Читать книгу Von Casanova bis Churchill - Barbara Piatti - Страница 14

Auf der Insel wohnt auch weiter niemand, als nur an der andern Spitze eine kleine Fischerfamilie, mit der ich schon einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn sie Netze einzieht und auswirft.

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Heinrich von Kleist (1802)

Von Heinrich von Kleist gibt es nur ein einziges Bildnis (siehe Porträt Seite 52), das uns eine ungefähre Ahnung davon vermittelt, wie dieser Wortmagier wohl ausgesehen haben mag, der Mann, der die Ausdrucksfähigkeit des Deutschen bis an die Grenzen des Möglichen getrieben hat. Es ist 1801 vom Maler Peter Friedel angefertigt worden und taucht auf praktisch jedem Buchumschlag, jedem Ausstellungsplakat, auf allem auf, was mit Kleist zu tun hat – eben weil es kein anderes gibt (um ganz präzise zu sein: ein zweites Porträt ist 1807 von einem Laien gemalt worden, es ist zwar ein visuelles Dokument, aber eben so ungelenk-dilettantisch ausgeführt, dass es fast wie eine Karikatur wirkt). Das Bildnis aus Friedels Atelier misst winzige 5,5 auf 7 Zentimeter. Kleist hat es seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge geschenkt, bevor er im Sommer 1801 für längere Zeit auf Reisen ging. Und sie hatte ihm eins von sich mitgegeben, im selben Format. «Küsse mein Bild, Wilhelmine, so wie ich so eben das Deinige geküsst habe …», lauten Kleists Anweisungen aus der Ferne. So weit, so romantisch. Das Miniatur-Porträt zeigt einen scheuen, zerbrechlichen, aber irgendwie doch auch freundlich-verschmitzt wirkenden jungen Mann mit bubenhaftem Kopf – 24 Jahre alt war Kleist, als er Modell gesessen hatte. Aus seinen Zügen lässt sich vieles oder nichts lesen. Kleist selber war damit gar nicht zufrieden: «Mögest Du es ähnlicher finden als ich. Es liegt etwas Spöttisches darin, das mir nicht gefällt, ich wollte, er hätte mich ehrlicher gemalt – Dir zu gefallen, habe ich fleissig während des Malens gelächelt, u. so wenig ich auch dazu gestimmt war, so gelang es mir doch, wenn ich an Dich dachte.» Dieses kostbare Porträt, wie wahr oder unwahr es nun immer sein mag, wäre beinahe in einer Schublade in einem kleinen Häuschen in Thun für immer vergessen gegangen. Weshalb ausgerechnet in Thun? Das ist eine längere Geschichte. Und sie beginnt nicht am Thunersee, sondern in Paris.

Als Kleist im Juli 1801 in Paris ankam, ein ziellos Reisender, ohne festen Wohnsitz, ohne erlernten Beruf, praktisch ohne finanziellen Rückhalt, nur mit dem vagen Plan im Kopf, sein abgebrochenes Studium der Naturwissenschaften wieder aufzunehmen, fühlte er sich überfordert. Die Grossstadt wurde ihm zum Albtraum: «Ich gehe durch die langen, krummen, engen, mit Kot oder Staub überdeckten, von tausend widerlichen Gerüchen duftenden Strassen, an den schmalen, aber hohen Häusern entlang, die sechsfache Stockwerke tragen, gleichsam den Ort zu vervielfachen, ich winde mich durch einen Haufen von Menschen, welche schreien, laufen, keuchen, einander schieben, stossen und umdrehen, ohne es übelzunehmen, ich sehe jemanden an, er sieht mich wieder an, ich frage ihn ein paar Worte, er antwortet mir höflich, ich werde warm, er ennuyiert sich, wir sind einander herzlich satt, er empfiehlt sich, ich verbeuge mich, und wir haben uns beide vergessen, sobald wir um die Ecke sind […]», schrieb er an eine Freundin zwei Wochen nach seiner Ankunft.

