Читать книгу Überleben – Was blieb von der Heimat Donauschwaben? - Barbara Kohout - Страница 5
Gefühle, Vertrauen, Versprechen
ОглавлениеÜberleben, Überleben, Überleben – wie ich dieses Wort hasse!
Wie paradox! Sollte ich es nicht lieben?
Das kann ich nicht. Ich habe es gefühlte eine Million Mal im Zusammenhang mit „Harmagedon“ gehört. Harmagedon – die Mutter der Schlachten, in der alles vernichtet wird, was nicht des Überlebens wert ist. Nur die wahren Christen würden gerettet und das könnten nur die Mitglieder der Wachtturm-Organisation sein. Doch auch diese müssten sich durch treuen Gehorsam als würdig erweisen. Die klaren Maßstäbe für das Überleben kämen durch Gottes Geist nur von diesem „Mitteilungskanal“. Aber: „Wer überwindet, der wird die Krone des Lebens erhalten.“
Diese Verknüpfung von Hoffnung, die sich als leere Versprechung entpuppte, und der Bedrohung mit Vernichtung, Strafe, die Angst vor dem Blutbad, der Endzeit hat die vergangenen Jahrzehnte meines Lebens geprägt. Ich habe einem Phantom vertraut. Ich habe mich für eine Illusion verausgabt und vergessen, wer ich ursprünglich war.
Ich versuche, meine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Ich will nicht daran denken, dass ich sechzig Jahre meines Lebens Menschen opferte, die mich nun verraten haben. Als sie das Vertrauen meiner Eltern mit ihrem Versprechen köderten, dass wir sehr bald „Harmagedon“ überleben werden, gewannen sie auch mein Vertrauen. Hätte ich mich anders entscheiden können? Ein Kind mit elf Jahren ist doppelt gebunden: von den Eltern abhängig und erfüllt von dem Wunsch, auch selbst in der neuen Gemeinschaft anerkannt zu sein. Es war die trügerische Hoffnung, dass wir eine neue Heimat finden könnten – einen Ersatz für die unwiederbringlich verlorene. Auch ich habe ihnen vertraut und alles getan, um mir die Anerkennung und den versprochenen Lohn zu verdienen – das Überleben und das ewige Leben im Paradies.
Nun sitze ich hier und frage mich: Wer bin ich? Was ich nicht mehr sein möchte, weiß ich. Ich möchte kein angstgetriebener Mensch sein, der andere mit Angst vor einer Schlacht infiziert, die alles Leben vernichtet. Ich möchte kein Gottesbild vertreten, das nur einen strafenden, rächenden, parteiischen Gott kennt. Ich möchte nicht mehr mit einem „gut geschulten Gewissen“ handeln, das der Polizist in meinem Kopf ist, der mich ununterbrochen überwacht und alle Taten, die von den vorgegebenen Regeln abweichen, mit schlechtem „Gewissen“ quittiert. Ich will das Gewissen suchen, das wie ein Kompass als Richtungsgeber für mein Leben funktioniert und von einem Gott gegeben wurde, der sich allen Menschen liebevoll zuwendet.
Wenn ich aber wissen möchte, wer ich bin, muss ich an die Anfänge zurückkehren. Ich werde meinen Weg betrachten und den Weg meiner Eltern. Meine Geschichte ist ein Teil der Geschichte der Donauschwaben, der Deutschen Siedler, die während der Habsburger Regentschaft in verschiedenen Gebieten, u. a. Siebenbürgen, Rumänien, in der Banater Region und der Vojvodina, siedelten. Da sich der Siedlungsraum entlang der Donau erstreckte und viele Menschen aus Schwaben stammten, entstand der Name Donauschwaben. Meine Vorfahren siedelten in der Batschka oder Vojvodina. Mir fällt auf, dass ich meinen Kindern kaum jemals von meiner alten Heimat erzählt habe. Es war auch bei uns, wie in vielen Nachkriegsfamilien, üblich, die schlimmen Erinnerungen eher zu verdrängen.
Dann haben wir uns gedankenlos und kritiklos den neuen Ansprüchen der Sekte gefügt. Wie eifrig haben wir die früheren Verbindungen aufgegeben und waren so stolz, Untertanen der „Himmlischen Regierung“ zu sein. Die „Theokratie“, die bald die Weltherrschaft übernehmen würde und alle anderen Königreiche vernichtet.
Dafür haben wir uns „selbst verleugnet“. Wir haben vergessen, was unsere Wurzeln waren. Wir wollten diese Rolle annehmen, für „die Mehrung der Theokratie“ zu arbeiten. Diese Rechnung ist für die Wachtturm-Organisation gut aufgegangen. Sie ist in den vergangenen sechs Jahrzehnten von weniger als 300.000 Mitgliedern weltweit auf mehr als sieben Millionen angewachsen.
Nun, ich gehöre jetzt nicht mehr dazu. Ich muss mich nun nicht mehr an die unmenschlichen Forderungen halten, die genau regeln, mit wem ich befreundet sein kann und mit wem nicht. Das ist sehr gut.
Jetzt möchte ich davon erzählen, wer wir waren und wie es früher war. Dass ich das eines Tages tun wollte, war mir schon immer klar.