Читать книгу Von Casanova bis Churchill - Barbara Piatti - Страница 8

Während sie assen, nahm ich einen gepökelten Kapaun vor und zerlegte ihn kunstgerecht. «Dieser Kellner», sagte meine Schöne, «bedient sehr gut. Sind Sie schon lange in diesem Gasthof?»

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Giacomo Girolamo Casanova

(geschrieben zwischen 1785 und 1798)

Man darf sich das so vorstellen: In den Morgenstunden eines Apriltages im Jahre 1760 ist auf der Landstrasse, entlang dem westlichen Zürichsee-Ufer in Richtung Kanton Schwyz, ein Mann unterwegs, zu Fuss, vermutlich in Stiefeln, denn Halbschuhe hätten sich bei den damaligen Strassenverhältnissen nicht empfohlen. Es handelt sich um eine auffällige Erscheinung: gross (die Angaben variieren zwischen 1,87 und 1,93 Meter), gut gebaut, scharfes Profil, der Teint südländisch, elegant, um nicht zu sagen extravagant gekleidet, in Brokatweste, feinsten Spitzen, samtenem Gehrock. «Wissen Sie», so soll Friedrich der Grosse im Park von Sanssouci einmal anerkennend zu ihm gesagt haben, «Sie sind ein sehr schöner Mann.» Sein Name ist Legende: Giacomo Girolamo Casanova.

«Ich habe die Frauen bis zum Wahnsinn geliebt, aber ich habe ihnen stets meine Freiheit vorgezogen», verkündet der Venezianer selbstbewusst in seiner Histoire de ma Vie, seinen Lebenserinnerungen. Zu seinen zahlreichen Eroberungen quer durch Europa gehören laut Memoiren Gräfinnen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen, Zimmermädchen, eine griechische Sklavin, die Nichte eines Priesters, eine Bauerstochter, fünf Schwestern mitsamt ihrer Mutter, ein Transvestit, eine Bucklige, eine Nymphomanin und natürlich Nonnen.

Ob er der grösste Verführer aller Zeiten war? Darüber lässt sich quantitativ, hinsichtlich der Anzahl seiner Eroberungen, streiten. 132 Affären sollen es gewesen sein, haben fleissige Forscher anhand der Quellen errechnet. Fast ist man versucht zu sagen: Das hält sich ja durchaus in Grenzen, verteilt auf eine «aktive Zeit» von einigen Jahrzehnten … Aber qualitativ steht er zweifellos ganz oben: Casanova hatte einfach Stil, und das in jeder Lebenslage. Seine Memoiren sind durchsetzt von grandiosen Schilderungen von Essen, Musik, Parfums, Mode, Kunst und natürlich Sex. In seinen Schriften wird das 18. Jahrhundert lebendig. Der Chevalier de Seingalt, wie er sich mit einem selbst verliehenen Adelstitel nannte, war ein Mann, der alle Sinne kultivierte.

Nun war er also in der Schweiz und gerade nicht mit einer Frau beschäftigt, sondern alleine und erstaunlich sportlich unterwegs. Für die Strecke von Zürich, Weinplatz, wo er an der feinen Adresse des Gasthofs Zum Schwert einquartiert war (siehe Abbildung Seite 16), bis Einsiedeln, wo er zufällig landete und mit Interesse das Koster und die Pilgerkirche besichtigte, brauchte er nach eigener Aussage rund sechs Stunden (siehe Originaltext). Misst man die Strecke nach, kommt man allerdings auf gut 70 Kilometer. Flunkereien also bereits bei den Längen- und Zeitangaben. Lassen wir ihn einen Augenblick weiterwandern. Zunächst wären ja zwei Fragen zu klären: Weshalb kam Casanova in die Schweiz, was wollte er in Zürich? Und weshalb wissen wir davon? Die Antwort auf beide Fragen hängt neben Verführung und Erotik mit einem zweiten Leitmotiv in Casanovas Leben zusammen – mit seinen grossen und kleinen Fluchten.


Giacomo Girolamo Casanova (1725–1798),

porträtiert von Alessandro Longhi (undatiert).

