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Einleitung

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Dieses Buch führt zu berühmten Schweizer Sehenswürdigkeiten: auf die Rigi, nach Bad Pfäfers, in die Via Mala, über den Gotthard, zur Eigernordwand, auf die St. Petersinsel, an die Genferseeufer. Es führt aber auch zu Orten und in Gegenden, die immer noch (oder wieder) eher abseits der touristischen Hauptrouten liegen: in die Uhrmacherstadt Le Locle, über den Splügenpass, nach Chamby im Waadtland, in die ärmlicheren Viertel von Genf, über den Griesgletscher, an den Badestrand von Gandria. Die Begleitung auf diesen Reisen könnte exquisiter nicht sein: 35 ausgewählte Persönlichkeiten führen uns kreuz und quer durch die Schweiz. Ihnen gemeinsam sind zwei Dinge: Sie sind (oder waren zu ihrer Zeit) Berühmtheiten, gefeiert in ihren jeweiligen Bereichen – Literatur, Musik, Malerei, Architektur, Philosophie, Fotografie, Film, Sport und Politik. Und sie sind keine gebürtigen Schweizer, Schweizerinnen, sondern kamen aus dem nahen oder fernen Ausland. Diese Reisenden haben sich die Schweiz ganz genau angesehen, wobei das Spektrum der Reaktionen von Verzückung bis Hass so ziemlich alle denkbaren Gefühle umfasst.

Kometenbahnen

«In der Schweiz», schreibt der russische Autor Michail Schischkin in seinem Lese- und Wanderbuch Auf den Spuren von Byron und Tolstoi (2012), «haben sich auf den seltsamsten Wegen Schicksale und Bücher, Gedanken und Welten gekreuzt. Was könnte also den dämonischen Romantiker Byron und den grossen Lehrmeister Tolstoi verbinden? Beide waren sie 28 Jahre alt, als sie an den Genfersee kamen. Und beide gingen sie in die Berge wandern, liefen die genau gleiche Strecke von Montreux über den Col de Jaman ins Simmental, von dort nach Interlaken und Grindelwald. Sie liessen ihren Blick über dieselben Berggipfel schweifen, traten vielleicht auf dieselben Steine, übernachteten vermutlich in denselben Häusern, ruhten sich im Schatten derselben Bäume aus. Und beide schrieben ein Tagebuch, von deren Eintragungen ein direkter Weg zu ihren späteren Texten führt.»

Fährten aufnehmen, Verbindungslinien suchen im Raum – die Theoretikerin Doreen Massey drückt dieselbe Idee mit anderen Worten aus: «Perhaps we could imagine space as a simultaneity of stories-so-far», vielleicht können wir uns Raum vorstellen als eine Gleichzeitigkeit von (allen) bisherigen Geschichten, schlägt sie vor. Durch die Bewegungen von Menschen, Ideen und Objekten wird ein Raum – zum Beispiel ein Land – immer neu geschaffen. Diese ziehen ihre Bahnen («trajectories» nennt Massey das), und dabei entstehen Überschneidungen und Knotenpunkte und immer wieder neue, überraschende Situationen.

Die hier vorgelegten 35 Porträts berühmter Reisender (Lord Byron und Leo Tolstoi sind auch darunter) ergeben zusammen eine Art mehrdimensionalen helvetischen Raum-Zeit-Würfel. In ihm kreuzen sich – Kometenbahnen vergleichbar – Lebenswege und Schicksale, in ihm sind Träume, Pläne, Ängste und Ärgernisse, Entdeckungen und Inspirationen an bestimmte geografische Punkte gebunden. Und manche der Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, von Casanova bis Churchill, von 1760 bis 1946, sind durch unsichtbare Fäden miteinander verknüpft.

