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Ich murmelte fast immer das Wort «unterweltlich» vor mich hin, und ich glaube, dies Beiwort bezeichnet diesen Ort am besten.

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James Fenimore Cooper (1836)

Wer den Namen James Fenimore Cooper hört, denkt sogleich an die Lederstrumpf-Abenteuer, an Indianer, Prärie, Pioniere und Scouts – etwa in dieser Reihenfolge oder einer anderen. Der Amerikaner Cooper hat wie später Karl May die Vorstellungen vom «Wilden Westen» massgeblich mitgeprägt. Er war aber auch ein Kenner des Alten Europa, das er im Rahmen einer sehr ausgedehnten Grand Tour bereiste, die insgesamt sieben Jahre dauerte, von 1826 bis 1833. Der Anlass war Coopers Wunsch, seinen fünf Kindern eine europäische Erziehung und Ausbildung angedeihen zu lassen. Und so schiffte sich die kleine Reisegesellschaft am 1. Juni 1826 in New York ein: Cooper, seine Ehefrau Susan, die vier Töchter Susan, Caroline, Anne und Marie, der Sohn Paul und der Neffe William, der als Sekretär und Kopist tätig war.

Zweimal besuchte Cooper im Lauf dieser sieben Jahre die Schweiz, 1828 und 1832. Dabei blieb ihm genug Zeit, das Land in alle vier Himmelsrichtungen zu erkunden. Er absolvierte ein gewaltiges Programm auf den kanonischen Routen, inzwischen vorgespurt durch Generationen von Reisenden: Zürich, Luzern, Genf, Einsiedeln, die Hohle Gasse Tells, Rousseaus Sehnsuchtsorte am Genfersee, die Schlachtfelder von Morgarten und Sempach, die Blüemlisalp, die Taminaschlucht und dazu ein paar Dutzend weitere Wasserfälle, Seen und Berge.

Beim ersten Aufenthalt im Jahr 1828 richtete er sich mit seiner Familie für drei Monate in Bern ein. Er mietete ein Landhaus ausserhalb der Stadt, «La Lorraine» genannt, und unternahm von dort aus sternförmig mehrere ausgedehnte Exkursionen und Märsche, ausgerüstet mit Regenmantel, Wanderstock, Ebels Reiseführer und einem Vorrat an Schokolade. Eine erste Kurzreise führte ihn ins Berner Oberland, eine zweite an den Rheinfall und auf die Rigi, eine dritte nach Bad Pfäfers und Chur, die vierte an den Genfersee. Auf seinen Streifzügen verglich Cooper immer wieder die amerikanischen Landschaften mit den schweizerischen, ja für sein daheim gebliebenes amerikanisches Lesepublikum dachte er sich ganz besondere Strategien aus, wenn er etwa den Walensee ausgehend vom Panorama der Catskill Mountains beschreibt: «Sie brauchen nichts, als den höchsten Gipfel, den Round Top, abzuschlagen, bis eine etwas unregelmässigere Abdachung entsteht, sodann seiner Höhe noch die Hälfte hinzuzufügen, und ihn alsdann, längs dem Rand eines vollkommen klaren Gewässers, etwa zehn englische Meilen weit an beiden Seiten auseinander zu dehnen, die Felsen danach gelegentlich mit einigen Hütten, Dörfern, Alpenmatten zu verzieren, noch ein paar Dörfer unter den zackigen Abstürzen hinzubauen, dann wird Ihre Ansicht des Wallenstädtersees ziemlich vollständig dastehen.»

1832 weilte er für vier Wochen in Vevey und schrieb dort an einem Roman mit dem verheissungsvollen Titel Der Scharfrichter von Bern oder das Winzerfest (1833). Cooper hat darin wortgewaltig einen Schneesturm auf dem Grossen Sankt Bernhard (er unternahm extra eine Tour dorthin, um alles authentisch schildern zu können) und ein Gewitter über dem Genfersee beschrieben – das konnte er, war er doch selber jahrelang bei der Marine und hatte auch eine Reihe von Seeromanen geschrieben. Er galt als ein zweiter Vernet, als ein Maler von Seestürmen, wie ein Rezensent lobend anerkannte. Und bei seiner Beschreibung des Winzerfests in Vevey zeigt er wahrhafte Reporterqualitäten. Der Plot an sich ist dagegen nicht gerade als Meisterwerk zu bezeichnen; kein Wunder, wird der Roman heute kaum mehr gelesen. Schon ein zeitgenössischer Kritiker mokiert sich über die Länge des Romans und darüber, dass der «langweilige Mann aus den Vereinigten Staaten» nicht fertig werden kann: «Schon hundert Seiten sind wir damit beschäftigt, uns in den Kahn zu setzen und über den See zu fahren, aber immer hält noch etwas auf.»

