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Auszüge aus Lord Byrons Tagebuch an Augusta, 1816
ОглавлениеClarens, 18. Sept. 1816: Gestern, den 17. September 1816 – bin ich (mit Hobhouse) zu einem Ausflug in die Berge von ein paar Tagen aufgebrochen. Ich will ein kurzes Tagebuch führen und die Ereignisse jeden Tages für meine Schwester Augusta aufzeichnen.
17. Sept.: Um fünf aufgestanden; verliessen Diodati ungefähr um sieben in einer der Landkutschen (einer Charaban3), unsere Diener zu Pferd: Wetter herrlich; der See ruhig und klar; Mont Blanc und die Aiguille von Argentieres beide sehr deutlich zu sehen; die Seeufer schön. In Lausanne vor Sonnenuntergang angekommen; angehalten und in Ouchy geschlafen.
H. ging fort, um mit einem Herrn Okeden zu Abend zu essen. Ich blieb in unserer Karawanserei (obwohl in das Haus von H.’s Freund eingeladen – zu faul oder müde, oder sonst etwas, um hinzugehen) und schrieb einen Brief an Augusta. Ging um neun ins Bett – Leintücher feucht: fluchte, zog sie heraus und warf sie – der Himmel weiss wohin: wickelte mich in die Wolldecken ein und schlief wie ein Kind von einem Monat bis fünf Uhr des [Satzende].
19. Sept.: Um fünf aufgestanden: den Wagen herumgeschickt. Die Berge bis Montbovon zu Pferd überquert und auf Maultieren und, wegen des Kletterns, auch zu Fuss; die ganze Strecke schön wie ein Traum, und jetzt für mich fast genauso verschwommen. Ich bin so müde; denn, obgleich gesund, habe ich doch nicht die Kräfte wie noch vor wenigen Jahren. In Mont Davan frühstückten wir; nachher an einem Steilhang abgestiegen, gestürzt und einen Finger aufgerissen; das Gepäck machte sich ebenfalls los und fiel eine tiefe Schlucht hinunter, bis ein grosser Baum es aufhielt: fluchte; holte das Gepäck; Pferd müde und stolprig; stieg auf ein Maultier. Als wir uns dem Gipfel des Dent Jamal näherten, mit H. und der ganzen Gesellschaft wieder abgestiegen. Kamen zu einem See, so richtig in der Brustwarze der Brust des Berges; liessen unsere Vierbeiner bei einem Schäfer und stiegen weiter; kamen zu einigen Überbleibseln Schnee, auf den der Schweiss von meiner Stirn fiel wie Regen, er durchlöcherte ihn wie ein Sieb: die Kälte des Windes und des Schnees machte mich schwindlig, aber ich kletterte weiter und immer höher. H. ging bis auf die höchste Zinne; ich nicht, sondern blieb einige Yards unterhalb (wo der Felsenhang eine Öffnung hat). Beim Heruntersteigen stürzte der Führer dreimal; ich fing an zu lachen und stürzte auch – der Abstieg ist glücklicherweise weich, wenn auch steil und schlüpfrig: H. fiel auch, aber niemand verletzt. Der Berg als Ganzes ist prächtig. Ein Schäfer auf einem sehr hohen und steilen Felsen spielte auf seiner Flöte; sehr verschieden von Arkadien (wo ich die Hirten mit langen Musketen statt Stäben und Pistolen in den Gürteln gesehen habe). Die Flöte unseres Schweizer Hirten war süss und seine Melodie wohltuend. Sah eine verlaufene Kuh; man sagte mir, dass sie sich an und über den Felsenspitzen oft die Hälse brechen. Stiegen nach Montbovon hinunter; hübsches, mageres Dörfchen, mit einem wilden Fluss und einer hölzernen Brücke. H. ging Fischen – fing einen. Unser Wagen nicht da; unsere Pferde, Maultiere, etc. ausgepumpt; wir selbst todmüde; aber um so besser – ich werde schlafen.
Die Aussicht vom höchsten Punkt der heutigen Reise umfasste auf der einen Seite den grössten Teil des Lac Léman, auf der anderen die Täler und Berge des Kantons Fribourg und eine unermessliche Ebene mit den Seen von Neuchâtel und Morat, und alles, was die Ufer von diesen und des Genfersees erben: an einem Aussichtspunkt hatten wir beide Seiten des Jura vor uns, mit Alpen die Menge. Als wir an einem Felsrutsch vorbeikamen, empfahl uns der Führer dringend, schneller zu gehen, da die Steine mit grosser Geschwindigkeit fallen und gelegentlich Schaden anrichten: der Rat ist ausgezeichnet, aber, wie guter Rat meistens, undurchführbar, weil die Strasse an dieser bestimmten Stelle so unwegsam ist, dass weder Maultiere, noch Menschen, noch Pferde sich schneller vorwärtsbewegen konnten. Ohne Brüche oder Gefahr davon durchgekommen.
