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Auszüge aus Casanovas «Geschichte meines Lebens», 1785–1798

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Drei Stunden nach Leducs Ankunft nahm ich die Post und fuhr nach Schaffhausen und von dort mit einem Mietfuhrwerk nach Zürich, weil es in der Schweiz keine Poststationen gibt. Ich stieg in dem ausgezeichneten Gasthof «Zum Schwert» ab.

Als ich nach dem Abendessen allein in dem Speisesaal der reichsten Stadt der Schweiz sass, wohin ich gleichsam wie aus den Wolken gefallen war – denn ich hatte vorher nicht die geringste Absicht gehabt, nach Zürich zu gehen – überliess ich mich tausend Betrachtungen über meine augenblickliche Lage und mein vergangenes Leben. Ich rief mir meine Unglücksfälle ins Gedächtnis zurück und prüfte mein Verhalten. Ich erkannte gar bald, dass alle Unannehmlichkeiten mir durch meine eigene Schuld zugestossen waren und dass ich fast immer mit meinem Glück Scherz getrieben hatte, wenn es mich mit seinen Gaben überschüttete. Ich hatte mich soeben aus einer Schlinge gezogen, in der ich trotz meiner Unschuld Tod und Schande finden konnte, und ich erzitterte bei diesem Gedanken. Ich fasste den Entschluss, in Zukunft nicht mehr ein Spielball des Glücks zu sein und mich vom Zufall gänzlich unabhängig zu machen. Ich stellte ein Verzeichnis meines Vermögens auf und fand, dass ich hunderttausend Taler besass. Dies genügt, sagte ich zu mir selber, um, vor allen Wechselfällen geschützt, eine sichere Existenz zu führen, und ich werde in einem vollkommenen Frieden das wahre Glück finden! Voll von diesen Gedanken ging ich zu Bett und verbrachte eine köstliche Nacht in wundervollen Träumen. Ich sah mich in einer friedlichen Einsamkeit in Überfluss und Ruhe; mir war’s, als wenn ich mich inmitten einer schönen Landschaft befände, deren Herr ich wäre und wo ich eine Freiheit genösse, die der Mensch vergeblich in der Welt sucht. Natürlich träumte ich; aber in meinem Traum kam es mir vor, als ob ich nicht träumte. Es war für mich eine schmerzliche Enttäuschung, als ich bei Tagesanbruch plötzlich erwachte. Ich war von meinem eingebildeten Glück zu angenehm geweckt, als dass ich nicht hätte suchen sollen, es zu verwirklichen. Ich stand auf, zog mich in aller Eile an und ging ohne Frühstück aus dem Hause, ohne zu wissen wohin.

Eine Stunde nachdem ich die Stadt verlassen hatte, fand ich mich inmitten vieler Berge wieder, so dass ich hätte glauben können, mich verlaufen zu haben, wenn ich nicht überall Wagenspuren erspäht hätte, die mir verhiessen, dass mich jener Weg an einen gastlichen Ort bringen müsste. Alle Viertelstunden lang begegnete ich Bauern, aber ich gefiel mir darin, von ihnen keinerlei Auskunft zu erfragen. Nachdem ich sechs Stunden lang langsamen Schrittes gelaufen war, fand ich mich plötzlich auf einer grossen Ebene zwischen vier Bergen wieder. Ich hatte auf der linken Seite die schöne Aussicht auf eine grosse Kirche, die an ein Gebäude mit gleichförmiger Fassade angrenzte, welche die Wanderer einlud, sie aus der Nähe zu betrachten. Ich sah, als ich dichter herankam, dass es nur ein Kloster sein konnte, und war froh darüber, in einem katholischen Kanton zu sein.

Ich fand die Kirchentüre offen, trat ein und war verwundert über den reichen Marmorschmuck und die Schönheit der Altäre. Nachdem ich die letzte Messe gehört hatte, ging ich in die Sakristei, wo ich eine Menge Benediktiner fand.

Der Abt, den ich inmitten dieser Mönche an dem um seinen Hals hängenden Kreuz erkannte, trat auf mich zu und fragte, ob ich die Sehenswürdigkeiten des Klosters und der Kirche in Augenschein zu nehmen wünsche. Ich antwortete ihm, dies werde mir viel Vergnügen machen, und er erbot sich, nebst zwei anderen Brüdern selber mein Führer zu sein. Ich sah sehr reiche Gewänder, die mit Gold und echten Perlen überladen, Monstranzen, die mit Diamanten und anderen Edelsteinen geschmückt waren, eine reiche Balustrade und anderes mehr.