Geboren als Sohn eines mittellosen Schauspielerpaares, musste sich Casanova seinen gesellschaftlichen Aufstieg selbst organisieren. «Die Fähigkeit, auf den ersten Blick zu gefallen», die er sich selber (und sicher zu Recht) zuschreibt, öffnete viele Türen. Entscheidend war dann aber ein Zufall: In einer Kutsche stand er einem von einem Schlaganfall getroffenen Senator bei und pflegte ihn über Nacht; dieser Don Matteo Bragadin nahm ihn nach seiner Genesung aus Dankbarkeit in sein Haus auf «und überhäufte ihn mit Geschenken. Nun konnte er wie ein aristokratischer Playboy leben, sich kostbar kleiden, Spielsalons besuchen und sich in vornehmsten Kreisen bewegen», schreibt Tony Perrottet, einer der derzeit besten Casanova-Kenner (ein anderer behauptet, Casanova sei ganz einfach der toy boy des alten Mannes gewesen). Doch Casanovas glanzvolles Leben erfuhr eine dramatische Wendung, als er 1755, kurz nach seinem dreissigsten Geburtstag, verhaftet wurde. Von Spionen der Inquisition wurde er als Betrüger, Freimaurer, Astrologe, Kabbalist und Gotteslästerer denunziert und eingekerkert, in den berüchtigten venezianischen Bleikammern. Fünfzehn Monate später gelang es ihm, über das Dach zu entkommen – und tadellos gekleidet durch das Hauptportal hinauszuspazieren.

Die Tollkühnheit dieser Flucht verschaffte ihm europaweite Berühmtheit, bedeutete aber auch den Beginn eines Exils, das achtzehn Jahre dauern sollte. Im Laufe seines unsteten Daseins, praktisch immer auf Reisen, hat Casanova insgesamt fast 60 000 Kilometer zurückgelegt, zumeist in der Kutsche, über die schlechten Strassen zwischen Madrid und St. Petersburg, London und Konstantinopel rumpelnd und holpernd. Die grosse Flucht flankierend, waren zahlreiche kleine Fluchten zu verzeichnen, jene nämlich aus Betten und Schlafzimmern verheirateter Gespielinnen in verschiedenen Ländern. Oder jene aufgrund von Geldschulden, denn Casanova war ein notorischer Glücksspieler. So musste er unmittelbar vor seinem Schweiz-Aufenthalt Stuttgart Hals über Kopf verlassen aufgrund eines üblen Ausgangs bei einem Kartenspiel in einem «verrufenen Haus». «Meine Lage war nicht eben erfreulich: durch ein Glas Wein vergiftet, betrogen, bestohlen, beschimpft, sah ich mich meiner Freiheit beraubt und von der Notwendigkeit bedroht, hunderttausend Francs zu bezahlen, zu deren Deckung ich mich bis aufs Hemd hätte ausplündern lassen müssen […].» Es kam aber noch wilder: Inzwischen hatte sich die örtliche Justiz eingeschaltet und angekündigt, sämtliche Besitztümer Casanovas zu beschlagnahmen und, falls sich damit die Schuld nicht tilgen liesse, ihn «als gemeinen Soldaten in die Truppen Seiner allerdurchlauchtigsten Hoheit einzureihen». Es blieb nur die Flucht, eine schwierige Aufgabe, aber, so tröstete sich Casanova selber, «ich war nicht unter den Bleidächern, und die Erinnerung an meine grosse Flucht erhöhte meinen Mut». Eine Perücke auf dem Kissen täuschte den ruhig schlafenden Casanova vor, seine Habseligkeiten wurden etappenweise unbemerkt aus dem Zimmer geschafft, er selber seilte sich über eine Mauer ab, watete durch den Schlamm und erreichte endlich die rettende Postkutsche, die ihn nach Tübingen brachte. Aber die Gefahr war noch nicht vorüber, sein Diener holte ihn ein und warnte: «Monsieur, in Stuttgart weiss jedermann, dass Sie hier sind, und es steht zu befürchten, dass die drei Offiziere, die zu feige sind, um ein Duell aufzunehmen, Sie ermorden lassen. Wenn Sie vernünftig sind, reisen Sie sofort nach der Schweiz ab.» Und so geschah es auch, Casanova reiste mit der Post nach Schaffhausen, von dort mit einem Mietfuhrwerk weiter nach Zürich.

