Читать книгу ... kannst du mich lieben? - Barbara Namor - Страница 6
Kapitel 4: Samstag, 28.7. – 3 Uhr 54
ОглавлениеDie Tür zum OP-Bereich schwingt auf und eine Schwester kommt heraus. Ich springe auf und frage sofort: „Können Sie uns bitte etwas über den Patienten mit dem Blinddarmdurchbruch sagen?“
Aber sie schüttelt nur bedauernd den Kopf und rauscht vorbei. Offenbar hat sie es tausendmal geübt, sich einfach dem Drang von Angehörigen, Informationen einzuholen, zu verschließen. Wenn sie wenigstens ein Wort gesagt hätte, dann wäre ich schon in der Lage gewesen, aus dem Unterton herausfiltern zu können, was sie weiß. So bleibt die furchtbare Ungewissheit.
Als ich mich wieder zu Jule umdrehe, starrt die mich wortlos an. Ihr Gesicht ist beinahe ausdruckslos – ich habe keine Ahnung, was sie denkt, ob sie mir glaubt oder nicht beziehungsweise, was sie von all dem hält, das ich ihr gerade erzählt habe.
„Was ist?“, frage ich, weil es sich verdammt unangenehm anfühlt, so ein Geheimnis auszupacken und dann nicht zu wissen, wie eine Freundin darauf reagiert. „Glaubst du mir nicht?“
„Doch. Sicher“, erwidert Jule tonlos. „Ich hatte mich schon gefragt, wo du gelernt hast, so in Parklücken zu schleudern wie vorhin. Das bekommt man nicht in der Fahrschule an der Ecke beigebracht und für Zufall sah das einfach zu gekonnt aus.“
„Fahrsicherheitstraining“, erkläre ich mit einem schiefen Grinsen. „Zu irgendetwas musste die Schinderei in meiner Grundausbildung in den USA ja gut sein.“
Dann schweigt Jule wieder.
Schließlich will ich wissen: „Warum hast du mich nie gefragt, in was für einer Beziehung ich zu Joe stehe? Ich hatte nie das Gefühl, dass ich da etwas erklären muss. Daran siehst du übrigens, wie das ist, mit Ur zu leben. Wahrscheinlich bin ich davon ausgegangen, dass jeder in der Art, wie Joe mit mir umgeht, einfach hören muss, dass wir zwar Freunde sind, dass er aber sonst nichts von mir will und ich nichts von ihm. Ich liege leider oft mit meinen Einschätzungen, wie andere Menschen eine Sache beurteilen, sehr weit daneben.“
Jule zuckt hilflos mit den Schultern. „Ich hätte ja wirklich fragen können. Aber da schien alles mehr als klar zu sein. Ihr wohntet zusammen, Joe schwebte wie ein Schatten über dir. Ich war mir so sicher, dass ihr zusammengehört, da sind mir gar keine Zweifel gekommen. Dass er dich nie berührt hat, wenn wir uns gesehen haben, mochte ja eine Frage des persönlichen Stils sein. Da gibt es immerhin eine ziemliche Bandbreite. So schrecklich viel Zeit haben du und ich ja auch nach dem Abitur nicht miteinander verbracht – du bist regelmäßig in den Semesterferien verschwunden und braun gebrannt wiedergekommen. Joe ebenfalls. Was hätte ich denn daraus schließen sollen?“
Traurig lache ich. Solch ein blödsinniges, gigantisches Missverständnis! „Das Hauptquartier von Joes und Toms Verein liegt in Florida. Versuch mal, nicht braun zu werden, wenn du dich da aufhältst! Es tut mir unheimlich leid für dich, Jule. Ich kann dir gut nachfühlen, wie das für dich war in der letzten Zeit. Ich dachte sogar, du magst Joe nicht besonders. Du warst immer sehr zurückhaltend und schweigsam, wenn wir einander zu dritt begegnet sind. Wenn du bei solchen Treffen mehr gesprochen hättest, wäre ich wohl fähig gewesen zu hören, wie du wirklich für ihn empfindest. Aber durch dein Schweigen hast du mir keine Chance zur Analyse gegeben. Seit wann geht das überhaupt zwischen Joe und dir? Ich bin mir nämlich alles in allem ziemlich sicher, dass es noch nicht so furchtbar lang – sagen wir mal – akut ist.“
Aus Jules Augenwinkel sickern wieder Tränen. „Seit Ostern“, flüstert sie.
Gut möglich. Ostern war ich ausnahmsweise mit Tom in Boerde bei meinen Eltern. Und Joe hatte überraschend verkündet, dass er nicht nach Florida fliegen wollte, um dort seine freien Tage zu genießen, solange Tom auf mich achtgab. Begründet hatte Joe die Tatsache, in Düsseldorf bleiben zu wollen nicht – das fällt mir jetzt im Nachhinein auf. Aber schließlich weiß er genau, dass ich jede Lüge höre und als solche erkenne.