Ich verstand sehr wenig Deutsch und kein Wort von der Schweizer Mundart, die mir sehr schwer verständlich zu sein scheint und in der deutschen Sprache etwa die Stellung einnehmen dürfte wie die genuesische Mundart in der italienischen. Ich begann daher Lateinisch zu sprechen und fragte den Abt, ob die Kirche schon vor langer Zeit erbaut worden sei. Hierauf begann der Hochwürdigste eine lange Geschichte, die mich beinahe dahin gebracht hätte, meine Neugierde zu bereuen, wenn er mir nicht zum Schluss gesagt hätte, es sei die einzige Kirche auf der ganzen Welt, die Jesus Christus in eigener Person geweiht habe. Demnach musste die Gründung schon recht weit zurückliegen, und ohne Zweifel machte ich ein etwas überraschtes Gesicht dazu; denn der Abt lud mich ein, ihm in die Kirche zu folgen, um mich von der Wahrheit jener Worte zu überzeugen. Dort zeigte er mir auf dem glatten Marmor fünf Eindrücke, die von den Fingern Jesu Christi im Augenblick der Einweihung stammten, um die Zweifler zu überzeugen und dem Superior die Mühe zu ersparen, den Diözesebischof zur Weihe der Kirche herbeirufen zu lassen. Der Superior hatte dieses Wunder durch eine göttliche Offenbarung im Traum erfahren, die ihm in verständlichen Worten befahl, nicht mehr an eine Weihe zu denken, denn die Kirche sei «divinitus consecrata» [von Gott geweiht], das sei so wahr, dass man die Eindrücke an der bestimmten Stelle sehen könnte. Er ging in die Kirche, sah sie und dankte dem Herrn. […]

Die überzeugungsvolle Miene, womit der Abt mir diese Ammenmärchen vortrug, erregte in mir eine Lachlust. Ich hörte jedoch in so ehrfurchtsvollem Schweigen zu, dass der Hochwürdige Herr ganz entzückt war und mich fragte, in welchem Gasthof ich wohnte. Ich antwortete ihm: «Nirgends; denn ich bin von Zürich zu Fuss gekommen, und mein erster Besuch hat Ihrer Kirche gegolten.»

Ich weiss nicht, ob ich vielleicht diese Worte mit einem Ausdruck von Zerknirschung vorbrachte, aber der Abt faltete seine Hände und hob sie zum Himmel empor, als wenn er Gott dafür danken wollte, dass er mein Herz gerührt und mich auf meiner Pilgerschaft geleitet hätte, um in diesem Heiligtum die Last meiner Sünden abzuwerfen.

Dies erschien mir natürlich; denn ich weiss, dass ich stets wie ein grosser Sünder ausgesehen habe.

Der Abt sagte mir, es sei bald Mittag und er hoffe, ich werde ihm die Ehre antun, mit ihm zu speisen; ich nahm dies mit verbindlichem Dank an. Ich wusste nicht, wo ich war, und wollte ihn nicht fragen; denn es war mir erwünscht, ihn bei dem Glauben zu belassen, dass ich zur Abbüssung meiner Sünden eine Pilgerfahrt machte.

Unterwegs sagte der Abt mir, seine Ordensbrüder ässen an diesem Tage Fastenspeisen, wir aber würden Fleisch essen, da er von Benedikt XIV. einen Dispens erhalten hätte, der ihm erlaubte, das ganze Jahr hindurch mit drei Tischgenossen Fleisch zu essen. Ich antwortete ihm, ich würde gerne an seinem Vorrecht teilnehmen. Als wir in seinem Zimmer waren, das durchaus nicht einer Büsserzelle glich, zeigte er mir sofort den Dispensbrief, der unter Glas in einem schönen Rahmen dem Esstisch gegenüber an der Wand hing, damit die Neugierigen und Gewissenhaften Kenntnis davon nehmen könnten.

Da auf der Tafel nur für zwei Personen angerichtet war, legte ein Bedienter in reicher Livree noch ein Gedeck auf, was dem bescheidenen Abt Gelegenheit gab, mir zu sagen: «Ich speise für gewöhnlich mit meinem Kanzler; ich muss nämlich eine Staatskanzlei halten, weil ich in meiner Eigenschaft als Abt von Einsiedeln auch Fürst des Heiligen Römischen Reiches bin.»