Knotenpunkte, Kreuzungen, imaginäre Begegnungen

Ein paar Beispiele: Arthur Conan Doyle und René Schickele versuchen sich beide auf Skiern, 1893 in Davos und 1918 im Diavolezza-Gebiet, beide erzählen von Stürzen im Schnee, beide sind grosse Schriftsteller und schildern dementsprechend diese Vorgänge auf hinreissende Weise, durchaus mit einer Prise Selbstironie. Conan Doyle beschreibt seine Versuche so: «Aber du ziehst sie [die Skier] an und wendest dich mit einem Lächeln nach deinen Freunden um, um zu sehen, ob sie dir auch zuschauen – und dann bohrst du im nächsten Augenblick deinen Kopf wie verrückt in einen Schneehaufen hinein und strampelst wahnsinnig mit beiden Füssen, um, halb aufgestanden, von neuem wieder im gleichen Schneewall unrettbar zu ertrinken; so gibst du deinen Freunden ein Schauspiel, dessen sie dich niemals für fähig gehalten hätten.» – «Ich bin, Kopf voraus, in den Schnee geflogen und lag, mit verquerten Skiern, das Gesicht nach unten, seltsam gekreuzigt auf dem Schnee, ohne mich rühren zu können […]», scheint Schickele zu antworten.

In Genf bekamen zwei Musen grosser Männer ihre Kinder: Marie d’Agoult, die Geliebte von Franz Liszt, brachte 1835 eine Blandine zur Welt, 1867 schenkte Anna Dostojewskaja ihrer Tochter Sonja das Leben – Blandine sollte nur 27 Jahre alt werden, Sonja starb schon als zehn Wochen altes Baby. Felix Mendelssohn Bartholdy und Richard Wagner hätten sich auf dem Faulhorn begegnen können, in einer anderen Raum-Zeit-Dimension. Als Mendelssohn die Wanderung im Jahr 1831 unternahm, war das Gasthaus auf dem Gipfel noch im Bau, und er musste auf Stroh in einer Nebenhütte übernachten. Wagner hingegen fand 1853 den vollen Komfort eines Hotels auf fast 2700 Metern vor, mitsamt weiss eingedeckten Tischen und Silberbesteck. Und beinahe wäre ihnen 1918 Walter Benjamin gefolgt – in Begleitung seines Freundes Gershom Scholem. Aus unbekannten Gründen ist diese Wanderung zwar brieflich genau geplant, dann aber doch nicht durchgeführt worden.

Leo Tolstoi und Gustave Flaubert wären sich in ihrem Desinteresse für die Rigi und überhaupt für Aussichtspunkte einig gewesen. Franz Liszt und Theodor Fontane stiegen beide im Hotel Storchen in Basel ab – mit vierzig Jahren Abstand, 1835 und 1875. Liszt reiste mit Marie d’Agoult über den Walensee, in einem Ruderboot, denn das erste Dampfschiff wurde auf diesem Gewässer erst zwei Jahre später eingesetzt. 1841 reiste dann aber prompt Friedrich Engels mit dem Dampfboot auf exakt derselben Route. Giacomo Casanova, Karl Friedrich Schinkel und James Fenimore Cooper, alle drei vergnügten und reinigten sich im Berner Bad im Mattequartier an der Aare. Casanova leistete sich ein Upgrade, Baden plus käufliche Liebesdienste, Schinkel war über ein eben solches Angebot masslos empört («Entsetzlich war es aber, dass wir beim Eintritt ins Bad gefragt wurden, ob wir ein bain garni, das heisst mit einem Frauenzimmer, verlangten […]»), Cooper hingegen berichtet ganz erfreut davon: «Ich zahlte zwanzig Cents für ein warmes Bad unter einer Leinwandbedachung, mit Seife, warmen Tüchern, warmem Badeanzug, alles nach Wunsch. […] Das ist die wohlfeilste Art zu baden, die mir jemals vorgekommen ist.» Nur zehn Jahre trennen August Strindberg und Winston Churchill voneinander – der Schwede bezog mit seiner Familie 1884 eine Wohnung in Ouchy, der Brite wäre als Neunzehnjähriger, 1894, beinahe bei einer Bootstour ertrunken, die ebendort startete.

Im glutheissen Jahrhundertsommer 1911, in dem es zwischen April und Oktober kaum regnete, waren J. R. R. Tolkien, Franz Kafka und Walter Benjamin gleichzeitig in der Schweiz unterwegs. Es ist nicht anzunehmen, dass sie sich irgendwo begegnet sind, obwohl ihre Routen sich teilweise kreuzten.