Die letzte Flucht, jene, die uns all diese detaillierten Auskünfte zu Casanovas Leben und eben auch zu seinem Aufenthalt in der Schweiz beschert hat (wobei, unnötig zu betonen, nicht immer so ganz klar ist, wo die Wahrheit endet und die Erfindung anfängt), ist eine, die nur im Kopf stattfand; eine Flucht in Gedanken. 1785 begannen die dreizehn letzten traurigen Jahre Casanovas, ohne Frauen, ohne Reisen, ohne alles, was ihn ausgemacht hatte, er war ein kranker und für damalige Verhältnisse sehr alter Mann. Der Lebenskünstler und Bonvivant sass auf Schloss Dux in Böhmen, angestellt als Bibliothekar. Eine Art Gnadenbrot, das ihm der junge Graf Josef Waldstein gewährte. Auf Anraten seines irischen Arztes befasste er sich mit der Niederschrift seiner Memoiren, täglich bis zu dreizehn Stunden über die Blätter gebeugt. Und tatsächlich, das erneute Durchleben seiner Abenteuer, amouröser und anderer, liess noch einmal das Blut in seinen Adern schneller fliessen. 1791 schrieb er seinem Freund Johann Ferdinand Opitz, dass er täglich arbeite und guter Dinge sei. «Welche Freude, sich an vergangene Freuden zu erinnern! Es amüsiert mich, weil ich nichts erfinde.»

Von Dux aus liess er auch die Schweizer Episoden noch einmal in seiner Vorstellung aufsteigen, mit erstaunlich vielen Details. Die Schweizer Städte waren nicht Venedig und auch nicht Paris. Aber Casanova fand auch hier seine Bühne – beziehungsweise richtete sich geschickt eine her. Nachdem er sich in Einsiedeln für kurze Zeit mit dem (nicht ganz ernst zu nehmenden) Gedanken trug, Mönch zu werden, gab er sich in Zürich schon wieder ganz anderen Fantasien hin. Ziel seines Begehrens war diesmal eine geheimnisvolle «Amazone» – in Begleitung dreier weit weniger attraktiver Freundinnen, wie Casanova unwillig bemerkte. Die Amazone, mit bürgerlichem Namen Maria Anna Ludovica von Roll, 24 Jahre alt, entflammte ihn dermassen, dass er sich einen Schauspielertrick ausdachte, um in ihre Nähe zu gelangen (wie der genau funktionierte, das soll er selber erzählen, siehe Originaltext). Die bühnenreife Szene im Gasthof Zum Schwert gehört zweifellos zu den witzigsten und schönsten Passagen in den Memoiren. Doch da auch der passionierte schauspielerische Auftritt nicht dazu führte, dass Casanova im Bett der Amazone landete oder sie in seinem, musste er sich noch etwas anderes einfallen lassen. Er folgte dem Objekt der Begierde bis nach Solothurn, mietete dort extra ein Landhaus für stille Stundendoch es wollte und wollte nicht klappen diesmal, es ergab sich keine günstige Gelegenheit, um die Amazone zu verführen.

Trost aber war, wie immer bei Casanova, nicht weit: Da war zum Beispiel seine «Haushälterin» Madame Dubois, für die er ungewohnt tief empfand («Ich betrachtete sie als meine Frau; wir liebten uns und konnten uns nicht vorstellen, dass wir uns eines Tages trennen würden»), später zwei Bernerinnen in der berüchtigten Badeanstalt im Matte-Quartier unten an der Aare, dann drei Genferinnen, die er hintereinander und gleich mehrfach beglückt, und so weiter. Die Szenen in der Schweiz sind recht explizit, am Schauplatz Genf wird etwa ein Liebesspiel mit Metallkugeln, eingelegt in eine alkalische Lösung, beschrieben, die Casanova zur Verhütung einsetzte statt der von ihm verabscheuten Präservative («[…] aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich in ein Stück toter Haut einzwängen werde, um Ihnen zu beweisen, dass ich völlig lebendig bin»). In Zürich versorgte ihn eine Kupplerin mit wechselnden Gespielinnen, er vergnügte sich «aber nur sehr schlecht», denn die unverständliche einheimische Sprache, das «grobe Schweizerdeutsch», machte ihm zu schaffen. «Und ohne die Sprache vermindert sich das Vergnügen an der Liebe gleich um wenigstens zwei Drittel.»