Ich atmete auf; denn nun wusste ich endlich, wo ich mich befand, und dies war mir sehr angenehm. Von «Unserer Lieben Frau zu den Einsiedeln» hatte ich sprechen hören, dem Loreto1 nördlich der Alpen.

Bei Tisch fragte der Fürstabt mich, aus welchem Lande ich wäre, ob ich verheiratet wäre und ob ich die schönen Gegenden der Schweiz zu besuchen gedächte; zugleich bot er mir Empfehlungsbriefe an für alle Orte, die ich aufzusuchen wünschte.

Ich sagte ihm, ich wäre Venezianer, Junggeselle, und würde die mir angebotenen Briefe dankbar annehmen, nachdem ich ihm in einer Unterredung gesagt haben würde, wer ich wäre. Ich hoffte, er würde mir diese bewilligen, da ich den Wunsch hätte, ihm alles anzuvertrauen, was ich auf dem Gewissen hätte. So ging ich, ohne jeden Vorbedacht und ohne eigentlich zu wissen, was ich sagte, die Verpflichtung ein, diesem Abt zu beichten. Diese Plötzlichkeit der Entschlüsse war meine besondere Liebhaberei. Wenn ich einem plötzlichen Einfall folgte, wenn ich etwas tat, was ich vorher nicht überlegt hatte, so kam es mir vor, als wenn ich die Gesetze meines Schicksals befolgte und einem höchsten Willen nachgebe. […]

Als das Mahl beendet war, machte der Kanzler eine ehrfurchtsvolle Verbeugung und entfernte sich. Gleich darauf führte der Abt mich im ganzen Kloster herum und zuletzt auch in die Bibliothek. […]

Über den Anblick der Bibliothek würde ich laut aufgeschrien haben, wenn ich allein gewesen wäre. Sie enthielt nur Folianten, und die neuesten waren ein Jahrhundert alt. Alle diese dicken Bücher handelten nur von Theologie und religiösen Streitfragen: Bibeln, Kommentare, Kirchenväter, mehrere Legisten2 in deutscher Sprache, Annalen und das grosse Lexikon von Hoffmann.

«Ohne Zweifel, hochwürdigster Herr», fragte ich ihn, «haben Ihre Mönche ihre Privatbüchereien, worin sich naturwissenschaftliche, geschichtliche Werke und Reisebeschreibungen befinden?» – «Nein; meine Mönche sind brave Leute, die sich nur um ihre Andachtspflichten kümmern und in süsser Unwissenheit friedlich dahinleben.»

Ich weiss nicht, was mir in diesem Augenblick durch den Kopf fuhr, aber genug, mich wandelte eine unbegreifliche Laune an – nämlich Mönch zu werden. Ich sagte dem Abt zuerst nichts davon, aber ich bat ihn, mich in sein Kabinett zu führen, indem ich ihm sagte: «Ich wünsche, hochwürdigster Herr, Ihnen eine Generalbeichte aller meiner Sünden abzulegen, damit ich morgen, rein von allen Verbrechen, das heilige Abendmahl empfangen kann.»

Ohne mir zu antworten, führte er mich in ein hübsches Gartenhaus, wo er mir sagte, er sei bereit, mich anzuhören; doch litt er nicht, dass ich niederkniete.

Ihm gegenübersitzend, erzählte ich ihm drei Stunden hintereinander eine Menge anstössiger Geschichten; aber ich erzählte sie ohne Salz, denn ich war in einer asketischen Stimmung und musste in einem Stil der Zerknirschung reden, die ich in Wirklichkeit nicht empfand; denn wenn ich meine tollen Streiche wieder durchging, fand ich die Erinnerung daran durchaus nicht unangenehm. […]

Um glücklich zu sein, brauchte ich, so schien es mir, nur eine Bibliothek nach meinem Geschmack, und ich bezweifelte durchaus nicht, dass der Abt mir erlauben würde, mir nach meinem Belieben alle Bücher anzuschaffen, wenn ich ihm verspräche, sie nach meinem Tode dem Kloster zu schenken, vorausgesetzt, dass mir bei Lebzeiten die freie Benutzung zustände.

