Читать книгу ... kannst du mich lieben? - Barbara Namor - Страница 4

Kapitel 2: Samstag, 28.7. – 2 Uhr 49

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Nachdem ich getrunken habe, betrachte ich Jule von der Seite. Sie sieht aus wie ein Häufchen Elend.

Plötzlich wendet sie sich mir zu und sprudelt los: „Sara, ich weiß, dass wir seit Jahren gut befreundet sind. Und weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte. Ich bin eigentlich gar nicht der Typ, um so etwas zu machen. Ich weiß doch, dass Joe dein Freund ist, aber …, aber …“

Und schon wieder schießt eine Flut von Tränen aus ihren Augen. Sie krümmt sich auf der Bank zusammen, als litte sie ebenfalls an einer Blinddarmentzündung.

So langsam wird mir klar, dass Jule mir nie geglaubt hat. So langsam begreife ich, weshalb ich ihre Wohnung nicht sehen sollte. Und so langsam ahne ich das Ausmaß ihres gegenwärtigen Entsetzens, das sich nicht nur auf Joes lebensgefährliche Erkrankung zurückführen lässt.

Ich lege Jule den Arm um die Schultern und zwinge sie, mich anzusehen. „Jule. Jetzt hör mir mal ganz genau zu! Sicher, Joe ist mein Freund. Ja, wir leben in einer Wohngemeinschaft. Ja, wir studieren zusammen. Doch das ist alles ganz anders, als du denkst! Er ist für meine Sicherheit verantwortlich. Und gewiss, ich liebe ihn. Aber ich liebe ihn wie einen großen Bruder. Wann kapierst du endlich, dass er nicht mein Geliebter ist? Wir sind kein Paar. Ich habe es dir doch schon einmal gesagt.“

Jule starrt mich an, vergisst sogar, weiter zu schluchzen. „Aber das kann doch gar nicht sein! So, wie ihr seit drei Jahren zusammen lebt! So, wie Joe dich vor allem und jedem beschützt! Der hängt ja wie ein Schatten an dir. Wenn du dich im Raum befindest, hat er für nichts anderes Augen. Warum behauptest du hartnäckig, dass er nicht dein Freund sei? Ich verstehe das nicht.“


Wahrheit oder Schweigen? Wenn Jule meine Freundin bleiben soll, gibt es eigentlich keine Wahl. Aus jedem ihrer Worte klingt heraus, wie sehr sie leidet, weil sie Joe liebt. Das kenne ich nur allzu gut: jemanden lieben, den man nicht lieben darf und sich deshalb richtiggehend krank fühlen. Weil ich schon in einer ähnlichen Situation gesteckt habe, kann ich mir vorstellen, was Jule gerade durchmacht, zusätzlich zu der Angst, die sie um Joe aussteht.

Außerdem weiß ich natürlich, dass ich Jule vertrauen kann. Wenn ich ihr bisher nichts von Ur erzählt habe, dann unter anderem zu ihrem Schutz, nicht weil ich glaube, dass sie die Neuigkeit irgendwo ausposaunen könnte. Ich bin mir sicher, sie braucht jetzt die Wahrheit, sonst wird diese Nacht, egal wie sie ausgeht, unerträglich für sie. Schließlich habe ich die Bilder in ihrer Wohnung gesehen: im Flur, in der Küche, als ich mir dort etwas zu trinken geholt habe, in dem Schlafraum, in dem Joe lag: Das Motiv war immer dasselbe.