Es wäre aber, das muss man immer wieder betonen, ganz und gar verfehlt, Casanova auf die Rolle des Verführers zu reduzieren. Er war ein kluger Kopf, ein Universalgelehrter, sprach fünf Sprachen fliessend, war befreundet mit Voltaire, mit Katharina der Grossen und mit Benjamin Franklin, er erfasste den Wert einer Bibliothek auf einen Blick (siehe seine Einschätzung der Bibliothek von Einsiedeln, Originaltext), war Experte im zeitgenössischen Musikgeschehen, ein grosser Menschenkenner und ein noch grösserer Schriftsteller. Der amerikanische Casanovist Tom Vitelli sagt sogar: «Geschichte meines Lebens ist grosse Literatur. Wahrscheinlich ist es die grösste Autobiografie aller Zeiten – in Thematik, Umfang, Stil und Sprache.»

Vor diesem Hintergrund kann man Casanovas Reise durch die Schweiz auch noch anders lesen. Seine Schilderungen enthalten zahlreiche aufschlussreiche kulturhistorische Details und Einschätzungen. Dabei kristallisiert sich das Bild des kultivierten Reisenden heraus, der kein Auge hat für die Naturschönheiten; dafür ist es – historisch gesehen – gerade noch zu früh: Die Landschaft war, überspitzt gesagt, noch gar nicht erfunden. «La nature le laisse complètement indifférent», die Natur lässt ihn vollkommen gleichgültig, heisst es bei Pierre Grellet im schönen Band Les Aventures de Casanova en Suisse (1919), oder noch pointierter: «Casanova va passer cinq ou six mois en Suisse sans la voir», er wird fünf oder sechs Monate in der Schweiz verbringen, ohne sie zu sehen. In der lieblichen Gegend rund um den Murtensee interessieren ihn der Geschmack der Fische und das Beinhaus aus der Zeit der Burgunderkriege, nicht die Landschaft; die Alpen werden ohnehin mit keinem Wort erwähnt. Einen Reisenden wie Casanova (sein Desinteresse an der Natur ist nicht individuell, sondern epochal bedingt) faszinierten Architektur, Bibliotheken, Kunstsammlungen, Kunstsalons, Musik, Sitten und Gebräuche, der Ideenaustausch mit gelehrten Gesprächspartnern. Er hatte Rousseau gelesen, er besuchte Voltaire in Genf und Haller in Zürich und debattierte mit ihnen auf Augenhöhe.

Am besten allerdings blieb ihm Bern in Erinnerung. Hier verlebte er einige innige Tage mit seiner Freundin Dubois (Identität ungeklärt), die ihn über den Misserfolg bei der Amazone mehr als hinwegtröstete. «Seine Freundin» schien er so aufrichtig zu lieben, dass sogar Pläne zu einer gemeinsamen Zukunft geschmiedet wurden. Aber Casanova wäre nicht Casanova, wenn dann nicht doch alles ganz anders gekommen wäre. Er verliess die Schweiz nach zahlreichen Abenteuern und war wieder auf den Strassen Europas unterwegs, frei und ungebunden (pikanterweise erblickte möglicherweise ein Sprössling Casanovas einige Monate später das Licht der Welt – als Schweizer Bürger oder Bürgerin. Die Dubois gibt ihrem Casanova beim Abschied zu verstehen, dass sie im zweiten Monat schwanger sei, für sein Kind aber gut sorgen wolle …). In Dux notierte er Jahrzehnte später: «Ich verliess Bern in einer sehr natürlichen Trauer. Ich war in dieser Stadt glücklich gewesen und denke noch jetzt niemals ohne Vergnügen an sie.»

Von Casanova bis Churchill

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