind. Sie hassen und verachten Ihre Eltern vielleicht nicht, sind ihnen aber auch nicht in besonders liebevoller Erinnerung verbunden, weil es große Differenzen gab und Verhaltensweisen der Eltern, die Sie so geprägt haben, dass Sie immer wieder in dieselben „Lebensfallen“ tappen. Eltern, von denen manche meinten, ihr Bestes gegeben zu haben, aber Scheuklappen für Ihr ursprüngliches Wesen und Ihre Bedürfnisse hatten. Welche unterschiedlichen Aufgaben haben Vater und Mutter? Wie nehmen Töchter und Söhne ihre Eltern wahr? Ein gelungenes Miteinander in der Familie hängt von allen Beteiligten ab, aber zunächst sind die Eltern für die gesunde psychische und physische Entwicklung ihrer Kinder verantwortlich.
In meinem nahen und weiteren Umfeld ist – wenn man genau hinsieht - fast jeder zweite Mensch seelisch verwundet, aber erst wenn die Schwierigkeiten und der Schmerz nicht mehr auszuhalten sind, wird nach Hilfe gerufen. Verwandte - vor allem die Eltern - sind in diesen Fällen weniger geeignet, da sie meistens in die Ursachen der desolaten Befindlichkeit verwickelt sind. Freunde, Psychotherapeuten und Astrologen werden heute viel eher und offener als noch vor Jahrzehnten um Unterstützung gebeten, um Licht in die Schatten der Kindheit zu bringen.
Ein gravierendes Problem besteht darin, dass man zwar ahnt, dass seine Schwierigkeiten mit den Erfahrungen seiner Kindheit verbunden sein könnten, aber einem fehlt die konkrete Erinnerung, oder aber man will sich lieber nicht an die ersten Lebensjahre erinnern. Und wenn man es dann doch wagt, weil die Belastungen zu groß geworden sind, dann fehlen einem viele Bruchstücke, und man kämpft vergebens mit den Gespenstern der Vergangenheit. Ich konnte Einblick in die schmerzhaften Erfahrungen so mancher Kindheit gewinnen, und mir wurde immer verständlicher, dass diese lieber nicht ins Bewusstsein gelassen, sondern verdrängt werden. Es ist die bewusste oder unbewusste Angst davor, der Realität der damaligen Erfahrungen und den Kräften, die heute noch vernichtend oder auch subtil in uns schlummern, nicht gewachsen zu sein. Wahrscheinlich halten wir an der Idealisierung unserer Eltern auch fest, da wir meinen, ohne diese vermeintlich positiven Vater- und Mutter-Bilder nicht überleben zu können.
Die Folge ist, dass wir immer wieder in innere Konflikte und äußere Situationen geraten, die Depressionen, Wut, Beziehungsdramen, Rückzug und diverse psychosomatische Krankheiten auslösen, sodass wir nicht in der Lage sind, unseren Lebensweg zufrieden, gesund und sinnvoll zu gestalten. Der Sinn eines Lebens ist oftmals erst zu erkennen, wenn wir wissen, warum diese vielen schmerzhaften Umwege und Erfahrungen notwendig waren und die Ursachen bewusst gemacht, erkannt und verarbeitet werden konnten. Aber es geht nicht nur um intellektuelle Bewusstmachung, sondern um die damaligen Emotionen, die nach-gefühlt werden sollten, denn: „…die Erinnerung, welche die damit verbundenen Gefühle heraufbringt, geben Anlass zur Hoffnung auf Bearbeitung der Kindheit und so auf Verheilung der Wunden.“ (Kathrin Asper: Von der Kindheit zum Kind in uns) Meist ist für diesen leidvollen Prozess eine Therapie notwendig, besonders wenn man ahnt, dass man es alleine nicht schafft, vor den inneren dunklen Dämonen zu kapitulieren. Aber dafür müssen wir mit Mut den Widerstand ersetzen, der uns abhält, unsere Kindheit zu erforschen.
„Die meisten Menschen tun genau das Gegenteil. Sie wollen nichts von ihrer Geschichte wissen und wissen daher auch nicht, dass sie im Grunde ständig von ihr bestimmt werden, weil sie in ihrer unaufgelösten, verdrängten Kindheitssituation leben. Sie wissen nicht, dass sie Gefahren fürchten und umgehen, die einst reale Gefahren waren, aber es seit langem nicht mehr sind. Sie werden von unbewussten Erinnerungen sowie von verdrängten Gefühlen und Bedürfnissen getrieben, die oft beinahe alles, was sie tun und lassen, in pervertierter Weise bestimmen, solange sie unbewusst und ungeklärt bleiben.“ (Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes)
Wenn wir aber nun kapitulieren, weil das innere und äußere Erleben unerträglich geworden ist, und wir uns einer psychologischen Therapie unterziehen wollen, dann wartet schon das nächste Problem auf uns: Wie finde ich einen Therapeuten, der mich empathisch begleitet, der die innere Realität meiner Kindheit anerkennt, der nicht das vierte Gebot über meine Gesundung stellt? Ist ihm das Thema der Hochsensibilität bekannt oder degradiert er mich als viel zu empfindlich? Darüber mehr im Kapitel „Wie sinnvoll sind Therapien?“.
Wenn unsere Kindheit Schatten wirft, dann können diese uns noch viele Jahre – meist lebenslänglich – verfolgen. Wir befinden uns in einer tiefen Dunkelheit, wir leiden und wissen nicht warum, dürfen und können nicht so sein, wie wir sind und sein wollen. Unsere Eltern erzeugten, manchmal ohne es zu wissen, eine Dunkelheit, eine Schattenlandschaft in uns, in die wir später, wenn uns bewusst wird, was mit uns geschehen ist, unter größten Anstrengungen Licht bringen müssen.