Was die Gesellschaft der Mönche anbelangte, Zwietracht, Neid und alle gegenseitigen Quälereien, die von solchen Vereinigungen unzertrennlich sind, so fühlte ich mich sicher, dass ich sie nicht zu fürchten haben würde, da ich nichts wollte und keinen Ehrgeiz hatte, der ihre Eifersucht hätte erregen können. Obgleich ich mich in einer Art von Verzauberung befand, sah ich aber doch die Möglichkeit der Reue voraus, und mir schauderte davor; aber ich hoffte dagegen ein Mittel finden zu können. Indem ich um das Kleid des heiligen Benedikt bitte, sagte ich zu mir, werde ich ein zehnjähriges Noviziat verlangen; kommt die Reue nicht während dieser zehn Jahre, so kann sie unmöglich später kommen. Übrigens wollte ich in aller Form erklären, dass ich nach keinem Amte, nach keiner geistlichen Würde strebte. Ich wollte nur Frieden mit hinlänglicher Freiheit, um nach meinen neuen Neigungen leben zu können, ohne zu irgendeinem Skandal Anlass zu geben. Die Schwierigkeit, die die erbetene lange Dauer meines Noviziats vielleicht verursachen könnte, gedachte ich dadurch zu heben, dass ich im Falle einer Sinnesänderung die vorausbezahlten zehntausend Taler preisgäbe.

Ich schrieb vor dem Schlafengehen diesen ganzen schönen Plan nieder, und da ich am nächsten Tage mich noch ebenso fest entschlossen fand, so übergab ich nach dem Abendmahl meine Schrift dem Abt, der mich in seinem Zimmer erwartete, um mit mir die Morgenschokolade zu trinken.

Er las sofort meine Eingabe und legte sie, ohne ein Wort zu sagen, auf den Tisch; nach dem Frühstück las er sie noch einmal, wobei er im Zimmer auf und ab ging, und sagte mir dann, er werde mir nach dem Mittagessen eine Antwort geben.

Nach dem Mittagessen sagte der liebenswürdige Abt zu mir: «Mein Wagen erwartet Sie vor der Tür, um Sie nach Zürich zurückzubringen. Reisen Sie ab, und gönnen Sie mir vierzehn Tage Zeit zur Antwort. Ich werde sie Ihnen persönlich überbringen. Einstweilen bitte ich Sie, diese beiden versiegelten Briefe selber abzugeben.»

Ich antwortete ihm, er habe zu befehlen; ich würde seinen Auftrag pünktlich ausführen und ihn im Gasthof «Zum Schwert» erwarten, in der Hoffnung, dass er meine Wünsche erfüllen würde. Ich ergriff seine Hand, die er sich küssen liess, und fuhr ab. […]

Am Tage vor dem angekündigten Besuch des Abtes stand ich gegen sechs Uhr abends an meinem Fenster, das nach der Brücke hinausging, und unterhielt mich damit, die Vorübergehenden zu betrachten, als ich plötzlich in scharfem Trabe einen vierspännigen Wagen daherkommen sah, der vor der Tür des Gasthofes hielt. Es sass kein Bedienter darauf; infolgedessen öffnete der Kellner den Schlag, und ich sah vier gutgekleidete Damen aussteigen. An den drei ersten bemerkte ich nichts Besonderes, aber die vierte, die als Amazone gekleidet war, fiel mir durch ihre Eleganz und ihre Schönheit auf. Es war eine junge Brünette mit schön geschnittenen, grossen Augen, über denen sich kühn geschwungene Brauen wölbten; sie hatte eine Haut wie Lilien und Wangen wie Rosen, trug eine Kappe aus blauem Satin mit einer Troddel, die ihr auf das Ohr herabfiel und ihr ein sieghaftes Aussehen gab, dem ich nicht zu widerstehen vermochte. Ich beugte mich soweit wie möglich mit dem Oberkörper aus dem Fenster vor, um zehn Zoll höher zu sein, da hob sie den Kopf und sah mich an, als wenn ich sie gerufen hätte. Meine gezwungene Stellung nötigte sie, mich eine halbe Minute lang anzusehen; das war länger, als sich für eine Dame schickte, und mehr als genug, um mich zu entflammen.