Aus seinen Pariser Briefen schlägt einem auf fast jeder Zeile heftige Zivilisationskritik entgegen, und genau dort, in jenen dreckigen Strassen, entwickelte sich die Sehnsucht nach einem Leben auf dem Land – in der Schweiz! Diese Idee kam nicht einfach aus dem Nichts, sie hing eng mit den Rousseau’schen Idealen zusammen, vor allem mit Kleists gründlicher Lektüre der Nouvelle Héloïse (1761). In Clarens am Genfersee führt Julie, nachdem sie sich von der leidenschaftlichen, geheimen Liebe zu ihrem Hauslehrer Saint-Preux losgesagt hatte, ein ruhiges Leben im Kreis ihrer Familie, mit Gatte und Kindern. Es gibt dort keine Passionen, keine unstillbaren Wünsche, keinen Ehrgeiz, Glanz und Pomp werden verachtet, und alles Streben richtet sich auf die makellose Organisation des Landgutes, auf Felder, Garten, Haus (es sind, offen gestanden, sehr langweilige Passagen, in denen diese Freuden des Landlebens ausgemalt werden …). Wie dem auch sei: Kleist fühlte sich von solchen Aussichten offenbar sehr angesprochen und teilte seiner Wilhelmine die Pläne in einem Brief mit. Datiert ist er auf seinen Geburtstag am 10. Oktober 1801, denn just ab diesem Tag durfte Kleist ohne Vormund über sein Vermögen verfügen, sodass das «Schweizer Projekt» auch rein ökonomisch in greifbare Nähe rückte (dennoch musste er sich am Ende zusätzliches Geld von der Schwester leihen): «Was meinst Du, Wilhelmine, ich habe noch etwas von meinem Vermögen, wenig zwar, doch wird es hinreichen mir etwa in der Schweiz einen Bauernhof zu kaufen, der mich ernähren kann, wenn ich selbst arbeite […]. Ich will im eigentlichsten Verstande ein Bauer werden, mit einem etwas wohlklingenderen Worte, ein Landmann. – Was meine Familie und die Welt dagegen einwenden möchte, wird mich nicht irre führen. Ein jeder hat seine eigne Art, glücklich zu sein, und niemand darf verlangen, dass man es in der seinigen sein soll.»


Heinrich von Kleist (1777–1811), Miniatur-Porträt auf Elfenbein von Peter Friedel (1801).

Das alles klingt reichlich naiv und harmlos und ein bisschen dahergeplaudert, im Hintergrund steht aber eine grosse Krise, die als «Kant-Krise» in älteren Kleist-Biografien verzeichnet wird. Durch die eingehende Lektüre von Kant habe Kleist erkannt, dass es keine objektiven Wahrheiten gebe, nach denen man streben könne … – damit sei ihm der Boden entzogen worden für eine vernunftgesteuerte Lebensplanung. Kant mag einen gewissen Einfluss gehabt haben, in Tat und Wahrheit war Kleist schon Monate vorher innerlich blockiert durch Zögern, Scheitern, falsche Entscheidung. Die ganze Gesellschaft und alle ihre Ämter, die ihm allenfalls offengestanden hätten, wurden ihm «ekelhaft». Deshalb also der Plan, sich auf das Einfachste und Wesentlichste zu beschränken: Haus, Frau, Kinder.

Wilhelmine reagierte – zu Kleists grosser Enttäuschung – zurückhaltend auf den Vorschlag. Kleist hingegen war es wirklich ernst mit dem Plan. Er floh im Dezember 1801 aus dem «Abgrund» Paris in die Gegenwelt der Schweizer Natur. Basel wurde dabei zu einem Portal mit besonderer Bedeutung. Vom Rheinknie aus schrieb er an die Schwester: «Es war eine finstre Nacht als ich in das neue Vaterland trat. […] Mir war’s, wie ein Eintrit in ein anderes Leben.» Das neue Vaterland? Er hatte offenbar vor, für längere Zeit, wenn nicht gar für immer, zu bleiben. Sofort begann er mit der Suche nach einem geeigneten Objekt: «Mir ist es allerdings Ernst gewesen, mein liebes Ulrikchen, mich in der Schweiz anzukaufen, und ich habe mich bereits häufig nach Gütern umgesehen, oft mehr in der Absicht, um dabei vorläufig mancherlei zu lernen, als bestimmt zu handeln. Auf meiner Reise durch dieses Land habe ich fleissig die Landleute durch Fragen gelockt, mir Nützliches und Gescheutes zu antworten. Auch habe ich einige landwirtschaftliche Lehrbücher gelesen und lese noch dergleichen, kurz, ich weiss soviel von der Sache, als nur immer in so kurzer Zeit in einen offnen Kopf hineingehen mag.»