Es gibt sogar Verknüpfungen ausserhalb der Schweiz: Die US-amerikanische Journalistin und Kunstkritikerin Elizabeth Robins Pennell, die die Schweiz 1898 durchquerte, schrieb eine Biografie über Mary Wollstonecraft, Mutter von Mary Godwin, der Reisenden aus dem Jahr 1814. Und Leni Riefenstahl, deren Schweizer Episode aufs Engste mit dem Piz Palü verbunden ist, war ebenso wie Richard Strauss (seine Reise führte ihn 1893 auf den Gornergrat beim Matterhorn) präsent bei den Olympischen Spiele 1936 in Berlin – sie als Hitlers Regisseurin, er als Komponist und Dirigent der Eröffnungshymne.

Die Reihe der Beispiele liesse sich noch lange fortsetzen. Überraschend sind auch diese Trios: Was verbindet John Ruskin, Leo Tolstoi und August Strindberg? Die Verehrung für die Sprache und die Erzählkunst von Jeremias Gotthelf. Was Elizabeth Main, Walter Benjamin und Leni Riefenstahl? Die Begeisterung für Giovanni Segantini. Was Heinrich von Kleist, Hans Christian Andersen, Leo Tolstoi? Der Ekel vor der Grossstadt Paris, das Gefühl, dort unterzugehen – und die Idee, dem Moloch den Rücken zu kehren und in die nahe Schweiz zu reisen. Tolstoi hatte zudem eine öffentliche Hinrichtung mit der Guillotine erlebt, die ihn bis ins Mark erschütterte. «Ich lebte 1 ½ Monate in Sodom, und in meiner Seele hat sich schon viel Unrat gesammelt, sowohl zwei Strassenmädchen wie die Guillotine und der Müssiggang und die Gemeinheit.» Auch für Franz Liszt und Marie d’Agoult beginnt die Reise in die Schweiz mit der Flucht aus Paris. Bei ihnen hat das aber andere Gründe, es ist eine Flucht aus Verhältnissen und Konventionen, die ihnen nicht erlaubt hätten, in wilder Ehe zusammenzuleben. Auf einer Reise durch die Schweiz und später in Genf konnten sie es.

Dieses Schweizer-Reisen-Panorama spannt sich vom 18. bis ins 20. Jahrhundert auf. Tourismusgeschichtlich ergibt das absolut Sinn: Casanova hatte noch kein Auge für die Landschaft, er steht ganz am Anfang der Epoche, die Landschaft, vor allem die alpine und voralpine, erst im grossen Stil als visuellen Genuss entdecken wird; Winston Churchills Landschaftsmalerei basiert hingegen auf exakt dieser kulturgeschichtlichen Ära, ja wäre ohne sie nicht denkbar.

Was sich am Anfang der Recherchen noch nicht hat erahnen lassen: Ein wundersames Band verknüpft Anfangs- und Endpunkt, Casanova und Churchill sind durch die Jahrhunderte auch ganz direkt verbunden, eben durch jene eingangs erwähnten Flugbahnen, «trajectories». Diese kreuzen sich in Leipzig. Das Manuskript von Casanovas Memoiren befand sich im Besitz der Verlegerfamilie Brockhaus in Leipzig und überstand die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg unbeschadet; der damalige Verlagsinhaber brachte die kostbaren Schachteln mit den eng beschriebenen Blättern mit der Hilfe seiner Sekretärin auf einem Dreirad in einen Banktresor. Später wurde es in einen Luftschutzbunker verlagert, wo es der Hitze eines Brandes und dann dem Wasser ausgesetzt war. Gemäss einer Anekdote, die in den Casanova-Recherchen von Tony Perrottet auftaucht, erkundigte sich Winston Churchill in Leipzig persönlich nach dem Verbleib der Handschrift. Am 12. Juni 1945 stellten die Amerikaner bei ihrem Abzug aus Leipzig, als sie die Stadt den Russen übergaben, dem Verlag Brockhaus einen Lastkraftwagen zur Verfügung. Dr. Brockhaus verpackte den Casanova-Nachlass in eine Kiste. So kam er nach Wiesbaden, in die neue West-Niederlassung des Verlags.