Jule hat Joe als Modell gezeichnet, gemalt, fotografiert. Was dabei herausgekommen ist, sieht wunderschön aus; um das zu erkennen, hat sogar mein kurzer, unaufmerksamer Blick gereicht. Sicher ist Joe mit seinem austrainierten Körper ein spektakuläres Modell; er wirkt einfach unheimlich attraktiv. Aber Jules Bilder schienen mir darüber hinaus mit den Augen einer Liebenden geschaffen zu sein. Allein der Akt im Flur, bei dem sie Joe über seine rechte Schulter in Kohle gezeichnet hat: der Bildausschnitt ungewöhnlich gewählt mit seiner halben Schulterpartie, einem Teil des Oberarms, von hinten in sein leicht abgewandtes Profil schauend. Das Bild besitzt solch eine Ausstrahlung, dass man dem Modell am liebsten auf den Rücken tippen würde, um zu sagen: „Dreh dich bitte zu mir um. Ich muss dir ins Gesicht sehen.“

„Sara. Bitte! Jetzt sag schon – was ist das mit Joe und dir? Ich wollte mich nicht in ihn verlieben. Wirklich nicht. Deshalb habe ich auch manchmal den Kontakt zwischen dir und mir wochenlang abreißen lassen. Schon als du Joe damals auf unseren Abiturball mitgebracht hast, habe ich mich in ihn vergafft. Aber fast immer, wenn wir beide uns seitdem trafen, war er dabei. Da konnte ich einfach nicht vorbeischauen. Und vor ein paar Monaten ist er das erste Mal allein bei mir aufgetaucht. Ich habe mich so geschämt! Am Anfang habe ich ihn nur gezeichnet oder fotografiert. Dass mir so etwas passieren muss! Der Freund meiner Freundin …“


Jule ist versehentlich ziemlich laut geworden, ihre Stimme hallt förmlich in dem kahlen Krankenhausflur.

Ich lege ihr einen Finger auf die Lippen. „Scht! Nicht so laut, Jule. Wenn ich dir erklären soll, warum Joe und ich zusammenleben, geht das nur im Flüsterton. Und ich muss dich vorher fragen, ob es dir wirklich ernst ist mit ihm, denn was ich dir jetzt erzähle, kann gefährlich für dich sein. Ich meine wirklich gefährlich. Du kannst deshalb bedroht oder zum Beispiel entführt werden, wenn die Dinge schlecht laufen. Willst du das riskieren?“

Jule sieht mich verständnislos an. „Gefährlich? Was soll denn bedrohlich für mich werden, wenn du mir etwas erzählst?“

Ich seufze. Jule hat ja keine Ahnung. Also frage ich noch einmal: „Ist es dir ernst mit Joe oder habt ihr nur Spaß zusammen?“

Jule sieht mich dermaßen vorwurfsvoll an, dass sich jede weitere Frage erübrigt. Dann meint sie ziemlich bissig: „Wenn du was zu sagen hast, Sara, dann sag es. Ich liebe Joe. Ich habe mich lang genug dagegen gewehrt, um zu wissen, dass ich ihn wirklich nicht aus dem Kopf bekomme. Jetzt erklär mir endlich, warum ihr wie verheiratete Leute auftretet, obwohl du behauptest, du hättest nichts mit ihm.“

„Jule, Joe ist mein Bodyguard, mein Leibwächter. Der war in den letzten drei Jahren hauptsächlich für meine Sicherheit verantwortlich.“

Jule klingt mehr als nur ein bisschen giftig, indem sie sagt: „So kann man es natürlich auch ausdrücken. Ein etwas ungewöhnliches Rollenspiel, aber nicht völlig abwegig. Bisher kenne ich nur Geschichten von Typen, die auf Schwesternkittel oder Polizeiuniformen stehen, wenn es rund geht. Wenn du Joe als deinen Bodyguard verstehen willst – bitte.“

„Jule! Leise, verdammt noch mal! Erinnerst du dich, wann du Joe das erste Mal gesehen hast? Das war bei unserem Abiturball. Du hast dich noch gewundert, dass ich ein paar Tage vorher verschwunden war. Du hast damals gesagt, du wärst froh gewesen, dass mein Kleid für den Abiturball bei der Schießerei in dem Laden, in dem ich es mit dir ausgesucht hatte, nichts abbekommen hat. Nun, mein Kleid ist damals tatsächlich ungeschoren davongekommen, aber ich nicht. Ich bin vor dem Abiturball aus diesem Geschäft entführt worden und fast draufgegangen dabei. Ich steckte mitten in dieser Schießerei drin! Joe hat zu dem amerikanischen Team gehört, das mich danach in Rotterdam aus der Gewalt meiner Kidnapper befreit und nach Deutschland zurückgebracht hat. Und wenn du dich erinnern kannst – damals, als wir uns vor dem Ballsaal begegneten, hast du noch einen Mann neben dem Wagen gesehen, in dem Joe und ich gekommen sind.“