Ich eilte an das Fenster meines Vorzimmers, das auf die Treppe ging, und bald sah ich sie vorüberlaufen, um ihre Begleiterinnen einzuholen. Als sie mir gegenüber war, drehte sie sich zufällig um und stiess bei meinem Anblick einen Schreckensschrei aus, als wenn sie ein Gespenst gesehen hätte; sie erholte sich jedoch sofort wieder, lief mit ausgelassenem Lachen weiter und begab sich zu den drei Damen, die schon in ihrem Zimmer waren.

Sterbliche, versetzt euch an meine Stelle und widersteht, wenn ihr könnt, einer so unerwarteten Begegnung, und ihr Fanatiker beharrt, wenn ihr den Mut habt, bei dem lächerlichen Plan, euch in einem Kloster zu begraben, wenn ihr gesehen habt, was ich am 23. April in Zürich sah!

Ich war so aufgeregt, dass ich mich auf mein Bett werfen musste, um wieder ruhig zu werden. Nach einigen Minuten stand ich wieder auf, ging halb willenlos an das Flurfenster und sah den Kellner aus dem Zimmer der Damen kommen.

«Kellner, ich werde im Speisesaal essen.» – «Wenn Sie dies tun, um die Damen zu sehen, so ist es zwecklos, denn diese lassen sich das Abendessen im Zimmer auftragen. Sie wollen früh zu Bett gehen, weil sie in aller Frühe abreisen.» – «Wohin reisen sie?» – «Nach Einsiedeln, wo sie ihre Andacht verrichten wollen.» – «Woher kommen sie?» – «Aus Solothurn.» – «Wie heissen sie?» – «Das weiss ich nicht.»

Ich legte mich wieder auf mein Bett und dachte darüber nach, wie ich an die schöne Amazone herankommen könnte.

Soll ich nach Einsiedeln gehen? Ja, was soll ich aber dort tun? Die Damen wollen dort beichten, kommunizieren, mit Gott, den Heiligen und den Mönchen Zwiesprache halten, was sollte ich dabei. Und wenn ich unterwegs dem Abt begegnete – was bliebe mir anders übrig, als wieder umzukehren? Hätte ich einen treuen Freund bei mir, so könnte ich mich in einen Hinterhalt legen und die Amazone entführen; dies wäre leicht gewesen, denn es war kein Mann bei ihr, um sie zu verteidigen. Wie wäre es, wenn ich sie ganz dreist zum Abendessen einlüde? Ja, aber diese schrecklichen drei Frauenzimmer! Man würde mich zurückweisen. Mir schien, die schöne Amazone könne nur oberflächlich fromm sein; denn aus ihrem Gesicht sprach Liebe zum Vergnügen, und ich hatte mich seit langer Zeit daran gewöhnt, die Frauen nach ihrem Mienenspiel zu beurteilen.

Ich wusste nicht, was ich anfangen sollte, als ich einen höchst glücklichen Einfall hatte. Ich stellte mich an das Flurfenster und blieb dort so lange, bis der Kellner vorüberkam. Ich liess ihn in mein Zimmer eintreten, drückte ihm zur Einleitung ein Goldstück in die Hand und sagte ihm, er möchte mir seine grüne Schürze leihen, denn ich wolle den Damen bei ihrem Abendessen aufwarten.

«Du lachst?» – «Ja, gnädiger Herr, über Ihre Laune, deren Zweck ich ahne.» – «Du bist ein Pfiffikus.» – «So sehr wie Sie einer. Ich werde Ihnen eine schöne, ganz neue Schürze holen. Die Hübsche hat mich gefragt, wer Sie seien.» – «Das kann sein, denn sie hat mich kurz gesehen, sicher wird sie mich nicht wiedererkennen. Was hast du ihr geantwortet?» – «Sie seien Italiener, weiter nichts.» – «Sei verschwiegen, und ich werde das Goldstück verdoppeln.» – «Ich habe Ihren Spanier gebeten, mir beim Aufwarten zu helfen, denn ich bin ganz allein und muss zugleich unten bedienen.» – «Schön; aber er darf nicht ins Zimmer kommen, denn der Bursche würde sich das Lachen nicht verhalten können. Er kann in die Küche kommen, du gibst ihm die Schüsseln, und er reicht sie mir an der Türschwelle.»

