Читать книгу Von Casanova bis Churchill - Barbara Piatti - Страница 17
Ein stürmischer «vent d’italie» (Südwind) durchpflügte den See, schuf riesige Wellen und sog das Wasser in einem Wirbelsturm hoch in die Luft, von wo es wie heftiger Regen in den See zurückfiel.
ОглавлениеMary Godwin (1814)
«In der Nacht, die diesem Morgen voranging, da alles entschieden war, bestellte ich eine Kutsche, die um 4 Uhr bereitstehen sollte. Ich wartete, bis die Blitze und Sterne verblassten. Endlich war es 4 Uhr. Ich glaubte nicht, dass es uns gelingen würde: Sogar in der Gewissheit schien noch eine gewisse Gefahr verborgen zu sein. Ich ging. Ich sah sie. Sie kam auf mich zu. Es blieb uns noch eine Viertelstunde. Es mussten noch einige Vorkehrungen getroffen werden & sie verliess mich für kurze Zeit. Wie quälend erschienen mir diese Minuten. Es schien, als spielten wir mit Leben & Hoffnung. Wenige Minuten später lag sie in meinen Armen – wir waren in Sicherheit. Wir befinden uns auf dem Weg nach Dover.» Nein, das ist kein Romananfang, aber es klingt wie einer! Und ja, geschrieben sind diese Zeilen von einem Dichter von weltliterarischem Rang. Percy Bysshe Shelley (1792–1822) notierte sie am 28. Juli 1814 in den ersten Band eines gemeinsamen Reise-Tagebuchs, das er mit seiner blutjungen Geliebten Mary Godwin (1797–1851) führte (grün eingebunden, in Paris erstanden, als Zeichen für den Beginn eines neuen Lebens). Das Tagebuch, das heute noch so frisch und teilweise atemlos wirkt, als wäre es erst gestern geschrieben worden, macht uns zu späten Zeugen dieser Fluchtgeschichte.
Die noch nicht siebzehnjährige, ausserordentlich belesene Mary, ausgestattet mit einem messerscharfen Intellekt, und der 23-jährige Lyriker Percy, der aber bereits Ehemann und Vater war (um genau zu sein: Shelley lässt seine Frau Harriet, im dritten Monat schwanger und mit einem vierzehn Monate alten Baby, in England zurück), waren einander vor Kurzem erst verfallen. Selbst in der Phase des Kennenlernens kam es zu Szenen, die wie so vieles in dieser Geschichte erfunden anmuten: nämlich dass die Liebenden sich für ihre Rendezvous am Grab von Marys Mutter, der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, trafen.
Mary und Percy, das ist eine jener grossen Leidenschaften, die das Leben aller Beteiligten wie eine Naturgewalt umpflügen. Um diese Liebe leben zu können, mussten sie England verlassen – sie taten es im Bewusstsein, wohl nie wieder in die Heimat zurückzukehren (doch in diesem Punkt haben sie sich geirrt). In der Kutsche sass in jener Nacht noch eine dritte Person, Claire (eigentlich Jane) Clairemont, Marys um ein Jahr jüngere Stiefschwester, die in die Fluchtpläne eingeweiht worden war.
Der Road Trip konnte beginnen. Geld hatten sie praktisch keines, und das sollte sich während der gesamten Reise nicht ändern. So hatte das Abenteuer durchaus «a backpacker quality», die Anmutung einer Rucksackreise, wie Padraig Rooney schreibt. In einer stürmischen Nacht überquerten die drei von Dover aus den Ärmelkanal und reisten weiter nach Paris. Dort musste Shelley zunächst einmal alles verkaufen, was sie noch entbehren konnten, auch seine Taschenuhr mitsamt Kette. Gegenwert: 60 Pfund. Damit organisierten sie sich einen klapprig-kranken Esel zwecks Gepäck- und Personentransport in Richtung Schweiz. Später tauschten sie den Esel, mit Verlust natürlich, gegen ein Maultier ein, schliefen manchmal unter Bäumen, manchmal in sehr dreckigen Unterkünften. Ihre Reise war geprägt durch unzählige Unannehmlichkeiten – aber das tat dem Abenteuergeist und der enthusiastischen Laune der drei keinen Abbruch, im Gegenteil. Sie hatten einander, und sie hatten Bücher im Gepäck, den Kopf voller verrückter Pläne und Ideen – wer wollte da an ein bequemes Bett oder auch nur an eine warme Mahlzeit denken?!
