Читать книгу ... kannst du mich lieben? - Barbara Namor - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеUr zu sprechen ist mir angeboren. Sicher, ich musste sprechen lernen wie jedes andere Kind, sprechen lernen im Sinne von Laute formen. Aber alles, was es über Ur zu wissen gibt, wusste ich vom Tag meiner Geburt an. Worin der Grund dafür besteht, wieso es so ist, dass ich Ur beherrsche und verstehe, hat bisher noch niemand herausgefunden, am wenigsten ich.
Ur ist die universelle Sprache des Kosmos´, die alles bezeichnet, was es gibt und die jede andere Sprache beinhaltet. Darüber hinaus ist es die Sprache der Schöpfung. Auf Ur kann ich zum Beispiel Feuer erschaffen. Ich kann Dinge und vor allem Menschen beeinflussen, wenn ich sie mit Ur beschalle. Ich kann Dinge und Menschen ganz genau mithilfe von Ur analysieren.
Das alles hat mit Schwingungen zu tun. Alles, was es gibt, beruht auf Schwingungen. Und eben diese Schwingungen kann ich sowohl wahrnehmen wie auch gezielt verändern. Damit hängen ganz weitreichende Konsequenzen zusammen – ich kann Menschen traurig oder fröhlich stimmen, ich kann sie kotzen lassen, wie zum Beispiel den Sanitäter vorhin, ich kann Stoffe genau untersuchen, indem ich sie schalle, also ansumme, und das Echo auswerte. Ein ganz klein wenig funktioniere ich wie eine Fledermaus – nur wesentlich exakter und auf viel mehr Gebieten. Ich weiß immer genau, wo ich bin und wie spät es ist, denn ich habe die Fähigkeit, das zu spüren, etwa so, als hätte ich im Inneren einen universellen Kompass und eine Atomuhr zugleich. Wenn jemand mit mir spricht, höre ich an den unbewussten Untertönen, die jeder Mensch dabei unweigerlich übermittelt, wie er gestimmt ist: heiter, traurig, nachdenklich, vor allem aber, ob gelogen oder ob die Wahrheit gesagt wird.
Ich selbst bin praktisch unfähig zu lügen. Denn wenn ich lüge, tut sich ein Widerspruch auf zwischen dem, was ich sage, und der Wirklichkeit. Das halte ich körperlich nicht aus – ich werde krank oder ohnmächtig; vorher weiß ich nie, was im Fall einer Lüge passiert. Das Lügen habe ich deshalb schon als ganz kleines Kind aufgegeben.
Ur ist reine Harmonie, weil die ganze Schöpfung harmonisch aufgebaut ist. Ich war in der Schule deshalb so gut, weil alle Naturwissenschaften diese Harmoniezusammenhänge zu erforschen versuchen. Egal, ob ich physikalische oder chemische oder mathematische Gleichungen lösen sollte, mit Ur konnte ich mir immer das richtige Ergebnis herbeisingen oder ein Falsches als fehlerhaft erkennen, eben weil es nicht harmonisch zur Gleichung passte. Das ist ziemlich praktisch, wenn man zur Schule geht. Jule, du kannst dich bestimmt erinnern, dass ich in manchen Fächern dauernd vor mich hin gesummt habe. Praktisch ist auch, dass Ur jede Sprache der Welt beinhaltet. Ich kann also sämtliche Fremdsprachen verstehen, wenn ich sie höre, aber ich spreche leider nur ein paar.
Das Leben mit Ur hat eine Menge Vorteile. Nicht krank zu werden, ist nur einer davon. Ur hält mich gesund. Aber es zieht auch eine ganze Menge Nachteile mit sich, Ur zu sprechen. Als ich klein war, bin ich im Kindergarten, in der Grundschule in Boerde und sogar während meiner Schulzeit in Mergheim am Gymnasium gnadenlos ausgegrenzt worden. Freunde hatte ich praktisch nie, Feinde jede Menge. Die Kinder rundum spürten immer, dass ich ganz anders war als sie, dass ich meine Umwelt und meine Mitmenschen anders wahrgenommen habe. Und meine Eltern waren mir jahrelang auch keine wirkliche Hilfe mit Ur – sie haben einfach nicht mit mir darüber gesprochen. Das hat damit zu tun, dass ich, als ich klein war, mithilfe von Ur etwas wirklich Furchtbares angestellt habe. Ich habe einen Menschen getötet, einen Arzt, der mich gegen meinen Willen untersuchen wollte. Danach durfte allein das Wort "Ur" in Gegenwart meiner Eltern nicht wieder über meine Lippen kommen, geschweige denn über das Thema gesprochen werden. In der zehnten Klasse ist dann die nächste Katastrophe im Zusammenhang mit Ur vorgefallen: Ein Mitschüler vergewaltigte mich beinahe. Der riss mir vor den Augen meiner Klassenkameraden die Kleider vom Leib, weil ich zuvor versucht hatte, sozusagen auf Ur zu flirten. Das ist wirklich gründlich schief gegangen! Danach habe ich erst einmal ein Jahr im Ausland verbracht. Ich wollte nie mehr in meine alte Schule in Mergheim zurück nach dem Vorfall, das kannst du dir sicher vorstellen.
