Читать книгу Von Casanova bis Churchill - Barbara Piatti - Страница 15
Heinrich von Kleists Brief an die Schwester Ulrike, 1802
ОглавлениеAuf der Aarinsel bei Thun, 1. Mai, 1802: Mein liebes Ulrikchen, ich muss meiner Arbeit einmal einen halben Tag stehlen, um dir Rechenschaft zu geben von meinem Leben; denn ich habe immer eine undeutliche Vorstellung, als ob ich dir das schuldig wäre, gleichsam als ob ich von deinem Eigenthume zehrte.
Deinen letzten Brief mit Inschriften u Einlagen von den Geliebten, habe ich zu grosser Freude in Bern empfangen, wo ich eben ein Geschäft hatte bei dem Buchhändler Gessner, Sohn des berühmten, der eine Wieland, Tochter des berühmten, zur Frau, u Kinder, wie die lebendigen Idyllen hat: ein Haus, in welchem sich gern verweilen lässt. Drauf machte ich mit Zschokke und Wieland, Schwager des Gessner, eine kleine Streiferei durch den Aargau – Doch das wäre zu weitläufig, ich muss dich überhaupt doch von manchen andern Wunderdingen unterhalten, wenn wir einmal wieder beisammen sein werden. – Jetzt leb’ ich auf einer Insel in der Aare, am Ausfluss des Thunersees, recht eingeschlossen von Alpen, ¼ Meile von der Stadt. Ein kleines Häuschen an der Spitze, das wegen seiner Entlegenheit sehr wohlfeil war, habe ich für sechs Monate gemiethet u bewohne es ganz allein. Auf der Insel wohnt auch weiter niemand, als nur an der andern Spitze eine kleine Fischerfamilie, mit der ich schon einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn sie Netze einzieht u auswirft. Der Vater hat mir von zwei Töchtern eine in mein Haus gegeben, die mir die Wirthschaft führt: ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt, wie ihr Taufname: Mädeli. Mit der Sonne stehn wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, bereitet mir die Küche, während ich arbeite für die Rückkehr zu euch; dann essen wir zusammen; Sonntags zieht sie ihre schöne Schwyzertracht an, ein Geschenk von mir, wir schiffen uns über, sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, u nach der Andacht kehren wir beide zurück. Weiter weiss ich von der ganzen Welt nichts mehr. Ich würde ganz ohne alle widrigen Gefühle sein, wenn ich nicht, durch mein ganzes Leben daran gewöhnt, sie mir selbst erschaffen müsste. So habe ich zum Beispiel jetzt eine seltsame Furcht, ich mögte sterben, ehe ich meine Arbeit vollendet habe. Von allen Sorgen vor dem Hungertod bin ich aber, Gott sei dank, befreit, obschon Alles, was ich erwerbe, so grade wieder drauf geht. Denn, du weisst, dass mir das Sparen auf keine Art gelingt. Kürzlich fiel es mir einmal ein, u ich sagte dem Mädeli: sie sollte sparen. Das Mädchen verstand aber das Wort nicht, ich war nicht im Stande ihr das Ding begreiflich zu machen, wir lachten beide, u es muss nun beim Alten bleiben. – Übrigens muss ich hier wohlfeil leben, ich komme selten von der Insel, sehe niemand, lese keine Bücher, Zeitungen, kurz, brauche nichts, als mich selbst. Zuweilen doch kommen Gessner, oder Zschokke oder Wieland aus Bern, hören etwas von meiner Arbeit, u schmeicheln mir – kurz, ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht, und eine grosse That. Denn das Leben hat doch immer nichts Erhabneres, als nur dieses, dass man es erhaben wegwerfen kann. – Mit einem Worte, diese ausserordentlichen Verhältnisse thun mir erstaunlich wohl, und ich bin von allem Gemeinen so entwöhnt, dass ich gar nicht mehr hinüber mögte an die andern Ufer, wenn ihr nicht da wohntet. Aber ich arbeite unaufhörlich um Befreiung von der Verbannung – du verstehst mich. Vielleicht bin ich in einem Jahre wieder bei euch. – Gelingt es mir nicht, so bleibe ich in der Schweiz, und dann kommst du zu mir. Denn wenn sich mein Leben würdig beschliessen soll, so muss es doch in deinen Armen sein. – Adieu. Grüsse, küsse, danke Alle. Heinrich Kleist.
N. S. Ich war vor etwa 4 Wochen, ehe ich hier einzog, im Begrif nach Wien zu gehen, weil es mir hier an Büchern fehlt; doch es geht so auch u vielleicht noch besser. Auf den Winter aber werde ich dorthin – oder vielleicht gar schon nach Berlin. – Bitte doch nur Leopold, dass er nicht böse wird, weil ich nicht schreibe, denn es ist mir wirklich immer eine erstaunliche Zerstreuung, die ich vermeiden muss. ln etwa 6 Wochen werde ich wenigstens ein Dutzend Briefe schreiben.
Quelle: An Ulrike von Kleist (Brief Nr. 68). In: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke, Band 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811. Herausgegeben von Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns. Frankfurt am Main: © Deutscher Klassiker Verlag 1997, S. 305–307.