Percy Bysshe Shelley (1792–1822), in einem Porträt von 1815.
Mary Godwin, später Shelley (1797–1851), in einem posthum erstellten Porträt.
Zwölf Jahre später lässt Mary in ihren Erinnerungen die «romanhafte» Stimmung dieser ersten Kontinentalreise noch einmal aufleben: «Im Sommer 1814 wurde jede Unannehmlichkeit bejubelt als neues Kapitel im Roman unserer Reisen; das schlimmste Ärgernis überhaupt, das Zollhaus, war eine amüsante Neuheit für uns; mit Begeisterung betrachteten wir die seltsame Kleidung der französischen Frauen, lasen mit Vergnügen unsere eigenen Steckbriefe in den Pässen, schauten neugierig auf jeden Teller, stellten uns vor, dass die in Öl gebratenen Artischockenblätter Frösche wären; wir sahen Schäfer in Klappzylindern und Postboten in Reitstiefeln; und wir hörten (pour comble de merveille [als Gipfel der Wunder]) kleine Mädchen und Jungen französisch sprechen: Es war, als würden wir in einem Roman spielen, als wären wir eine fleischgewordene Erzählung.»
So zogen sie also quer durch Frankreich, und um zu verstehen, was der Übertritt der französisch-schweizerischen Grenze bedeutet, muss man kurz einen Blick auf die historische Situation werfen: 1814 – da war der Kontinent von den napoleonischen Kriegen verwüstet, Städte waren zerstört, ungezählte Landsitze und Höfe lagen in Ruinen, und noch immer streiften marodierende Truppen umher. Es herrschte an vielen Orten bittere Armut. Insbesondere Shelley war tief betroffen von dem, was er sah. Die beiden jungen Damen hingegen hatten sich so nachhaltig in Abenteuerstimmung versetzt, dass ihnen alles als pittoresk und aufregend erschien, auch die Spuren des Kriegs.
Doch der Wechsel von Frankreich in die Schweiz wird von allen als eine Schwelle empfunden, als Eintritt durch eine Art magisches Portal: «[…] tatsächlich schien sich alles in dem Moment zu verändern, als wir von Frankreich in die Schweiz gelangten […]. Die Hütten & die Leute wurden (wie durch Magie) beinahe augenblicklich sauber und gastfreundlich – die Kinder waren rosig und interessant, keine Spur von zerschlissener Kleidung – In Frankreich ist es beinahe unmöglich, eine Frau unter fünfzig zu Gesicht zu bekommen, die meisten von ihnen zeigen Spuren fortgeschrittenen Alters, ihre Hütten sind in einem fürchterlichen Zustand – Dreck und Verfall scheinen dort für immer eingezogen zu sein, aber in der Schweiz […] sieht man fröhliche, zufriedene, lächelnde, gesunde Gesichter», hielt Claire in ihrem Tagebuch fest. Gerade dieser – neben den Schriften der Shelleys fast vergessene – Reisebericht enthält einige sehr spannende Details, die auf einen kritischen Geist und ein scharfes Auge schliessen lassen. Claires anfängliche Euphorie für die Schweiz verfliegt schon bald, und sie beginnt durchaus kritisch auch Unschönes zu verzeichnen.
In Neuchâtel, nach einer Lagebesprechung betreffend Finanzen, brachte Shelley tatsächlich das Kunststück zustande, mit einem Wechsel Geld aufzutreiben, vielleicht ein Vorschuss, vielleicht etwas Geliehenes, er kam jedenfalls zum Hotel zurück, «staggering under the weight of a large canvas bag full of silver», schwankend unter dem Gewicht einer grossen Leinentasche voller Silbertaler.