Die Musik der Kuhglocken (denn ihr Reichtum, wie der der Patriarchen, besteht in Vieh) auf den Weiden, (die weit höher hinaufreichen als jeder Berg in England), und die Hirten, die uns von Felsenspitze zu Felsenspitze zuriefen und auf ihren Rohrflöten spielten, an Steilhängen, die fast unerreichbar schienen, mit der Landschaft, die uns umgab, verwirklichte alles, das ich je von einem Hirtendasein gehört oder mir vorgestellt habe: – viel mehr als Griechenland oder Kleinasien, denn dort sind wir ein bisschen zu sehr von der Zunft der Säbel und Musketen; und wenn da ein Stab in der einen Hand ist, kann man sicher sein, ein Gewehr in der anderen zu sehen: – aber dies war rein und ungetrübt – einsam, wild und patriarchalisch: die Wirkung kann ich nicht beschreiben. Als wir fortgingen, spielten sie den «Ranz des Vaches» und andere Weisen, als Lebewohl. Ich habe letzthin meinen Geist mit Natur neu bevölkert.
20. Sept.: Auf um 6. Fort um 8. Die ganze heutige Reise in einem Durchschnitt von zwischen zweitausendsiebenhundert und dreitausend Fuss über dem Meeresspiegel. Dieses Tal, das längste, schmälste, das man für eines der schönsten der Alpen hält, wird selten von Reisenden durchquert. Sah die Brücke von La Roche. Das Flussbett sehr weit unten und tief, zwischen ungeheuren Felsen, und reissend wie der Zorn; – ein Mann und ein Maultier sollen hinuntergestürzt sein, ohne Schaden zu nehmen (das Maultier hat auf alle Fälle Glück gehabt; bevor ich nicht den Mann kenne, werde ich mich hüten, von ihm das gleiche zu sagen). Die Leute sahen frei und glücklich und reich aus (das letztere schliesst keins der ersteren ein): die Kühe prächtig; ein Stier sprang beinahe in die Charaban – «angenehmer Gefährte in einer Postchaise»; Geissen und Schafe sehr gut gedeihend. Ein Berg mit riesigen Gletschern zur Rechten – der Kletsgerberg; etwas weiter der Hockthorn – nette Namen – so weich! – Hockthorn, glaube ich, sehr hochragend und zerklüftet, nur stellenweise mit Schnee bedeckt; keine Gletscher darauf, aber einige gute Wolkenepauletten.
Die Grenze passiert, aus dem Vaud heraus und in den Kanton Bern; das Französische mit einem schlechten Deutsch vertauscht; der Bezirk berühmt für Käse, Freiheit, Besitz und keine Steuern. […] Zum Fluss geschlendert: sah Buben und kleinen Ziegenbock; Böcklein folgte ihm wie ein Hund; Böcklein konnte nicht über einen Zaun kommen und blökte mitleiderregend; versuchte selbst, dem Böcklein zu helfen, wäre aber bald mit ihm in den Fluss gefallen. Ungefähr um sechs Uhr abends hier angekommen. Neun Uhr – im Begriff, ins Bett zu gehen. H. im Nebenzimmer hat sich den Kopf an der Tür angeschlagen und natürlich gegen alle Türen gewettert; heute nicht müde, hoffe aber doch zu schlafen. Frauen plappern drunten: lesen eine französische Übersetzung von Schiller. Gute Nacht, liebste Augusta.
21. Sept.: Früh fort. Das Tal von Simmenthal wie vorher. Der Eingang in die Ebene von Thoun sehr eng; hohe Felsen, bis zur Spitze bewaldet; Fluss; neue Berge, mit grossartigen Gletschern. See von Thoun; weite Ebene mit einem Gürtel von Alpen. Ging hinunter zum Chateau de Schadau; Aussicht den See entlang: überquerte den Fluss in einem Boot, das von Frauen gerudert wurde: Frauen kamen mir jetzt zum erstenmal wieder in den Sinn. Thoun ist eine sehr hübsche Stadt. Die Reise des ganzen Tags war im Hochgebirge und stolz.