„Komm. Erzähl mal“, fordere ich Jule auf, zum einen, weil ich wirklich neugierig bin, zum anderen, um sie abzulenken.
Jule räuspert sich. „Joe wusste wohl, dass ich gelegentlich im Café Siebenlist arbeite. Irgendwie muss ich ja meine Wohnung finanzieren. Ihr beide wart in den letzten Monaten manchmal zusammen da, weil es nicht weit von euren Hörsälen entfernt liegt, erinnerst du dich? Jedenfalls ist Joe in der Woche vor Ostern dort aufgetaucht und hat mich ohne Umstände angesprochen, als ich mal wieder bediente. Er fragte mich, ob ich Lust hätte, abends mit ihm in die Altstadt zu gehen. Oh Mann, jetzt wird mir klar, was er damit meinte, als er sagte, er hätte ausnahmsweise ein paar Tage frei. Ich wollte mich eigentlich nicht mit ihm treffen, dafür fand ich ihn von Anfang an viel zu attraktiv. Aber es ist verdammt schwer, so einem Burschen zu widerstehen.“
„Wem sagst du das?“, unterbreche ich unwillkürlich. Abgesehen von den vielen Dingen, die ich an Tom schätze und liebe, finde ich einfach, dass er toll aussieht. Vom Typ her sind er und Joe einander nicht unähnlich.
„Wir trafen uns dann trotzdem. Ein paar Bier, was ist schon dabei, habe ich mir gedacht“, meint Jule und lächelt in Erinnerung daran. „Joe war ganz locker an diesem ersten Abend. Ich habe wenigstens versucht, entspannt aufzutreten. Aber das war gar nicht so einfach, denn ich fand ihn faszinierend. Er kann sich über so vieles unterhalten! Na ja, wir verabredeten uns dann für den nächsten Samstagabend noch einmal. Da hatte ich schon ein rabenschwarzes Gewissen, weil ich wusste, dass ich ihn mehr mochte, als gut sein konnte, wenn er mit dir liiert war. Und damals ist es dann passiert. Da war so eine Gruppe total betrunkener Männer, ein Junggesellenabschied im Endstadium eben, wie jeden Samstagabend mittlerweile mehrere durch die Stadt ziehen. Joe und ich wollten gerade aus einer Kneipe hinausgehen, da kamen diese Typen herein. Im Eingang wurde es eng und einer von den Betrunkenen hat mich angemacht. Dann ging alles furchtbar schnell: Joe hat mich mit einer Hand hinter seinem Rücken in Sicherheit gebracht, dem Burschen zwei schallende Ohrfeigen verpasst, sodass er zu Boden ging, und der Bande einen kurzen Vortrag über angemessenes Betragen in der Öffentlichkeit gehalten. Und danach bestand er darauf, mich bis nach Hause zu begleiten. Das war ja nicht weit. Der Vorfall hatte mich ziemlich erschreckt, sodass ich furchtbar zitterte, ob ich wollte oder nicht. Joe legte einfach seinen Arm um mich, bis wir vor meiner Haustür ankamen. Erst eine Woche vorher war ich in meine eigene kleine Wohnung eingezogen. Wenn ich noch bei meinen Eltern gewohnt hätte, wäre wohl gar nichts passiert. Aber so?“
Jule lächelt etwas gequält. Dann meint sie: „Welche Frau kann ihrem Ritter auf dem weißen Pferd widerstehen? Er stand in meinem Flur, bevor ich auch nur halbwegs wieder klar denken konnte.“
Jule sieht mich aus großen Augen an. Jetzt ist ihr unbedingt daran gelegen zu erfahren, wie ich beurteile, was sie mir erzählt hat.
