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KAPITEL 2: NEUES LEBEN

MISSION NR. 8

Wir schreiben Freitag, den 24. April 2088. Nur noch eine kleine Minderheit der Erdenmenschen richtet sich nach dem christlichen, gregorianischen Kalender. Jetzt stehe ich hier, am Ende meines achten Lebens angekommen. Bevor ich mich verabschiede, blicke ich zurück, halte meine Erlebnisse, Erfahrungen und andere wichtige Beobachtungen eines knapp hundertjährigen irdischen Daseins fest, von denen ich meinem Herrn anschliessend berichten werde.

Nach meinem vermeintlich definitiven Abschied vom Planeten Erde im Jahr 1963 war es mir beschieden, erneut die Zeit eines Menschenlebens hier zu verbringen. Seit meinem letzten Erdbesuch hatte sich der Planet so verändert, dass man sich um das Überleben seiner Bewohner Sorgen machen musste. Das war der Grund, weshalb ich wieder hierher geschickt worden war. Der Planet würde auf jeden Fall überleben, die Menschen nur, wenn sie Vernunft walten liessen. Als ich zurückkam, bestand kein Anlass, daran zu glauben, dass diese Gattung die Einsicht aufbringen würde, die ihr Überleben sichern könnte. Im Gegenteil. Ich erhielt bald den Eindruck, dass sie alles daran setzte, sich willentlich ins Verderben zu werfen. Die Höchste Macht machte sich ernsthafte Sorgen um die Exzesse, die von den Menschen ausgingen. Meine Aufgabe bestand darin, als abgesandtes weibliches Wesen die Absichten der Menschen zu erkunden und anschliessend nach „Oben“ zu berichten. Ich wollte wissen, wie die Menschen lebten, wie sie sich an die moralischen Werte hielten und was sie überhaupt zu unternehmen bereit waren, um ihre Zukunft zu sichern. Um in der realen Welt meine Erkenntnisse sammeln zu können, musste ich verschiedene Rollen und Positionen einnehmen. Ich wurde gewarnt, dass ich dabei physische und psychische Leiden erfahren würde. Dass es so schlimm kommen würde, konnte ich zum damaligen Zeitpunkt nicht ahnen.

GEBOREN 1995

Es geschah am Dienstag, den 21. November 2007. An diesem Tag nahm ich die Gestalt eines zwölfjährigen Mädchens ein. Svenia war die Tochter einer alleinerziehenden Mutter. Zu Besuch im Freibad Süd in ihrer Heimatstadt Magdeburg war Svenia im Blickfeld ihrer Mutter Maria mit Schwimmen beschäftigt. Ich nahm Svenias Körper in Besitz, als sie gerade zu einem kurzen Tauchgang ansetzte. Svenias Seele verliess diese Welt, ohne wieder aufzutauchen, als ich in ihr stoffliches Wesen schlüpfte. Der Übergang meines Wesens in die feststoffliche Welt verlief unbemerkt – unter Wasser. Als Svenia für Sekunden abgetaucht war, erfolgte die Mutation. Ich tauchte nach Sekunden in Svenias Gestalt auf. Die Wanduhr am Hauptgebäude des Freibades zeigte vierzehn Stunden und zwölf Minuten. Der Übergang war erfolgt, ohne dass die Substitution irgendeinem Menschen aufgefallen war. Auch meine „Leihmutter“ erfuhr nie davon. Weder meine Schullehrerin noch meine Schulgefährten haben je vom Übergang etwas bemerkt. Ich war überrascht, dass ich auf diese Weise wieder hier sein konnte. Kian, wie machst Du das nur, dass kein Mensch in der Lage ist, Deine Manöver zu durchschauen?