Aspekte des Reisens

Weshalb haben diese Berühmtheiten die Schweiz besucht, was haben sie hier gesucht, was haben sie gefunden, welche unmittelbaren Wirkungen oder Nachwirkungen hatte der Aufenthalt – künstlerisch, biografisch? Die Fragen scheinen einfach, die Antworten darauf sind es oft nicht.

Immer wieder treten uns neue Aspekte des Reisens entgegen: Was heisst es, durch ein Gemälde zu reisen statt durch eine reale Landschaft (Theodor Fontane), eine literarische Pilgerfahrt zu unternehmen (Jens Immanuel Baggesen), in der Schweiz Inspiration pur zu finden (Richard Wagner, Arthur Conan Doyle, Ernest Hemingway und viele andere), ein berufliches Projekt zu verfolgen, das mit Urlaub nicht viel zu tun hat (Leni Riefenstahl, Anderl Heckmair), inkognito zu reisen (Kaiserin Elisabeth von Österreich)?

Manchmal kommt sehr konventionelles Vokabular zum Einsatz (Karl Friedrich Schinkel), dann wieder verblüffende Bilder, Formulierungen, die einen die (Schweizer) Welt mit neuen Augen sehen lassen (Franz Kafka). Manche Reisenden inszenieren sich in allererster Linie selber, anderen ist die Landschaft das Wichtigste. Das ist zum Teil der Epoche geschuldet, zum Teil aber auch individuell bedingt.

En passant lässt sich ablesen, wie sich die Infrastruktur, die Reisemöglichkeiten rasant veränderten. Mitte des 18. Jahrhunderts prägten schlechte Strassen, oft über sumpfiges Gelände gelegt oder voller Steine, mit tiefen Gräben, die Reisen; in manchen Gebieten war, um die Strassen nicht zu verschlechtern, eine Gewichtsobergrenze für Fahrzeuge vorgesehen, nicht mehr als zwei Tonnen, und um diese Vorschrift durchzusetzen, fanden sich entlang der Hauptrouten Messstationen. Es gab schon erste Postkutschen, aber die geläufigste Art zu reisen war, sich selber eine Kutsche, Pferde und einen Fuhrmann zu mieten. Casanova mietete sich ein Gefährt ab Schaffhausen und holperte damit über miserable Strassen. 286 Jahre später, im Jahr 1946, steuerte Churchills Swissair-Sondermaschine den Flughafen Genf-Cointrin an. Dazwischen: Fusswanderungen, Postkutschen, Flussfahrten, Dampfboot, Dampfschiff, Eisenbahn, Zahnradbahn, Automobil – das ganze Spektrum eben.

Die 35 Porträts verstehen sich also als Schaufenster, Gucklöcher auf vergangene Zeiten, «en miniature» vermitteln sie eine andere Geschichte der Schweiz, voller erheiternder, inspirierender, verstörender oder trauriger Momente. Natürlich liesse sich das alles viel ausführlicher erzählen, auch stehen hinter jedem Porträt ganze Epochen. Genauer: Ausgehend von diesen «fremden Blicken», dem Prisma der Reisenden, liesse sich leicht eine fast komplette Geschichte der Schweiz rekonstruieren: wirtschaftliche Entwicklung, Tourismus und Infrastruktur, politische Vernetzung, internationale Beziehungen.

Unerzählte Geschichten

«Ich erinnere mich, wir standen an einem Steilhang: was war das für ein Nebel dort unten. Je tiefer, desto dunkler. Man konnte meinen, unten sei ein Meer von Sepia. Und die Tannen wurden immer seltener und dünner im Stamm. Ich erinnerte mich an Russland, den Norden. Und endlich: Rigi-Kulm, mehr als 2000 Meter hoch. Alle drei Riesenhotels auf diesem Gipfel sind leer, von Schnee verweht und im Nebel kaum zu sehen. Im Haupthotel fanden wir ein Zimmer, unten in der Stube für die Angestellten ist ein Ofen, drei Schweizerinnen mit hochroten Gesichtern. Wir trockneten uns, assen etwas. Und verbrachten den langen Winterabend in dieser Höhe, in absoluter Verlassenheit. Wir gehen schlafen.

