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KAPITEL 7: GERETTET

FAMILIE

Da stand ich nun. Eben war ich an der Hauptstrasse angekommen, von der mir Maria erzählt hatte. Die Sonne stand hoch am Himmel, senkrecht über mir. Sie wärmte meine Haut. Mein nasses Kleid klebte an meinem Körper. Ich ging in die Hocke, richtete meinen Blick nachdenklich auf den Boden, als ich vor mir eine Ameise entdeckte. Beim näheren Hinschauen sah ich eine ganze Ameisenstrasse. Es waren grosse, schwarze Ameisen. Sie folgten einander, gingen im Gänsemarsch. Zwischen ihnen liessen sie nur sehr wenig Abstand. Ich rückte mein Gesicht näher an den Boden. Dabei sah ich eine doppelte Ameisenstrasse – eine Ameisenautobahn! Die zwei Kolonnen bewegten sich in entgegengesetzter Richtung. Von denen, die zu meiner linken Seite liefen, waren die meisten beladen. Die, die in entgegengesetzter Richtung liefen, waren ballastfrei. Manche von ihnen mussten ausweichen, wenn aus dem Gegenverkehr ein Fuder in ihre Spur ragte. Während der ganzen Zeit, in der ich diese Insekten beobachtete, kam es nie zum Zusammenstoss. Ich versank in Gedanken. Wie konnte es sein, dass diese Wesen so dicht aneinander vorbei marschieren konnten, ohne dass es je zu Berührungen kam? Wie war der Tross organisiert, wer steuerte ihn? Es schien, als würde jede einzelne Ameise auf ihre Kolleginnen bewusst Rücksicht nehmen. Und wie war es möglich, dass manche von ihnen Lasten mit sich trugen, die dreimal so gross waren wie ihre eigene Körperlänge? Woher kamen die Beladenen und wohin steuerten die Rückkehrerinnen? Diese Frage liess mir keine Ruhe. Ich stand auf und folgte der Insektenautobahn. Sie führte über die unbefahrene, scheinbar verlassene Strasse, die mein Ziel gewesen war. Auf der anderen Seite musste sich die Schlange über einen kaputten Randstein hoch- beziehungsweise hinunterwinden. Scheinbar mühelos überwanden die zwei Kolonnen – die eine im Steigen, die andere steil abwärts – diese Hürde, um in die Böschung zu gelangen, wo sich ihr Nest befand. Das künstliche Hindernis hatte keinerlei Einfluss auf ihre Formation, weder auf den Zwischenraum noch auf die Spur, von der keine auch nur einen Millimeter abwich. Ungestört folgte jede Ameise der Ameise vor ihr, die wiederum der Ameise vor ihr folgte. Offensichtlich vertraute jede Ameise auf den „Vordermann“ im Wissen, dass sie so ans Ziel gelangte. Ich kauerte mich vor dem Ameisenhaufen erneut auf den Boden. Ich vergass meinen Hunger und mein nassklebendes Kleid. Einmal am Fuss des Haufens angelangt, löste sich die Einerkolonne auf und die Ameisen verteilten sich über den Haufen, um darin zu verschwinden. Unbeirrt bewegte sich jedes einzelne Tier ohne innezuhalten zielstrebig zu dem, was wohl ihr zugeteilter Arbeits- oder Lagerplatz war.

Je länger ich dem Treiben zuschaute, desto tiefer zog mich dieses Schauspiel in seinen Bann. Ich begann, diese Insekten zu beneiden. Dieser Fleiss, dieser Zusammenhalt. Ich sah hier eine grosse Familie – einen Staat, in dem jedes Wesen seinen Platz hatte und eine Aufgabe im Dienst der Allgemeinheit erfüllte. Unbeirrt und wie selbstverständlich ging jedes Insekt einer für es sinnigen Arbeit nach. Ohne Unterdrückung, ohne Schmerz oder Angst. Im Sommer wurde wohl draussen gearbeitet, um – so vermutete ich – im Winter genug Proviant zu haben, unter der Schneedecke zu überwintern und den nächsten Frühling zu erleben.

In Gedanken versunken wurde ich von einem Motorengeräusch abgelenkt. Ich sah einen blauen Kleintransporter, der sich näherte. Dunkle Bilder kamen mir in den Sinn. Ich machte mich klein, damit mich beim Vorbeifahren niemand sehen konnte.