Meine Eltern haben mich seinerzeit nach der Rückkehr aus den USA ermutigt, trotzdem mein Abitur zu machen und dazu in Boerde auszuziehen. Deshalb bin ich nach Düsseldorf umgezogen und am Kästner-Gymnasium weiter zur Schule gegangen, wo wir beide uns dann kennengelernt haben. In der Zeit bin ich Ben begegnet, meinen ersten Freund. Und der nahm mich etwa ein halbes Jahr, nachdem wir uns kennengelernt hatten, einmal nur so zum Spaß in eine seiner Physikvorlesungen mit.
Dort passierte etwas, das mein gesamtes Leben verändert hat. In der Vorlesung ging es um Stoffanalysen. Der Dozent hatte eine Stoffprobe mitgebracht und am Ende der Veranstaltung den Studenten eine Aufgabe gestellt, die damit in Zusammenhang stand. Weil mich einer von Bens Kommilitonen ganz dumm provozierte, habe ich diese Stoffprobe quasi im Vorbeigehen geschallt und hundertprozentig richtig bestimmt. Das war ein verhängnisvoller Fehler, denn das ist normalerweise nur mit viel hochwertigem technischem Gerät und guten Rechnern zu schaffen. Aber ich konnte ohne Hilfsmittel einen absoluten Volltreffer landen. Jahrelang war es mir und meiner Familie gelungen, alles, was mit Ur zu tun hatte, mehr oder weniger geheim zu halten, aber nach der Vorlesung war es damit vorbei. Was ich da veranstaltet habe, ist aufgefallen. Und wie! Mindestens zwei Geheimdienste sind auf mich aufmerksam geworden.
Am Ende der zwölften Klasse erklärte man euch in der Schule dann, dass ich krank geworden sei – eine schwere Infektionskrankheit hieß es und dass ich auf einer Isolierstation in einem tropenmedizinischen Institut untergebracht wäre. Aber das stimmte nicht. Die Geschichte wurde nur sehr gekonnt meinen Eltern und der Öffentlichkeit als plausible Erklärung für mein Verschwinden präsentiert. In Wirklichkeit bin ich entführt und für ein paar Tage eingesperrt worden. Meine Entführer gehörten zu einem amerikanischen Geheimdienst, der sich brennend dafür interessierte, was ich da in der Vorlesung gemacht hatte und wo man vor allem wissen wollte, wie genau ich diese Analyse durchgeführt hatte. Diese Leute stuften mich zunächst als Mathematikgenie ein. Sie wollten mich zuerst gar nicht im eigentlichen Sinn entführen, sondern – sagen wir mal – in Sicherheitsverwahrung nehmen, weil noch ein zweiter ausländischer Dienst auf meine Nummer in der Physikvorlesung aufmerksam geworden und hinter mir her war.
Aber dann sind die Dinge ziemlich aus dem Ruder gelaufen, weil ich natürlich einen furchtbaren Schrecken bekam, als diese Amerikaner so plötzlich auftauchten und mich verfolgten. Ich wusste nicht, dass die mich auch beschützten, und bin auf Ur sofort zum Gegenangriff übergegangen, bevor mir irgendjemand die Situation erklären konnte. Ein paar wirklich gut ausgebildete Agenten habe ich auf die Bretter geschickt und anstatt mit mir nach der Gefangennahme in Ruhe reden zu können, mussten die Leute, die sich da für mich interessierten, plötzlich begreifen, dass sie nicht ein Kätzchen, sondern eher einen Tiger eingesperrt hatten. Es war eine ziemlich verworrene Situation. Die Amerikaner wussten erst einmal nicht, ob ich schon für jemand anderen arbeite und waren äußerst vorsichtig damit, mir ihre Identität und ihre wahren Absichten mitzuteilen. Ich hielt sie für echte Bösewichte und habe mich gewehrt, so gut ich konnte. Ich wollte keine Informationen über Ur preisgeben, denn mit Ur ist so viel möglich, dass man das Potenzial ruhig mit dem von A-, B- oder C-Waffen vergleichen kann. Man konnte mich auch nicht einfach wieder laufen lassen, denn dem Verein, der mich entführt hatte, lag sehr daran, geheim zu bleiben. Eine ganz dumme, verfahrene Situation also.