Der Kellner ging und kam gleich darauf mit einer Schürze und mit Leduc wieder, dem ich sehr ernst auseinandersetzte, was er zu tun hätte. Er lachte wie verrückt, versicherte mir jedoch, ich würde mit ihm zufrieden sein. Ich liess mir ein Vorlegemesser geben, tat mein Haar in einen Haarbeutel, schlug den Halskragen herunter und band die Schürze über meine scharlachrote goldbestickte Weste. Hierauf betrachtete ich mich im Spiegel und fand mit Befriedigung, dass ich gemein genug aussah, um die bescheidene Persönlichkeit vorzustellen, die ich spielen sollte. Ich war in freudiger Stimmung; denn ich sagte mir, da sie aus Solothurn wären, so müssten sie doch Französisch sprechen.

Leduc meldete mir, dass der Kellner gleich kommen werde. Ich ging in das Zimmer der Damen, musterte die gedeckte Tafel und sagte zu ihnen: «Man wird sofort auftragen, meine Damen.»

Die hässlichste von den vieren sagte mir: «Beeilen Sie sich nur, wir wollen schon vor Tagesanbruch aufstehen.» Ich rückte Stühle an den Tisch und sah die Schöne von der Seite an. Sie blickte mich an, als wenn sie versteinert wäre. Ich half dem Kellner die Schüsseln auf den Tisch setzen, und hierauf sagte er zu mir: «Hör mal, du, bleib hier; ich muss unten bedienen.»

Ich nahm ein Vorgericht und stellte mich meiner Amazone gegenüber hinter einen Stuhl, von wo aus ich sie unauffällig vorzüglich sehen konnte. Besser gesagt: ich hatte nur für sie Augen. Sie war erstaunt; die anderen beehrten mich nicht einmal mit einem Blick, und dies war das beste, was sie tun konnten. Nach der Suppe eilte ich zu ihr und wechselte ihren Teller; denselben Dienst verrichtete ich auch bei den anderen, worauf sie sich selber bedienten.

Während sie assen, nahm ich einen gepökelten Kapaun vor und zerlegte ihn kunstgerecht.

«Dieser Kellner», sagte meine Schöne, «bedient sehr gut. Sind Sie schon lange in diesem Gasthof?» – «Erst seit wenigen Wochen, Madame.» – «Sie servieren ausgezeichnet.» – «Madame sind sehr gütig.»

Ich hatte meine Manschetten von prachtvoller englischer Spitze in meine Ärmel hineingesteckt; aber die Hemdenkrause sah ein wenig aus der Weste hervor, die ich nicht sorgfältig zugeknöpft hatte. Sie bemerkte diese und rief: «Warten Sie, warten Sie!»

«Was wünschen Sie, Madame?» – «Lassen Sie doch mal sehen. Da haben Sie ja prachtvolle Spitzen.» – «Ja, Madame, das hat man mir gesagt; aber sie sind alt. Ein vornehmer italienischer Herr, der hier wohnte, hat sie mir geschenkt.» – «Haben Sie auch solche Manschetten?» – «Ja, Madame.»

Mit diesen Worten streckte ich meine Hand aus und knöpfte mit der anderen den Westenärmel auf. Sie zog langsam die Manschetten hervor und schien sich absichtlich so vorzubeugen, dass meine Blicke sich an ihrem Gesicht berauschen konnten. Welch köstlicher Augenblick! Ich wusste, dass sie mich wiedererkannt hatte, und als ich sah, dass sie darüber schwieg, empfand ich eine wirkliche Qual bei dem Gedanken, dass ich mit dieser Maskerade nur bis zu einem gewissen Punkt gehen konnte.

Als sie die Spitzen ziemlich lange betrachtet hatte, sagte ihre Nachbarin zu ihr: «Aber, meine Liebe, was für eine Neugier! Man sollte meinen, du hättest in deinem Leben noch keine Spitzen gesehen.»

Meine liebenswürdige Neugierige errötete.

Nach dem Essen zogen sich alle vier in eine Ecke zurück, um sich auszukleiden, während ich den Tisch abräumte, und meine Schöne begann zu schreiben. Ich gestehe, es fehlte nicht viel daran, so hätte ich in meiner Eitelkeit mir eingebildet, dass sie an mich schriebe; ich hatte aber doch eine zu gute Meinung von ihr, um nicht diesen Gedanken sofort zu verwerfen. Als ich abgedeckt hatte, stellte ich mich neben die Tür.