Das Fahrzeug rauschte vorbei. Doch halt! Ich musste eine Fahrgelegenheit finden und in die Stadt gelangen, wo ich eine Unterkunft und Nahrung finden – vielleicht gar ein neues Leben beginnen – konnte. Als das nächste Auto nahte – ich konnte einen Personenwagen erkennen – fasste ich meinen ganzen Mut zusammen, rannte auf die Strasse und setzte mich mitten auf die Fahrbahn. Das, womit ich instinktiv gerechnet hatte, traf ein. Das Auto hielt an. Eine aufgeregte Frau stiess ihre Autotür auf, verliess den Fahrersitz und schritt in meine Richtung. Als wir uns von Angesicht zu Angesicht standen, musterte mich die Fahrerin. Dabei beobachtete ich bei ihr ein leichtes Verkrampfen der Gesichtszüge, als hätte sie das Weinen zurückhalten wollen. Ganz nah bei mir setzte sie ein Knie auf den Boden und sprach mich an – bot mir ihre Hilfe an. Sie half mir hoch, begleitete mich auf dem Weg zu ihrem Wagen und wies mich an, mich auf den Rücksitz zu setzen. Dann ging sie zum Kofferraum, öffnete die Klappe und zog eine Decke heraus, die sie mir um meine Schultern legte.

KIESELWEG


Meine Retterin setzte sich ans Steuer und wir fuhren los. Sie trug eine Kurzhaarfrisur, gab eine gepflegte Erscheinung ab. Lange blieb sie wortlos. Auch ich schwieg. Nach einer zehnminütigen Fahrt begann die Frau, mir Fragen zu stellen.

Ich sass auf dem rechten Rücksitz. Mein Blick richtete sich auf ihren hinteren, rechten Gesichtsteil. Als sich ihr Unterkiefer bewegte, fiel mir in der Mitte ihrer Schädelbasis, an ihrem Haaransatz, eine zehn Millimeter lange, im Schatten des Autodaches kaum wahrnehmbare, drei Millimeter breite, leichte Erhöhung auf. Jedes Mal, wenn sie ihren Kiefer nach unten bewegte, konnte ich die Erhebung an ihrem Kopf beobachten. Die Fahrerin wollte wissen, woher ich kam, warum ich allein am Strassenrand stand, wo meine Eltern waren und warum ich keine warmen Kleider anhatte … Ich blieb stumm. Sie schien darüber nicht sehr erfreut, blieb dennoch ruhig und ihr Tonfall freundlich. Jetzt hatte sie aufgehört zu reden. Nach etwa dreissig Minuten Fahrt fuhren wir auf den Vorplatz eines grossen, alten Herrenhauses. Ich wusste nicht, wo wir uns befanden. Durch die Ereignisse der letzten Tage war mir die Orientierung abhandengekommen. Wir stiegen aus. Die Frau sah mich wortlos mit einem sanften Blick an. Dann drehte sie sich zum Haus und schritt in Richtung der Haustüre. Katharina, so hatte sich meine Retterin vorgestellt und dann: „Sag Kathi zu mir“. Sie bewegte sich auf dem feinen, von Buchsarabesken befriedeten Kieselweg auf die schwere, dunkelbraune Haustüre zu. Ich folgte ihr andächtig. Ich schaute um mich herum, als wollte ich die Umgebung einsaugen. Die Pforte stammte aus der Jugendstilzeit. Das hohe Türschild verfügte, wohl zum Zweck des Lichteinlasses, über zwei farbige Glasfüllungen. Ich folgte Kathi auf dem Schritt. Als wir vor der Türe standen, konnte ich in der farbigen Verglasung zwei Fischreiher erkennen, die sich symmetrisch gegenüber standen. Zwischen ihnen stand ein blau-gelbes, geteiltes Kreuz. Viel später begriff ich erst, wo ich angekommen war. Der Reiher stand im Wappen von Volevcice (Wolepschitz) im Kreis Most, im tschechischen Grenzgebiet zu Deutschland. Wie ich später erfuhr, stand diese Villa zwei Kilometer ausserhalb des Dorfkerns der kleinen Ortschaft.

MEIN ZIMMER

Ich hatte schon lange niemanden mehr getroffen, der sich so um mein Wohl gesorgt hatte, und fragte mich: War das alles nur ein Traum? Würde es ein schlimmes Erwachen geben?

Ich folgte Kathi und ging über die Türschwelle. Der Eingang war ein kleiner Raum. Zu meiner Linken eine Garderobe mit vier, fünf Kleidungsstücken. Die rechte Seite war mit Holztafeln belegt. Der Keramikboden war exklusiv, zumindest hatte ich einen solchen noch nie gesehen. Danach schritten wir in die Eingangshalle. Das war überwältigend. Meine Augen wollten diese Pracht erfassen. Doch sie waren zu klein dazu. Ich blieb stehen und liess meinen Blick durch das exklusive Interieur schweifen. An den Wänden, links und rechts von mir, hingen grosse, meist dunkle Bilder mit strengen Männern. Die Wandflächen zwischen den Bilderrahmen waren mit schweren Stoffbahnen behangen. Dann richtete ich meine Augen geradeaus, blickte nach oben, auf die Galerie. Sie stand im Licht dreier von feinen Rundsäulen gerahmten Bogenfenstern. Darüber an den hohen Wänden jeweils eine orangefarbene Draperie assortiert zum Teppich der Empore.