Aus dem Kauf wurde dann aber doch nichts, denn Kleist war sich wohl nicht ganz im Klaren darüber, dass die idyllenhafte Schweiz gerade sehr unruhige und teils sogar kriegerische Zeiten durchmachte. Nach dem Einmarsch napoleonischer Truppen 1798 und der Einführung der helvetischen Verfassung, die wesentliche Neuerungen brachte (Gleichberechtigung von Stadt und Land, Gewaltentrennung, die allgemeine Schulpflicht, Gewerbefreiheit, Niederlassungsfreiheit und so weiter), aber auch die alten Machtverhältisse durcheinanderwirbelte, stand die Schweiz faktisch unter französischer Fremdherrschaft. Von den Gegnern der Helvetik angeführt, kam es zu mehreren Aufständen, und in Teilen des Landes herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Im Zuge der Helvetik wurde auch das übergrosse Bern in die vier Kantone Aargau, Waadt, Berner Oberland, mit Thun als Hauptstadt, und Bern Mittelland zerstückelt. Auch in diesem Gebiet kam es mehrfach zu Spannungen und Waffengewalt. Mit anderen Worten: Kleist begab sich ausgerechnet in eines der damaligen Zentren des politischen Geschehens, ja, er erlebt sogar einen «abscheulichen Volksaufstand», wo er sich doch gerade aus alledem zurückziehen wollte. Nicht ganz zu Unrecht äusserte er Befürchtungen über den weiteren Verlauf der Situation: «Mich erschreckt die Möglichkeit, statt eines Schweizerbürgers durch einen Taschenspielerkunstgriff ein Franzose zu werden.»

Statt ein Haus zu kaufen, mietete er eines. «Ich habe mir eine Insel in der Aare gemietet, mit einem wohleingerichtet Häuschen, das ich in diesem Jahre bewohnen werde, um abzuwarten, wie sich die Dissonanz der Dinge auflösen wird.» Womöglich meinte er mit Dissonanz der Dinge sowohl die politisch wirre Lage wie auch sein Verhältnis zu Wilhelmine. Zwischen den beiden Liebenden herrschte gegenseitiges Unverständnis, briefliche Fragen und Antworten wechselten nur noch sehr selten zwischen der Schweiz und Deutschland hin und her. Nun endlich fand Kleist Zeit, sich dem literarischen Schreiben zu widmen.

Als er in der Schweiz ankam, war er noch kein Dichter, als er sie verliess, schon. Auf der abgelegenen Aare-Insel in Thun ist Kleists erstes Drama entstanden, die Familie Schroffenstein. Hier, in einem kleinen Fischerhäuschen und dem angrenzenden Garten, gelingt Kleist der Durchbruch zum Schreiben. In den ihm verbleibenden zehn Jahren (1811 wählt er zusammen mit seiner Geliebten Henriette Vogel den Freitod durch Kopfschuss) wird er ungeheuerliche Sätze schreiben, Satzkaskaden, «die das Sprachgefüge bis ins Innerste zum Beben» bringen, «aber niemals zum Einsturz» (Ulrich Greiner).