NEUES WESEN

Ich war ein Mädchen von dünner Gestalt. Mein Kinderkörper machte sich gerade auf, die Pubertätsphase anzutreten. Mein langes, braunes, leicht gewelltes Haar reichte bis in die Mitte meines schmalen Rückens. Meine braunen Augen fielen im Verhältnis zu meinem Gesicht überdurchschnittlich gross aus. Auch meine Hände waren länger als das, was man sonst sah. Meine breiten Schneidezähne drängten meine Lippen leicht nach vorn, was meinem Mund eine schmollende Fülle gab. Ich war unbekümmert und konnte scheinbar unbelastet dieses neue Erdenleben antreten. Welch Unterschied zu meinem letzten Leben! Endlich würde ich auf der Erde eine unbekümmerte Kindheit fristen. Ach nein, ich wurde ja gewarnt! Was hatte ich denn zu erwarten? Nichts wies darauf hin, dass ich bald eine unmenschliche Prüfung zu absolvieren hatte.

INTEGRIERT

Zwei Monate waren vergangen. In der Schule ging alles seinen gewohnten Gang. In Svenias Schulpult hatte ich ihre Hefte und Bücher vorgefunden. Als ich darin blätterte, stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass meine Handschrift identisch war mit derjenigen in den Heften meiner Vorschöpfung. Ich war sowohl zu Hause als auch in der Nachbarschaft völlig integriert. Lediglich als mich Mutter eines Morgens gefragt hatte, was ich mit meinem Haar angestellt hatte, kam ich ins Grübeln. Als ich zurückfragte, worauf sie hinaus wolle, teilte sie mir mit, meine Haarfarbe sei aufgehellt. Ich nickte. Der Unterschied zu ihrer leiblichen Tochter musste wohl nicht gross gewesen sein, denn sie fragte nicht nach.

ENTFÜHRT

Es war an einem Donnerstag. Ich hatte eben die Schule verlassen und war auf dem Nachhauseweg, als sich mir ein Auto näherte. Es war ein weisser Kombi. Es fuhr auf meiner Höhe im Schritttempo, dicht neben dem Bordstein. Plötzlich beschleunigte der Fahrer, um Sekunden später auf den Gehweg hinaufzufahren und mir den Weg abzuschneiden. Als ich stehen blieb, stieg der Beifahrer aus. Ich wollte fortrennen und liess meinen Schulsack fallen. Doch der Mann war schneller. Er stülpte mir eine aufgefaltete Wolldecke über den Kopf, klammerte seine Arme um meinen Oberkörper und zerrte mich auf den Rücksitz. Ich schrie so laut ich konnte. Die Decke dämpfte meine Rufe. Der Fahrer gab Gas, die Hecktür klappte zu. Zitternd vor Angst spürte ich die Hände des Fremden auf meinem Körper. Er hielt die ganze Zeit die Decke über meinen Kopf. Ich drohte zu ersticken. Nach einer Weile legte sich die Panik des ersten Schocks. Nun konnte ich wieder besser atmen. Um mich an jeglicher Bewegung zu hindern, presste mich mein Scherge mit seinem freien Arm an seine rechte Körperseite. Er roch nach altem Schweiss. Ich konnte auf seine Jeans-Hose hinuntersehen. Die Fahrt dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Ich war immer noch zugedeckt. Plötzlich schwenkte der Wagen nach rechts. Die Fahrt wurde holprig. Ganz offensichtlich fuhren wir jetzt auf einer Naturstrasse. Wenige Minuten später hielt das Auto an.

IM WALD

Jetzt erst zog mein Bewacher die Decke von meinem Kopf. Wir waren an einer Waldlichtung angekommen. Vor uns stand ein Waldhaus, unser Auto hatte kaum zehn Schritte vom Eingang des Blockhauses entfernt angehalten. Der Fahrer war inzwischen ausgestiegen und hatte die hintere Autotür geöffnet. Mein Bewacher liess mich los. Der Fahrer packte mich wortlos am Arm. Mein Begleiter war von kräftiger Statur, übergewichtig – ein grossgewachsener, blonder Mann, mit einem schlecht rasierten, kantigen Gesicht. Ich wand mich und schrie. Das schien jedoch keinen der beiden Männer zu beeindrucken. Der Mann liess mich zappeln, hatte mich fest im Griff. Er trug mich so, dass meine Füsse den Boden nicht berühren konnten. Der Scheitel meines Kopfes berührte sein Kinn.