Kathi war vorausgegangen und stand schon oben. Sie rief mich zu sich. Ich begann, die mit einem tiefen rostroten Teppich belegte Treppe in Richtung Galerie zu beschreiten. Oben angekommen griff Kathi meine schmutzige Hand. Sie führte mich entlang der Galerie in ein übergrosses Zimmer. „Hier wirst du schlafen“, sagte sie zu mir. Wir gingen weiter zu einer angelehnten Tür, die auf der anderen Seite des Raumes in einer Ecke angeordnet war. Sie stiess sie auf. Vor mir war das Badezimmer. Wände und Böden waren in Rosamarmor gehalten. Eine Badewanne! – Sie stand auf Füssen mit Zehen – ein breites Lavabo und ein Spül-WC. Die Wäschehalter waren frisch mit Frottee-Wäsche bestückt. Zurück im Zimmer nahm ich das Bett in mein Blickfeld. Es verfügte über einen kleinen Baldachin. Der seidenglänzende, straffgezogene Bettüberzug war faltenfrei. Darüber ein sorgfältig hingelegtes Nachthemd, das darauf wartete, angezogen zu werden.

Wir näherten uns einem Kleiderschrank. Kathi öffnete ihn. Es knarrte schaurig. Dabei erinnerte mich dieses durchdringende Geräusch an einen Schrank, den Mama immer nur mit diesem gleichen Krachen aufbrachte. Es war auch der Schrank, aus dem Onkel Jakub an meinem letzten Tag zu Hause die Wodkaflasche und die zwei Gläser herausgenommen hatte. Ich entdeckte mehrere Unterteilungen mit Kinderkleidern. „Zieh dir nach deinem Bad an, was dir passt und gefällt“, flüsterte mir Kathi zu.

Es war, als wäre ich erwartet worden. Doch wie konnte das sein? Katharina war doch eine rein zufällige, wenn auch, so wie es aussah, glückliche Begegnung, oder … Oder Kian?

ELISABETH

Katharina erfasste mein Staunen und beschloss, ohne länger zuzuwarten, das Geheimnis zu lüften. Mein Kleid war inzwischen getrocknet und Katharina hatte eine Stola aus dem Schrank gezogen. Sie legte sie mir über die Schultern, streckte ihre beiden Arme zu mir und fasste meine schmutzigen Hände. Sie zog mich sanft zum Bettrand, wo wir uns setzten. Sie schaute mir in die Augen und begann, von ihrer Tochter zu erzählen. Eigentlich hätte ich gerne ein Bad genommen. Doch ich widersprach ihr nicht. Elisabeth war vierzehn Jahre, als sie genau zwölf Monate zuvor von ihrem Pferd abgeworfen wurde. Das Tier war durchgebrannt, als in der Nähe ein Schuss abgegeben wurde, so die spätere Aussage eines zehnjährigen Hirtenknaben, der seine Schafe in der Nähe hütete. Es wurde vermutet, dass von Wilderen geschossen worden war, die auf Entenjagd waren. Elisabeth starb, ohne mit ihrer Mutter je noch gesprochen zu haben. Die Schuldigen konnten nicht ermittelt werden. Zudem lagen keine eindeutigen Beweise für diese Annahme vor. Elisabeth war die jüngste von drei Geschwistern. Jan war jetzt fünfzehn und wohnte noch im Elternhaus. Christiane, neunzehn, studierte in Prag.

Katharina eröffnete mir, dass ich ihrer verstorbenen Tochter sehr ähnlich sah. Auch erzählte sie mir von ihrem Schock, als sie mich zum ersten Mal auf der Strasse erblickt hatte. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, ihre Tochter wiederzusehen.

Während sie am Reden war, machte sie mir den Vorschlag, bei ihr wohnen zu bleiben, solange ich es wollte.

Ein Wunder war geschehen. Ich war in einem schönen, grossen Haus. War in einer Familie angekommen, die mich willkommen hiess, war in Sicherheit und hatte endlich ein freies Leben. Ohne lange zu überlegen, nickte ich Kathi zu. Sie nahm mich in ihre Arme und drückte mich innig an ihrem Körper. Danach stand sie auf und sagte noch einmal: “Nimm ein warmes Bad, wir essen in einer halben Stunde“. Sie drehte sich um, wandte sich zur Zimmertür und ging aus dem Raum. Mein dreizehnter Geburtstag stand bald bevor, und ich war nicht mehr allein.

SALVATION

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