Was hingegen die Lektüre sehr lohnt, ist seine Schilderung der Taminaschlucht bei Bad Pfäfers, die er konsequent als Gang in die Unterwelt gestaltet (siehe Originaltext). Als Cooper 1828 nach Bad Pfäfers kam, waren die grossen Modernisierungen noch nicht im Gang. Ein Bäderführer aus dem Jahr 1868 schildert die damaligen Zustände im Umfeld der heissen Quellen, dort, wo sich die Schlucht zu einem domartigen Gewölbe weitet: «Einzelne Bretter, meist nass und schlüpfrig, ohne Befestigung, ohne Geländer gegen die zu Füssen tobende Tamina, bildete den zitternden Steg, so dass noch Ebel, in seiner Anleitung, die Schweiz zu bereisen› dem Fremden anräth, den Besuch nur zwischen zwei hintereinander gehenden Männern, die nach der Tamina-Seite eine Stange tragen, dem Fremden zum Schutze dienend, zu wagen. Später wurde ein fester Brettersteg mit einer schützenden Rampe erstellt, allein er schwebte immer noch frei auf Tragbalken über der Tamina, war dem Steinfall ausgesetzt und wurde im Winter von herabfallenden Eismassen meist zertrümmert, endlich, war er zu schwach, die immer umfangreicheren Wasserleitungen für Pfäfers und Ragaz zu tragen.» Erst 1857 wurde ein Weg in den Fels gesprengt.


James Fenimore Cooper (1789–1851) auf einem Porträt von 1835.

Bad Pfäfers war eine Entdeckung aus dem Mittelalter (der Überlieferung nach sollen Jäger per Zufall auf das badewannenwarme Wasser von 36,5 Grad gestossen sein), sein Ruhm war weitherum verbreitet, es wurde später in einem Atemzug mit Baden-Baden, Budapest oder den Bädern von Wien genannt und galt als «Königin der Bäder im Abendland». Das kostbare Heil- und Kurwasser wurde in Fässern nach ganz Europa verschickt.

Anfangs badeten die Kranken direkt in der Schlucht, in Felswannen und hölzernen Bottichen. Wer konnte, stieg über Leitern ab, wer sich nicht traute oder körperlich nicht dazu in der Lage war, wurde in Körben herabgelassen. Die Patienten blieben manchmal zehn Tage ohne Unterbrechung im Wasser. Das heilende Nass sollte die Haut so auflösen, dass die Giftstoffe entweichen konnten, war die medizinische Idee hinter diesem Vorgehen. Ab 1350 wurden hölzerne Badehäuser quer über die Schlucht gebaut. Mitte des 15. Jahrhunderts badeten die Kurgäste noch sechs bis sieben Tage ununterbrochen im warmen Wasser. Eine einzige Nacht ausserhalb des Bades diente der Erholung. Unter anderem besuchte der todkranke Reformator Ulrich von Hutten 1523 die warmen Quellen von Bad Pfäfers, und der berühmte Paracelus war hier als Kurarzt tätig. Doch dann wurde der geniale Einfall umgesetzt, das Heilwasser mittels einer hölzernen Leitung über vier Kilometer aus der Schlucht heraus talabwärts zu leiten und dort Badeanlagen und Übernachtungsmöglichkeiten zu schaffen. Das war die Geburtsstunde des Kurorts Bad Pfäfers. 1704 bis 1718 wurden ausserhalb der Schlucht mehrere Gebäude erbaut, die zum Teil noch stehen – eine barocke Badeanstalt. In diesen Gebäuden übernachtete auch Cooper. Noch im 18. Jahrhundert badete man bis zu zehn Stunden täglich. Doch allmählich war das sogenannte Ausbaden überholt. Man liess sich mehr Zeit und fuhr zu einem drei- bis vierwöchigen Kururlaub. Gebadet wurde nun täglich einmal, aber nie länger als eine Stunde, in einem wollenen oder leinenen Badehemd. Danach legte man sich eine Viertelstunde ins Bett.

Der Badebetrieb wurde seit dem Mittelalter von Benediktinermönchen geleitet, bis in Coopers Zeit hinein – erst fünf Jahre nach seinem Ragazer Aufenthalt, 1838, wurde das Kloster säkularisiert. 1838/39 zog man die Leitung bis hinunter nach Bad Ragaz und erbaute zugleich eine neue Fahrstrasse.

Cooper schilderte das Ganze wie gesagt als Ausflug in die Unterwelt. Das funktioniert hervorragend, und der Romancier hat sichtlich Spass an der Ausschmückung mit Details bis hin zum Pferdefuss, den er unter einer schmutzigen Mönchskutte vermutet. Das Beste aber kommt zum Schluss, da geht die Fantasie vollends mit ihm durch. Um dem geneigten Leser, der geneigten Leserin eine möglichst präzise Vorstellung von der Taminaschlucht zu geben, vor allem von deren Tiefe, greift er erneut zu einem schweizerischamerikanischen Vergleich: Man stelle sich vor, der höchste Turm Amerikas stünde in dieser Schlucht, dann bekäme man eine ungefähre Idee. Das ist eine rätselhafte Stelle. Das erste amerikanische Hochhaus über 100 Meter wurde erst 1899 fertiggestellt, die Taminaschlucht ist aber bis zu 200 Meter tief. Welchen Turm könnte Cooper gemeint haben? Ein unterirdischer Wolkenkratzer in Bad Pfäfers, in jener urtümlichen Schlucht, das ist jedenfalls ein filmreifes Bild, das schon weit in die Zukunft weist.

Von Casanova bis Churchill

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