Ich bemühe mich, beruhigend zu lächeln und ihr eine goldene Brücke zu bauen: „Vielleicht hast du ja in deinem tiefsten Inneren gefühlt, dass Joe und ich eben doch kein Paar im herkömmlichen Sinne sind?“
„Meinst du?“, fragt Jule und klammert sich offenbar an diesen Strohhalm, der ihr Verhalten wunderbar rechtfertigen könnte. Dann breitet sich plötzlich in ihrem Gesicht ein glückliches Lächeln aus: „Ich habe mit Joe kein Wort über die Beziehung verloren, die ich zwischen euch vermutete. Davor hatte ich einfach panische Angst. Aber sobald er weg war, habe ich natürlich immer wieder darüber nachgegrübelt, wie das zusammenpasst – mein strahlender Ritter, der meine Freundin Sara mit mir betrügt. Kein Wunder, dass ich da keinen Sinn reingebracht habe, ich meine, dass so ein Mensch wie Joe anscheinend fremdgehen kann – ist ja auch blanker Unsinn! Ich habe ihm so unrecht getan! Er hat nach drei, vier Wochen gefragt, ob er dir erzählen soll, dass er bei mir nicht nur Modell sitzt. Ich habe nur vollkommen panisch: 'Nein! Auf gar keinen Fall!', gebrüllt und freute mich, dass das Thema danach nicht wieder aufkam. Das war wirklich der einzige Fleck auf seiner strahlenden Rüstung – und der ist glücklicherweise gar nicht real.“
Dann sieht sie mich erschrocken an. Was sie mich dann fragt, finde ich mutig: „Aber was bedeutet das eigentlich für uns beide, dass du jetzt weißt, dass ich der Überzeugung war, mit deinem Freund etwas hinter deinem Rücken angefangen zu haben?“
Ich lächle möglichst beruhigend: „Ich bin hier, Jule. Und ich habe dir jahrelang auch eine Menge verschwiegen, oder? Ich glaube, wir sind quitt. Und ich werde Joe nicht von diesem Gespräch erzählen. Sei einfach froh, dass nichts zwischen euch steht. Du musst mir als Gegenleistung dafür versprechen, alles für dich zu behalten, was du in dieser Nacht erfahren hast, dein Leben lang. Davon hängt meine persönliche Sicherheit ab.“
Jule nickt nachdrücklich. Dann will sie wissen: „Wie ist er denn so, dein Tom?“
Ich seufze. „Ob du es glaubst oder nicht, aber das war anstrengend, dir Tom so lange zu verschweigen. Den hätte ich gern bei mehr als einer Gelegenheit mit dir besprochen. Aber ich durfte dich doch nicht grundlos in Gefahr bringen. Tom ist mein Ritter auf dem weißen Pferd und noch viel mehr. Er hat mir mittlerweile mehrmals das Leben gerettet. Was wir schon alles miteinander erlebt haben! Wir verbringen leider nicht so viel Zeit zusammen, wie wir beide uns das wünschen. Du hast es besser als ich – Joe füllt jeden Winkel deiner Wohnung aus, weil du so viele Bilder von ihm aufgehängt hast. So etwas darf ich aus Sicherheitsgründen nicht.“
Julius Wangen röten sich: „Was denkst du denn, weshalb Joe in so vielen Varianten da hängt? Als er nach dem Samstagabend, von dem ich dir gerade erzählt habe, immer häufiger bei mir auftauchte, bin ich vor Verlangen nach ihm fast verrückt geworden. Ich habe ihn schließlich gebeten, mir Modell zu sitzen, um meine Hände mit etwas anderem als mit ihm zu beschäftigen. Sonst wären wir noch viel früher intim geworden. Joe zu malen, das bedeutete einen Akt von Notwehr meinerseits, wenn du es ganz genau wissen willst. Aber du kannst dir ja vorstellen, was passiert ist, nachdem ich ihn das erste Mal gebeten habe, sich mit nacktem Oberkörper für mich hinzusetzen. Ich wollte wirklich nur seine Haare über einem Ohr zurechtstreichen … Ich hätte wissen müssen, dass es nicht dabei bleibt. Und jetzt das! Joe darf nichts passieren!“
Ich greife nach Jules Hand und halte sie einfach fest, um ihr etwas Halt zu geben. Dann hängen wir beide unseren Gedanken nach. Ich erinnere mich wehmütig daran, wie lange ich warten musste, bis ich Tom das erste Mal durch die Haare streichen durfte. Diese Bewegung hatte ich im Geiste unzählige Male ausgeführt, bevor sie endlich Wirklichkeit werden durfte.
Eine lange Pause ergibt sich in unserem Gespräch, aber sie fühlt sich nicht unangenehm an. Allerdings sickert nach einiger Zeit der Gedanke an Joe und daran, was uns hierher geführt hat, mit allen Sorgen unweigerlich wieder in unser Bewusstsein durch.
Unvermittelt fragt Jule hoffnungsvoll: „Wolltest du Joe heilen, als du ihm die Hände auf den Bauch gelegt hast?“
Ich schüttle den Kopf. „Das konnte ich leider nicht. Dazu ist die Infektion in seinem Bauchraum einfach zu groß. Bei weniger gefährlichen Sachen kann ich ganz gut helfen. Dabei nicht. Ich wollte aber direkt über meine Hände lautlose Signale auf ihn übertragen, die ihm helfen, gegen Schmerzen und Fieber anzukämpfen. Ich kann ihn weiterhin unterstützen, auch nach der Operation. Und das werde ich selbstverständlich mit aller Kraft tun. Falls du dich gewundert haben solltest, weshalb ich dich gebeten habe, die Colaflaschen mitzubringen – es kostet mich ziemlich viel Energie, wenn ich auf Ur tätig bin. Ich muss darauf achten, dass ich mich nicht überanstrenge, sonst kippe ich nämlich einfach um. Das ist mir leider früher ziemlich oft passiert. Tom, Joe und ihre Kollegen können ein Lied davon singen. Das ist nichts, was Bodyguards wirklich mögen. Die haben mich mehr als einmal vom Fußboden aufgelesen. Aber mittlerweile habe ich es besser im Griff, meine Reserven abzuschätzen.“