Als wir vor dem Eingang des Blockhauses standen, ging schon die Haustüre auf. Ein schmächtiger Mann mit feinem Schnurrbart stand im Türrahmen. Mein Bewacher begrüsste den Mann im Haus mit dem Namen Kolja. Dieser stand zwei Meter vor uns. Als hätte er uns schon erwartet, befahl er meinem Bewacher: „Bring sie ins Nest“. Ohne ein Wort zu verlieren, trug mich mein Aufpasser vom Blockhaus weg. Nach zwanzig Schritten verliessen wir die Lichtung. Der mich immer noch fest im Griff haltende Mann tauchte in den Wald ein. Weniger als eine Minute später kamen wir zu einem zweiten Gebäude, diesmal ein zweistöckiges Holzhaus, grösser als das Blockhaus auf der Waldlichtung. Dies war das Gebäude, das die Männer als „Nest“ bezeichneten. Als wir beim Eingang angekommen waren, liess mich mein Bewacher herunter auf den Boden. Ich stand wieder auf meinen Füssen. Er hielt mich fest an meinen Haaren, wohl um sicherzugehen, dass ich nicht die Flucht ergreifen würde. Er ballte seine freie Hand zu einer Faust und klopfte drei Mal an die massive Holztür. Sie ging auf, eine Frau erschien. Der Mann liess von meinem Haar, übergab mich der Frau und verschwand wortlos. Sie nahm mich wiederum am Arm, drückte zu und zog mich ins Haus, während sie mit ihrem rechten Fuss die Türe mit einem Schubs ins Schloss beförderte. Die Frau befahl mir mit einer Geste, mich zu setzen. Im selben Raum hielt sich eine zweite erwachsene Frau auf. Das Gebäude, in dem wir uns befanden, musste ein ehemaliges Jagdhaus gewesen sein. Angelehnt an der einen Wand des ganz in hellem Holz gehaltenen Raumes stand eine kleine Einbauküche. Die Frau, die mich in Empfang genommen hatte, nahm ein Glas aus dem Oberschrank. Sie füllte es zu drei Viertel mit Wasser, stellte es vor mir auf den Tisch und befahl: „Trink!“

ZUTEILUNG

Wo war ich gelandet? Was würde mit mir geschehen? Wurde nach mir gesucht?