22. Sept.: Thoun in einem Schiff verlassen, das uns in drei Stunden über die ganze Länge des Sees brachte. Der See klein; aber die Ufer schön: Felsen bis hinunter zur Wasserfläche. In Neuhause gelandet; an Interlachen vorbeigekommen; dort beginnt eine Kette von Landschaftsbildern, die jede Beschreibung oder Vorstellung übertreffen. An einem Felsen vorbei; Inschrift – 2 Brüder – der eine ermordete den anderen; just der Ort dafür. Nach immer neuen Windungen kamen wir zu einem riesigen Felsen. Mädchen mit Früchten – sehr hübsch; blaue Augen, gute Zähne, sehr helles Haar: ein langes, aber gut geschnittenes Gesicht – erinnerte mich ziemlich an Fanny.4 Kaufte ein paar von ihren Birnen, und klopfte sie auf die Wange; der Ausdruck ihres Gesichts sehr mild, aber gut und gar nicht kokett. Am Fuss des Berges (der Yungfrau, d. h. das Mädchen) angekommen; Gletscher, Giessbäche; einen dieser Giessbäche sieht man von neunhundert Fuss Höhe herunterfallen. Beim Pfarrer untergebracht. Aufgebrochen, um das Tal zu sehen; hörte eine Lawine fallen, wie Donner; sah den Gletscher – ungeheuer. Sturm kam auf, Donner, Blitz, Hagel; alles ganz vollkommen und schön. Ich war zu Pferd; der Führer wollte meinen Stock tragen; ich wollte ihn gerade übergeben, als mir einfiel, dass es ein Stockdegen ist, und ich dachte, der Blitz könnte von ihm angezogen werden; behielt ihn selbst; reichlich behindert damit (und mit meinem Wettermantel), da er zu schwer war, um als Peitsche gebraucht zu werden, und das Pferd war dumm und blieb bei jedem zweiten Donnerschlag stehen. Angekommen, nicht sehr nass; der Mantel ist wasserdicht. H. durch und durch nass; H. suchte Zuflucht in einer Hütte, sandte ihm einen Mann, Schirm und Mantel nach (vom Pfarrer, sobald ich dort war). Das Haus des Schweizer Pfarrherrn ist wirklich sehr gut – viel besser als die meisten englischen Pfarrhäuser. Es ist direkt gegenüber dem Giessbach, von dem ich sprach. Der Giessbach krümmt sich über den Felsen in einer Form wie der Schweif eines weissen Pferdes, der im Wind flattert, so wie man sich den des «fahlen Pferdes» vorstellen könnte, auf dem der Tod reitet, in der Apokalypse. Es ist weder Nebel noch Wasser, sondern etwas zwischen beidem; seine ungeheure Höhe (neunhundert Fuss) gibt ihm eine Welle, eine Krümmung, ein Spreiten hier, ein Verdichten da, wunderbar und unbeschreiblich. Ich glaube, dass dieser Tag, im ganzen genommen, ergiebiger war als alle anderen dieses Ausflugs.
23. Sept.: Vor der Bergbesteigung ging ich (7 Uhr morgens) nochmals zu dem Giessbach; die Sonne darauf bildete aus dem unteren Teil einen Regenbogen aller Farben, aber hauptsächlich Purpur und Gold; der Bogen bewegt sich, wie man sich bewegt; ich habe nie etwas Ähnliches gesehen; das gibt es nur im Sonnenschein. Bestiegen den Wengenberg; mittags erreichten wir ein Tal auf der Gipfelhöhe; liess die Pferde stehen, nahm meinen Mantel ab und ging zum Gipfel hinauf, 7000 Fuss (englische Fuss) über dem Meeresspiegel, und ungefähr 5000 über dem Tal, das wir am Morgen verlassen hatten. Unsere Aussicht umfasste auf der einen Seite die Jungfrau mit allen ihren Gletschern; dann den Dent d’Argent, strahlend wie die Wahrheit; dann den kleinen Giganten (den kleinen Eigher); und den grossen Giganten (den Grossen Eigher) und nicht zuletzt das Wetterhorn. Die Höhe der Jungfrau ist 13 000 Fuss über dem Meeresspiegel, 11 000 über dem Tal; sie ist die höchste dieser Kette. Nahezu alle fünf Minuten hörten wir Lawinen hinunterstürzen – wie wenn Gott den Teufel vom Himmel herab mit Schneebällen bewerfen wollte. Von unserem Standort aus, der Wengen Alp, konnten wir all dies auf der einen Seite sehen: auf der anderen stiegen die Wolken aus dem gegenüberliegenden Tal auf und krausten sich zu senkrecht aufragenden Felsschroffen wie der Schaum des Ozeans der Hölle während einer Springflut – er war weiss und schwefelgelb und schien unermesslich tief. Die Seite, die wir hinaufstiegen, fiel (natürlich) nicht so jäh ab; aber als wir auf dem Gipfel ankamen, blickten wir auf der anderen Seite in ein kochendes Wolkenmeer hinunter, das gegen die Felsen anspritzte, auf denen wir standen (diese Felsen waren auf einer Seite fast völlig lotrecht). Blieben eine Viertelstunde; begannen den Abstieg; fast frei von Wolken auf dieser Seite des Berges. Als wir durch die Schneemassen kamen, machte ich einen Schneeball und bewarf H. damit.