«Worauf warten Sie?» fragte die Schöne mich. – «Auf Ihre Befehle, Madame.» – «Ich danke Ihnen; ich brauche nichts.» – «Sie tragen Stiefel, Madame, und wenn Sie sich nicht etwa gestiefelt zu Bett legen wollen …» – «Da haben Sie allerdings recht; aber ich möchte Ihnen nicht die Mühe machen.» – «Bin ich denn nicht dazu da, Sie zu bedienen, Madame?»

Mit diesen Worten kniete ich vor ihr nieder und schnürte langsam ihre Halbstiefel auf, während sie ruhig weiter schrieb. Ich ging aber noch weiter: ich löste die Schnalle ihres Hosenbandes, um ihre Strümpfe herunterzuziehen, und weidete mich am Anblick und noch mehr am Betasten ihrer wundervoll geformten Waden; aber zu früh für meine Wünsche hörte sie auf zu schreiben, wandte den Kopf um und sagte: «Nun ist es aber genug, ich bemerkte gar nicht, dass Sie sich zu viel Mühe gaben; gehen Sie! Morgen abend werden wir uns wiedersehen.»

«Sie werden also hier zu Abend speisen, meine Damen?» – «Ja, gewiss.»

Ich nahm ihre Stiefel mit, indem ich sie fragte, ob ich die Tür verschliessen solle. «Nein, mein Lieber», antwortete sie, «lassen Sie den Schlüssel von innen stecken.»

Als Leduc die Stiefel der Fee mir abnahm, lachte er wie ein Besessener und sagte: «Sie hat Sie angeführt.» – «Wieso?» – «Ich habe alles gesehen, Monsieur. Sie spielten Ihre Rolle wie der beste Pariser Schauspieler, und ich bin überzeugt, morgen früh wird sie Ihnen einen Louis Trinkgeld geben; aber wenn Sie den nicht mir geben, plaudere ich die ganze Geschichte aus.» – «Da, du Spitzbube, da hast du ihn schon im voraus; lass mir schnell das Abendessen auftragen.»

Dies, lieber Leser, sind Freuden, die ich mir in meinem Alter nicht mehr verschaffen kann, die ich aber noch in der Erinnerung geniessen darf. Gewisse Unmenschen predigen die Reue, und närrische Philosophen erklären unsere Freuden für nichts als Eitelkeiten.

Ein barmherziger Traum liess mich die Nacht mit meiner Amazone verbringen, ein künstlicher, aber makelloser Genuss.

Quelle: Giacomo Casanova Chevalier de Seingalt: Geschichte meines Lebens, Hrsg. und kommentiert von Günter Albrecht in Zusammenarbeit mit Barbara Albrecht. Band 6, München: Verlag C. H. Beck 1985, S. 108–116.

Editorische Notiz: Casanovas Muttersprache war Italienisch, aber seine Schriften verfasste er auf Französisch, der bevorzugten Sprache der damaligen gebildeten Schichten. Die 3700-seitige Handschrift seiner Memoiren vermachte er kurz vor seinem Tod seinem Neffen. 1821 wurden sie an den Leipziger Verleger Friedrich Arnold Brockhaus verkauft. Der Text erschien im gleichen Jahr erstmals in gedruckter Form, allerdings stark zensiert und entstellt. Dennoch landete er sofort auf dem päpstlichen Index der verbotenen Bücher. Jahrzehntelang wurden nur stark bereinigte Fassungen veröffentlicht, die dann in Raubdrucken und eigenwilligen Übersetzungen erschienen. Die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg überstand das Manuskript unbeschadet (siehe Einleitung, Seite 12). Erst 1960 erschien die erste vollständige Ausgabe, eine erste englische Übersetzung 1966, gerade rechtzeitig im Umfeld der sexuellen Revolution.

2010 hat die Bibliothèque Nationale in Paris das Manuskript für die sagenhafte Summe von 7,5 Millionen Euro erworben – noch nie wurde ein höherer Preis für eine Handschrift bezahlt; die Lebenserinnerungen sind, wie Fachleute und Kuratoren attestieren, in einem wunderbaren und lebendigen Französisch verfasst. Und Blätter und Tinte sind so gut erhalten, dass es so aussieht, als hätte Casanova erst gestern das Löschpapier drauf gepresst. 2012 bis 2015 ist eine dreibändige kritische Gallimard-Ausgabe erschienen, die erstmals den ganzen, den unverfälschten Casanova zugänglich macht, wissenschaftlich kommentiert.

Von Casanova bis Churchill

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