[…] Wir gingen durch das leere Hotel, durch die leeren Hallen, Salons und Restaurants. Überall ist es kalt, die Stühle sind aufeinandergestellt, die Beine nach oben, die Schritte hallen wider. Es ist Winter! In einer Woche verlassen alle das Hotel bis zum Frühling.»

So hat der russische Dichter Iwan Bunin im November 1900 die sonst überfüllte Rigi erlebt – einer der zahlreichen Texte, die – leider – nicht auch noch aufgenommen werden konnten.

Es fehlen, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen: Johann Wolfgang von Goethe, Mme de Staël, Mark Twain, Vladimir Nabokov, Alexandre Dumas, Jules Verne, William Turner, Thomas Alva Edison, Marcel Proust. Es fehlt Hölderlins genialische Fussreise durch den Kanton Schwyz, es fehlt der junge Borges, auf Klettertour im Mont Salève, es fehlt Karl Kraus unterwegs mit seiner Geliebten Sidonie Nadhérny, im Automobilrausch, es fehlen Zelda und Francis Scott Fitzgerald auf ihrer traurigen Route zwischen psychiatrischen Anstalten und Luxushotels – und noch so viele mehr.

Ausklang

Die Porträtserie endet mit Churchill im Jahr 1946. Dabei kann die Reise des britischen Staatsmannes bereits als eine anachronistische Erscheinung gesehen werden – Reisen wie die seine gab es schon nicht mehr, ein wochenlanger Aufenthalt mit Musse zum Malen, Schreiben, für Gespräche. Als der Tourismus in den 1950er-Jahren so allmählich wieder angekurbelt wurde, als mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wieder zahlende Gäste in die Schweiz kamen, da hat sich das Bild von Grund auf geändert. An die Blütezeit des Schweizer Tourismus in der Belle Époque liess sich nie mehr anknüpfen. Sport, vor allem im Winter, stand im Vordergrund, aus den wochenlangen Reisen durch die Schweiz oder Kuraufenthalten in der Schweiz wurden Tagesausflüge. Pauschalangebote, wie sie schon Thomas Cook zusammenstellte, gewannen an Beliebtheit. Und die prunkvollen Hotelpaläste sahen schweren Zeiten entgegen. Zum einen war ihr Fassadenschmuck, überhaupt der ganze Glanz und Schimmer einer untergegangenen Epoche, den puritanischen 1950er-Jahren ein Dorn im Auge – viele der alten Hotelpaläste, die sich gar nicht mehr rentabel füllen und betreiben liessen, wurden damals abgerissen.

Wie aber sieht es mit den Reisenden aus? Gibt es noch Intellektuelle, Literaten, Kunstschaffende, die eine Schweizer Reise alten Stils unternehmen im 20. Jahrhundert, im 21. Jahrhundert? Die Antwort lautet ganz klar: Nein, dieser Typus kehrt wohl nicht wieder. Was es als Phänomen jedoch gibt: die sogenannten Footstep Travellers, die Reisenden in den Fussspuren berühmter Vorgänger – ein Verfahren, das sich im 19. Jahrhundert schon etabliert hatte. Die russische Journalistin Natalia Popowa reiste 1981, mitten im Kalten Krieg, auf den Spuren von Karamsin und Tolstoi durch die Schweiz, W. G. Sebald reiste auf den Spuren von Jean-Jacques Rousseau (1996), Michail Schischkin trat, wie schon erwähnt, in die Fussstapfen von Tolstoi und Byron (2013), Diccon Bewes in jene der Jemima Morrell (2013), Antoine Wagner erleben wir – fotografisch, filmisch – auf den Spuren seines Ururgrossvaters Richard (2015). Solche Touren, die gibt es immer wieder. Wenn sie gut und geistreich gemacht sind, dann verbinden sie auf charmante Weise längst vergangene touristische Epochen mit unserer Zeit. «Mir aber war es in dem Rousseauzimmer, als sei ich zurückversetzt in die vergangene Zeit, eine Illusion, auf die ich umso leichter mich einlassen konnte, als auf der Insel dieselbe, von keinem noch so fernen Motorgeräusch gestörte Stille herrschte wie überall auf der Welt vor hundert oder zweihundert Jahren», schildert W. G. Sebald in seinem unnachahmlichen Tonfall seine Erfahrungen auf der St. Petersinsel.