Kamen wieder zu unseren Pferden hinunter; assen etwas; stiegen auf; hörten immer noch die Lawinen; kamen zu einem Sumpf; H. stieg ab; H. kam gut hinüber: ich versuchte, mein Pferd darüber zu lenken, das Pferd versank bis zum Kinn, und natürlich waren es und ich zusammen im Schmutz; über und über beschmiert, aber unverletzt; lachte und ritt weiter. Kamen in Grindelwald an; assen zu Abend, stiegen wieder auf und ritten zu einem höheren Gletscher – Zwielicht, aber deutlich erkennbar – sehr schöner Gletscher, wie ein zu Eis erstarrter Orkan. Sternenlicht, wunderschön, aber ein verflixter Weg! Trotzdem sicher heimgekommen; etwas Blitzen; aber der ganze Tag, was das Wetter betrifft, so herrlich wie der, an dem das Paradies gemacht wurde. An ganzen Wäldern verdorrter Kiefern vorbeigekommen, alle verdorrt; Strünke kahl und ohne Rinde, Zweige leblos; geschehen in einem einzigen Winter – ihr Aussehen erinnerte mich an mich und meine Familie.
24. Sept.: Aufgebrochen um sieben; auf um fünf. Am schwarzen Gletscher vorbei, den Berg Wetterhorn zur Rechten; überquerten den Scheideckberg; kamen zum Rosengletscher, der der grösste und schönste der Schweiz sein soll. Ich halte den Bossons-Gletscher in Chamouni für genauso schön; H. nicht. Kamen zum Reichenback Wasserfall, zweihundert Fuss hoch; hielten an, um die Pferde ruhen zu lassen. Erreichten das Tal von Oberhasli; es begann zu regnen; etwas durchnässt; aber doch nur 4 Stunden Regen in 8 Tagen. Kamen zum See von Brientz, dann zu der Stadt Brientz; zogen uns um. H. stiess sich den Kopf an der Türe an. Am Abend kamen vier Schweizer Bauernmädchen aus Oberhasli und sangen Lieder aus ihrer Gegend; zwei der Stimmen schön – die Melodien auch; sie singen auch diese Tyroler Weise und das Lied, das Du, Augusta, so liebst, weil ich es liebe – und das ich liebe, weil Du es liebst; sie singen noch, Liebste, Du weisst nicht, wie mir das gefallen würde, wenn Du bei mir wärst. Die Weisen sind so wild und eigenartig und zugleich von grosser Anmut. Der Gesang ist vorbei: aber von unten höre ich die Klänge einer Fiedel, die mir für meinen Schlaf heut Nacht nichts Gutes prophezeien. Der Härr helfe uns – ich werde hinuntergehen und dem Tanzen zuschauen.
25. Sept.: Die ganze Stadt Brientz war scheint’s in den Räumen unten versammelt; hübsche Musik und vorzügliches Walzertanzen; nichts als Bauern; das Tanzen viel besser als in England; die Engländer können nicht Walzer tanzen, konnten es nie und werden es auch nie können. Ein Mann behielt die Pfeife im Mund, tanzte aber so gut wie die anderen; einige andere Tänze, zu zweien und zu vieren, und sehr gut. Ich ging zu Bett, aber die Lustbarkeit war bis spät und früh im Gange. Brientz ist nur ein Dorf. Früh aufgestanden. Auf den Brientzer See hinausgefahren, in einem langen Kahn, der von Frauen gerudert wurde (eine sehr jung und sehr hübsch – setzte mich zu ihr und fing auch an zu rudern): nach kurzer Zeit legten wir an, und wieder sprang eine Frau herein. Es scheint hier Sitte zu sein, dass die Kähne von Frauen bemannt werden: denn von fünf Männern und drei Frauen in unserem Boot nahmen alle Frauen ein Ruder und nur ein Mann.
[…] Am Abend erreichten wir Thoun: das Wetter war den ganzen Tag recht erträglich; aber da der wilde Teil der Tour vorüber ist, ist es uns gleich: während des wünschenswerten Teils haben wir wirklich sehr viel Glück gehabt, was Wärme und Durchsichtigkeit der Atmosphäre betrifft, und dafür «wollen wir den Herrn loben»!
Quelle: Byron in seinen Briefen und Tagebüchern, dargestellt von Cordula Gigon. Zürich: Artemis Verlags-AG 1963, S. 354–362.