Sein Leben auf der Fischerinsel verläuft äusserlich ruhig, sehr angenehm (siehe Originaltext). Manches aus Kleists Schilderungen darf man glauben, anderes sind reine Flunkereien. Das Schreckhorn etwa, das Kleist bestiegen haben will, während sein «Mädeli» in einer Andacht sitzt, ist ein alpinistisch höchst anspruchsvoller Viertausender (4078 Meter) und rund 70 Kilometer, also mindestens eineinhalb Tagesmäsche, von Thun entfernt. Über die Identität des «Mädelis» weiss man bis heute nichts Sicheres, ebenso wenig über Kleists Beziehung zu ihr, was den Germanisten Rüdiger Görner dazu bewegt, ironisch-süffisant von der «dortigen (wie auch immer gearteten) Betreuung durch das ‹Mädeli› oder ‹Meitschi›» zu schreiben. Aber zumindest von der Insel kann man sich ein Bild machen. Anders als zu Kleists Zeiten, als sie noch weit ausserhalb lag, ist sie nun von der wachsenden Stadt umfasst in Bahnhofsnähe zu finden. Sie ist auch heute in Privatbesitz und nur ausnahmsweise zu betreten, das Häuschen, in dem Kleist wohnte, ist in den 1940er-Jahren abgerissen worden. Aber eine Fotoserie des Thuner Fotografen Christian Helmle vermittelt einen Eindruck von diesem Rückzugsort: alter Baumbestand, belaubte Äste, die sich bis zum türkisblauen Wasserspiegel hinabsenken, Wege und Bänkchen, im Hintergrund die Berge, die Wolken. Hier also hat Kleist geschrieben, über eine bis aufs Blut verfeindete Familie, deren zwei Zweige sich gegenseitig ausrotten wollen – inspiriert hat ihn Shakespeares Romeo und Julia. Am Ende werden zwei sich liebende junge Menschen durch die Hand ihrer Eltern sterben. Überhaupt trieft das Drama vor Gewalt und Pessimismus.

Wichtiger als die Berner Oberländer Natur (von der er in seinen Schriften kaum Gebrauch macht, die Familie Schroffenstein spielt in Schwaben) waren für Kleist die Gesprächspartner in Bern: In der Gerechtigkeitsgasse diskutierte Kleist mit Heinrich Zschokke, Ludwig Wieland und Heinrich Gessner, Buchhändler, Verleger und Sohn des berühmten Idyllendichters Salomon Gessner. In dessen Verlag erschien 1803, anonym, die Familie Schroffenstein. Als Kleist erkrankte und vorerst für mehrere Wochen nach Bern übersiedelte, gab er den Traum vom Selbstversorgerleben endgültig auf. Sein Bildnis, das Wilhelmine ihm nach Auflösung der Verlobung (ohne dass sich die beiden noch einmal gesehen oder gespochen hätten) nach Thun schickte, vergass er, packte es jedenfalls nicht ein, ob nun absichtlich oder unabsichtlich. Mitte Oktober 1802 verliess er die Schweiz, um schon im Sommer 1803 zurückzukehren, diesmal in Begleitung seines Jugendfreundes Ernst von Pfuel. Unterbrochen von Ausflügen nach Meiringen und ins Reichenbachtal sowie Abstechern nach Bellinzona und Varese, hielten sie sich im August und September erneut in Thun und Bern auf. Offenbar zeigte Kleist dem Gefährten seine alten Aufenthaltsorte – und just da kam es zu Szenen, die die (biografische) Kleist-Forschung ganz schön auf Trab brachten. Vor einigen Jahren erst tauchte nämlich ein Brief auf, datiert auf den 7. Januar 1805, in dem Kleist an seinen Freund schreibt: «Du stelltest das Zeitalter der Griechen in meinem Herzen wieder her, ich hätte bei dir schlafen können, du lieber Junge; so umarmte dich meine ganze Seele! Ich habe deinen schönen Leib oft, wenn du in Thun vor meinen Augen in den See stiegest, mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet. Er könnte wirklich einem Künstler zur Studie dienen.» Über diesen zweiten Schweizaufenthalt ist relativ wenig bekannt – dafür wuchern die Interpretationen über Kleists sexuelle Ausrichtung. Sicher ist: Anfang Oktober führte die Spur des rastlosen Dichters wieder nach Paris, wo er, frustriert über das Misslingen seines Guiskard-Projekts, das dazugehörige Manuskript verbrannte. Der Kreis scheint sich zu schliessen, Kleist war zurück im Grossstadt-Moloch, haltloser als je zuvor. Die Schweizer Monate waren womöglich eine (allzu) kurze Atempause in diesem erschütternd unruhigen Leben. Zumindest lassen die leicht dahingetupften Schilderungen der Thunersee-Idylle das glauben.

Von Casanova bis Churchill

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