Die Porträts in diesem Lesebuch sind dagegen mit Absicht nicht als nostalgische Zeitreisen verfasst. Die vorgestellten Persönlichkeiten lebten am Puls ihrer Zeit, oft mitten im Strudel des politischen Geschehens, und sie waren Vorreiter und Vorreiterinnen auf ihren Gebieten, sie waren die Avantgarde. Sie kamen, blieben einige Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre in der Schweiz, dann gingen sie wieder. Diese illustren Gäste machen einen Teil der Schweizer Kulturgeschichte aus – und es ist wohl nicht übertrieben zu sagen: einen bewegenden.

Zum Aufbau der Kapitel Bildauswahl:

Sowohl bei den Landschaftsbildern wie auch bei den Autorenporträts soll die grösstmögliche Nähe zur Zeit des Aufenthalts hergestellt werden. In manchen Fällen stammen die Impressionen von Ortschaften, Landschaften oder Innenräumen, die den Auftakt zum jeweiligen Kapitel bilden, von den Reisenden selbst, etwa im Fall von Karl Friedrich Schinkel, Felix Mendelssohn Bartholdy, John Ruskin und Elizabeth Main, die fleissig gezeichnet respektive fotografiert haben. Wenn nicht, dann sind es Motive aus der Zeit, nach dem Motto «ein solches Bild hätten sie sehen können». Bei den Porträts gibt es einige eindrückliche Beispiele von Schnappschüssen vor Ort (Arthur Conan Doyle, Anderl Heckmair, Winston Churchill). In anderen Fällen war es leider nicht möglich, solche Zeitdokumente zu finden (beziehungsweise: es gab erst gemalte Porträts). Von Franz Kafka etwa existiert kein einziges Foto von seiner Schweizer Sommerreise im Jahr 1911, weswegen ein offizielles Passbild von 1915 gewählt worden ist, das zumindest das Reisethema aufnimmt. Bei manchen Porträts ist man ganz dicht an der Person dran, bei anderen schieben sich die Konventionen dazwischen, eine repräsentative Pose oder die Gepflogenheiten eines Fotostudios.

Routenverlauf:

Die Auflistung der Stationen erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sie deutet nur stichwortartig an, in welcher Richtung und mit welchen wichtigsten Stationen die Reisenden die Schweiz durchquert haben – und woher sie kamen, wohin sie gingen.

Jahreszahl:

Genannt wird immer das Jahr, in dem die Reise stattgefunden hat, obwohl im Kommentar fast immer auch Geschehnisse davor und danach einbezogen werden.

Texte:

Bewusst ist autobiografisches Material ausgewählt worden, nicht Fiktionen. Die Grenzen verlaufen da selbstredend fliessend. Viele der hier Porträtierten haben ihre Schweizer Erlebnisse in Romanen, Erzählungen, Gedichten und Dramen umgesetzt, oft waren Briefe und Tagebücher Vorstufen zu diesen literarischen Ausarbeitungen. Von Lord Byron wird aber zum Beispiel kein Auszug aus seinem Drama Manfred abgedruckt, sondern einer aus dem Tagebuch.

Forschungsliteratur und Quellen:

Auf aufwendige Grundlagenstudien konnte grösstenteils verzichtet werden; zumeist konnte ich – dankbar – auf bestehende ausführliche Darstellungen zurückgreifen, von zeitgenössischem Material bis zu aktuellen Aufsätzen, Monografien, Zeitungsartikeln, Dokumentarfilmen (siehe Auswahlbibliografie, Seite 500).

Von Casanova bis Churchill

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