Jules Mund steht staunend offen, solange sie zuhört. Schließlich meint sie gedehnt: „Ja. Stimmt. Da stand ein ziemlich großer Kerl. Der war komplett in Schwarz gekleidet und ich habe mich noch gewundert, weil ich seinen Aufzug mit dem zerknitterten T-Shirt für einen Fahrer ziemlich unpassend fand. Aber ich habe nicht weiter auf ihn geachtet.“

„Jule, das ist Tom. Das ist der Mann, den ich liebe. Mit ihm bin ich zusammen, wenn ich hier in Düsseldorf von der Bildfläche verschwinde. Und er ist Joes Boss gewesen bei der Aktion in Rotterdam.“

Jule rückt ein Stück von mir weg, betrachtet mich skeptisch. Dann fragt sie plötzlich ganz pragmatisch: „Hast du ein Foto von ihm?“

Ich schüttle den Kopf. „Nein. Aus Sicherheitsgründen soll ich darauf verzichten. Wenn mich jemand schnappt, sollte es nicht möglich sein, eine Verbindung zwischen ihm und mir herzustellen.“

Jule schnaubt. „Bodyguards, Sicherheitsgründe. Von der Bildfläche verschwinden. Du könntest geschnappt werden. Sara, du siehst wirklich toll aus. Seit ich dich kenne, weiß ich, dass Männer sich darum reißen, deine Bekanntschaft zu machen, aber auch wenn du Misswahlen gewinnen könnest, ist das doch kein Grund dafür, dass du Personenschutz brauchen solltest. Was du da erzählst, klingt so, als hättest du nicht alle Tassen im Schrank!“

„Ja, das kann ich mir vorstellen“, muss ich zugeben. Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Dann versuche ich es so: „Ich habe sozusagen eine Tasse mehr im Schrank als andere Leute. Jule, ich spreche Ur. Das ist der Grund dafür, dass es in meinem Leben einen Tom gibt und einen Joe und dass ich Personenschutz durch einen Geheimdienst genieße.“

Jule schnieft. „Ur? Was soll das denn sein?“

„Das ist buchstäblich die Ur-Sache für mein Sprachtalent, meine gute Abiturnote in Mathematik, dafür, dass sich ausländische Geheimdienste für mich interessieren, dafür, dass ich nicht krank werde und nicht lügen kann. Tom ist sogar der Überzeugung, dass ich gut aussehe, weil ich Ur spreche.“

„Sara, ich verstehe kein Wort!“, verkündet Jule nachdrücklich, aber immerhin neugierig. Natürlich ist ihr im Laufe unserer Freundschaft aufgefallen, dass ich ein paar merkwürdige Angewohnheiten und Wesenszüge habe. Das ist ihr wohl gerade eben wieder bewusst geworden. Und sie scheint jetzt die Chance zu sehen, endlich zu erfahren, warum das so ist.

Also gut. Ich werde es ihr erzählen; es wird sie jedenfalls ablenken. Joe liegt nun seit etwa siebzehn Minuten im OP. Wenn es Jule hilft, werde ich ihr also die Wahrheit eröffnen: „Ich erzähle dir nicht alles, Jule, aber so viel, dass du verstehst, was Joe und mich so unzertrennlich macht und so viel, dass du mir glauben wirst, dass du ihn lieben darfst, ohne Wenn und Aber. Am besten, ich fange ganz am Anfang an.“


... kannst du mich lieben?

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