Was immer wieder auffällt auf dieser Reise: Lesen und studieren, schreiben und diskutieren gehörten zur täglichen Routine. Sie lasen in den Büchern von Marys Mutter, sie lasen Tacitus und Shakespeare, sie schrieben gemeinsam Tagebuch, und Shelley – manchmal mithilfe von Mary als Koautorin – skizzierte einen Roman unter dem Titel The Assassins (interessanterweise hat dieses Romanfragment gar nichts mit der aktuellen Reise zu tun, es geht vielmehr um eine Gruppe von Frühchristen in einem entlegenen libanesischen Tal).
Eigentlich waren die drei auf der Suche nach einem Haus, einer Bleibe für unbestimmte Zeit. Sie reisten vom Welschland in Richtung Luzern, kauften dort ein paar dringend benötigte Dinge ein und schifften sich dann ein für Brunnen. Dort mieteten sie tatsächlich zwei Zimmer in einem alten Haus für sechs Monate, nur um diese Wohnung tags darauf schon wieder zu verlassen. Weshalb? Unter anderem weil der Ofen nicht funktionierte. Und weil es hässlich war («At last we find a lodging in an ugly house they call the chateau for 1 louis per month»). Vielleicht aber auch, weil sie nicht wussten, wovon sie dort leben sollten. Oder weil es, wie Claire unzufrieden bemerkte, zu viele «Cottages» gab. Das wäre eine ausnehmend hübsche Bleibe, schreibt sie, wenn die Gegend nur nicht so erstaunlich bevölkert wäre. Es sei unmöglich, eine wilde und vollständige Einsamkeit zu finden. Ja, in diesem fruchtbaren Land sei kein Flecken unbewohnt, ausser ganz oben, auf den Gipfeln der Berge. Das klingt, mit Verlaub, fast so, als würde Claire die heutige Debatte rund um Agglomeration, verbautes Mittelland und Dichtestress kommentieren … Am Tag vor der Abreise wurden nochmals Pläne gewälzt – vielleicht doch über den Gotthard reisen? Aber eigentlich war längst klar, dass Brunnen den Punkt der Umkehr markierte – das Experiment war gescheitert. Was auch immer es war, was sie so schnell wieder abreisen liess – es hatte ohnehin nichts, was sie taten, eine Struktur oder einen Plan. Und das Geld neigte sich wieder einmal dem Ende zu; es war auch völlig unklar, ob es überhaupt für eine Rückreise nach England ausreichen würde. Ihre Abfahrt verzögerte sich durch ein ganz praktisches Problem: Die gewaschene Wäsche, die eine Einheimische dem Trio brachte, war noch nicht trocken, weswegen man einen Tag später nach Luzern aufbrach.
Und so begann die lange Rückreise mit einer Bootsfahrt im Regen, morgens um sieben Uhr, sehr unbequem, mit Wolken, die dicht über den Köpfen der Reisenden hingen. In Luzern stiegen sie auf ein Flussboot um, das war damals die mit Abstand billigste Art zu reisen. Abenteuerlich war auch diese Fahrt auf Reuss und Rhein, in Richtung Basel, über Stromschnellen: «Von Luzern aus fuhren wir auf der Reuss stromabwärts – in der hier und dort gefährliche Felsen lagen – wir flogen wie ein Blitz über eine Stromschnelle, wie das hier genannt wird – ich wage zu behaupten, dass es mindestens 8 Fuss waren, die wir hinabstürzten», berichtete Claire.