Nur so viel dazu: Ich konnte damals fliehen. Und ich habe während der Zeit Tom kennengelernt. Er und Joe gehören zu dem Dienst, der mich entführt, aber seitdem auch geschützt hat.
Den Schutz haben diese Leute weiter fortgesetzt, nachdem ich getürmt war – bis zum Abitur wurde ich ständig beschattet, ohne dass ich es je gemerkt hätte. Aber als ich beinahe einen Unfall mit dem Rad hatte, konnten meine Personenschützer das Schlimmste durch ihr Eingreifen verhindern und ich bin bei dieser Aktion schließlich doch darauf aufmerksam geworden, dass sie überhaupt da waren.
Damals hatte sich Ben schon von mir getrennt. Er wusste von Ur und mochte es nicht, weil er immer befürchtete, ich könnte ihn gegen seinen Willen damit manipulieren. Und mir ist in der Zeit rund um die Abiturprüfungen nach und nach klar geworden, dass ich mich ernsthaft in Tom verliebt hatte, aber an den kam ich zunächst nicht heran. Schließlich hatte der Dienst, der meine persönliche Leibwache stellte, keinen offenen Kontakt mehr mit mir seit meiner Flucht. Dann kam es zu der Schießerei in dem Laden, in dem ich mein Kleid für den Abiturball nach den Änderungen abholen wollte. Da haben mich drei Galgenvögel im Auftrag von Leuten, die damals noch nicht eindeutig identifiziert waren, in eine große Kiste gepackt und nach Rotterdam verschifft. Einer meiner Bodyguards wurde dabei angeschossen, der andere konnte die gut vorbereitete Entführung leider nicht verhindern. Tom hat damals ein Team von Leuten zusammengestellt, zu denen auch Joe hörte. Die haben mich ein paar Tage später befreit.
Seit der Zeit bin ich mit Tom zusammen. Seitdem bin ich mit Joe und seinen Kollegen eng befreundet. Und seit damals ist der Dienst, für den die alle arbeiten, ganz offen an mich herangetreten. Die Verantwortlichen dort wollten sicher sein, dass niemand sich mich samt Ur einfach schnappt und nutzt. Denen war beziehungsweise ist so viel daran gelegen, dass sie meinen Personenschutz fortgesetzt haben, bis heute. Hauptsächlich ist es Joes Aufgabe, auf mich zu achten. Seine Vorgesetzten verdonnerten einfach ihn dazu, dass er mit mir Psychologie studiert, weil er mich dann am unauffälligsten begleiten kann. Aber sie haben es auch getan, um seine Ausbildung abzurunden. Deshalb wohnen wir zusammen und Joe lässt mich nie aus den Augen. Das ist sein Job! Nebenbei sind wir gute Freunde.
Tom und Joe sind übrigens ebenfalls miteinander befreundet. Wenn Tom sich nicht im Außendienst befindet, besuche ich ihn, so oft es geht, in seinem Hauptquartier in den USA. Manchmal, aber leider viel zu selten, ist er auch hier. Doch dann lassen wir uns nicht allzu viel in der Öffentlichkeit sehen. Und ich habe auch nicht von ihm erzählt; sein Arbeitgeber ist ja nicht umsonst ein Geheimdienst. Da muss ich Rücksichten nehmen. Die Leute aus dem Dienst haben mich übrigens ausgebildet, damit ich auch für meine eigene Sicherheit sorgen kann. Deshalb treibe ich unter anderem ständig mit Joe Sport – nicht weil wir zusammen sein wollen oder ein gemeinsames Hobby haben, sondern, weil es seine Aufgabe ist, mich topfit zu halten und in Sachen Selbstverteidigung immer weiter zu schulen.“