Die kurze Episode in der Zentralschweiz hat eine kleine, feine Spur in Mary Shelleys Werk hinterlassen: Als sie zwei Jahre später in der Villa Diodati am Genfersee, im Jahr ohne Sommer, ihren Roman-Erstling und Bestseller Frankenstein or the Modern Prometheus schreibt, scheint der Vierwaldstättersee in einer kurzen Episode auf. Aber entweder täuscht sich die Figur, die da erzählt, oder aber Mary verändert den See, den sie ja mit eigenen Augen gesehen hat, absichtlich, denn grüne Inseln gab es auch damals nicht im Vierwaldstättersee. Wohl aber den Föhnsturm, der dem Urnersee ganz plötzlich ozeanische Dimensionen verleiht. Er habe, so berichtete Doktor Frankensteins bester Freund Henri Clerval, Echo von Marys Tagebuch, «landschaftliche Szenen von grösster Schönheit in meinem eigenen Land gesehen; ich habe die Seen von Luzern und Uri besucht, wo die schneebedeckten Berge beinahe senkrecht ins Wasser abfallen und dabei schwarze, undurchdringliche Schatten werfen. Dies könnte düster, ja traurig wirken, wären da nicht die sattgrünen Inseln, die das Auge erlösen durch ihre heitere Erscheinung. Ich habe diesen See gesehen, aufgepeitscht durch einen Sturm. Als der Wind Wirbelstürme aus Wasser entfachte, bekam man eine Vorstellung davon, wie eine Wasserhose draussen auf dem grossen Ozean aussehen könnte; und die Wellen schlugen voller Wut an die Felswände […].»
Man mag diese Flucht in die Schweiz, diesen – so rasch gescheiterten – Ausbruch aus den Fesseln der Gesellschaft naiv oder sogar lächerlich finden. Oder man kann, wie Alexander Pechmann schreibt, diese Reise «auch als Versuch werten, die Ideale der Romantik an der Wirklichkeit zu erproben. Gleiches gilt für die Experimente freier Liebe, die in Marys Briefen deutlich werden.» Was bleibt – neben Texten der Weltliteratur –, sind Zeugnisse von Menschen, die ein anderes Leben wagten, als es die Gesellschaft damals sowohl für Männer wie auch für Frauen vorgesehen, ja vorgeschrieben hatte. Fast könnte man meinen, Marys unbändiger Freiheitsdrang sei – von welcher höheren Instanz auch immer – hart bestraft worden. Die brutalen Schicksalsschläge folgten dicht aufeinander, und es ist ein Wunder, dass sie an all dem Unglück nicht zerbrach: Von ihren vier Kindern, die sie zusammen mit Percy zeugte, überlebte nur eines. Der Schock, als das erste Kind, nur wenige Tage nach der Geburt, starb, muss besonders gross gewesen sein, und die Zeilen, die Mary in ihr Tagebuch schrieb, bewegen einen noch heute tief: «Sonntag, i9.März. Träume, mein Baby würde wieder lebendig werden – dass ihm nur kalt gewesen sei & dass wir es am Feuer rieben & es lebte – ich erwachte & finde das Baby nicht.» Ihre Kinder Clara und William starben mit nur einem halben Jahr Abstand. Nur der Jüngstgeborene, nach seinem Vater ebenfalls Percy genannt, blieb am Leben. Den Unfalltod ihres geliebten Mannes musste Mary im Juli 1822 erleben, da waren sie neun Jahre ein Paar, sieben davon verheiratet. Shelley, der Nichtschwimmer, ertrank beim Untergang seines Segelbootes an der italienischen Küste zwischen La Spezia und Livorno.
Der Schweiz und ihren Landschaften hat Mary unsterbliche literarische Denkmäler gesetzt. Nicht nur in Frankenstein spielt die Bergwelt, vor allem der Genfersee in einem Gewitter, eine grosse Rolle, sondern auch in ihrem apokalyptischen Science-Fiction-Roman The Last Man (1826), der am Ende des 21. Jahrhunderts spielt, in einer Welt, die von der Pest entvölkert und von einer schwarzen Sonne beschienen wird. Darin verarbeitet sie nochmals die Erinnerungen an die Reisen von 1814 und 1816 (siehe das Kapitel über Lord Byron, Seite 75–79) und verknüpft sie mit Hommagen an Shelley und Byron, die zwar unter anderem Namen, aber deutlich erkennbar auftauchen. Die Pest wütet in ganz Europa, als ein paar Überlebende aus England beschliessen, ein besseres, kälteres Klima aufzusuchen – ihr Ziel sind die Schweizer Berge: «[…] to reach Switzerland, to plunge into rivers of snow, and to dwell in caves of ice, became the mad desire of all», die Schweiz zu erreichen, in Ströme aus Schnee einzutauchen und in Höhlen aus Eis zu hausen, das wurde zum wahnwitzigen Wunsch von allen.