Die erste, etwas ältere Frau hatte einen gedrungenen Körper. Ihre leicht gebogene Nase ragte aus einem braunen, ledrigen Gesicht. Ihre Gestalt mit dem langen, üppigen, halb auf die Schultern, halb über den Rücken fallenden nachtschwarzen Haar glich der einer Roma-Frau. So hatte ich mir immer die Hexe aus dem Märchen „Hänsel und Gretel“ der Gebrüder Grimm vorgestellt. Allerdings entsprach ihre Kleidung so gar nicht diesem Bild. Sie trug breite Jeanshosen, ein Sweatshirt und Turnschuhe. Die andere Frau war jünger, vielleicht fünfundzwanzig. Als ich den Raum betreten hatte, sass sie halb liegend auf einem Polstersofa. Das Möbelstück war an der gegenüberliegenden Wand der Küchennische angelehnt. Als ich sie zum ersten Mal sah, war sie mit ihrem Handy beschäftigt. Sie hatte für mich nur einen flüchtigen Blick übrig. Da sie ihre Beine angezogen hatte, konnte ich ihre Grösse nicht einschätzen. Ihr Kurzhaarschnitt war das genaue Gegenteil der Frisur ihrer Kameradin. Äusserlich unterschieden sich die Frauen stark voneinander. Die eine war ein dunkler Typ, die andere hatte blondes Haar, helle Haut, blaue Augen und war schlank. Die jüngere war stark geschminkt und zurechtgemacht: falsche Wimpern, Silikonbusen, kurzer Rock, Stiletto. Ihre aufgespritzten Lippen schienen ihre kleine Nase in huckepack zu nehmen. Ihr Trägershirt verriet ihr Tattoo: eine sich um eine Rose rankende Schlange. Das Motiv bedeckte den halben Oberarm. Jetzt erhob sie sich und forderte mich auf, ihr zu folgen. In ihrem schlaksigen Gang bewegte sie sich auf eine der vier Türen zu, die von diesem Aufenthaltsraum hinausführten. Als ich neben ihr stand, öffnete sie die Tür. Dahinter befanden sich bereits mehrere Kinder – elf oder zwölf Jahre alt. Die Frau – ich erfuhr später, dass sie sich Lola nannte – wies mir einen Platz im zweiten Stock einer der dreistöckigen Bettstätten zu und ging hinaus. Da stand ich nun zwischen den fünf Betttürmen. Plötzlich erfasste mich ein abgrundtiefes Angstgefühl. Mein Körper begann zu zittern. Wie lange würden mich meine Beine noch tragen? Ich befand mich in einer aussichtslosen Lage. Wer würde mich hier rausholen?

SCHICKSALSFREUNDIN

Immerhin war ich nicht mehr alleine unter diesen angstmachenden Erwachsenen, die es bestimmt nicht gut mit mir meinten. Als erste kam ein Mädchen in meinem Alter auf mich zu, fasste meine beiden Hände und schaute mir in die Augen. Sie sprach: „Ich bin Maria, und wie heisst du?“ „Svenia“, antwortete ich ihr.

Das Zimmer bot Platz für fünfzehn Schlafstellen in fünf Dreietagenbetten. Zusammen mit meiner Liege waren sieben davon belegt. Bis auf zwei Ausnahmen waren die Kinder in einem ähnlichen Alter wie ich. Ein Knabe war viel jünger: Marek, fünf oder sechs Jahre alt. Und da war Maria. Sie hielt immer noch meine kalten Hände. Sie fiel mir mit ihrer natürlichen, wenn auch kindlichen Aura auf. Sie gab mir ein wenig das Gefühl von innerer Geborgenheit, von Zusammenhalt. Bereits nach wenigen Minuten setzten wir uns auf ihr „Bett“. Ihre Liege befand sich auf der untersten Etage. Maria begann zu erzählen. Sie stammte aus Polen – Schlesien. Zuletzt hauste sie mit fünf Geschwistern, ihrer Mutter und einem Onkel (dem Bruder ihrer Mutter) in einem Haus mit zwei Räumen in Malin, einem kleinen Vorort von Wroclaw (früher hatte es Breslau geheissen). Maries Vater hatte die Familie drei Jahre zuvor verlassen. Da sassen wir, dicht nebeneinander, die Beine angezogen. Unsere Körper berührten sich. Mein Kopf wollte platzen, so viele Fragen stauten sich darin. Doch Maria redete und redete. Ich liess sie erzählen, unterbrach sie nicht. Während ich ihr zuhörte, schweifte mein Blick zu den anderen Kindern. Maria klärte mich auf. Vier von ihnen stammten aus demselben Dorf: Giurgiu, eine rumänische Donaustadt mit knapp sechzigtausend Einwohnern an der Grenze zu Bulgarien. Allein die elfjährige Ursina kam aus der Ukraine. Von den anderen sprach Marie nicht – wohl, weil sie nichts über sie wusste.

DER ONKEL

Maria erzählte weiter. Sie war schon drei Monate im „Nest“ gefangen. Sie durfte das Gebäude nur verlassen, wenn sie für einen „Einsatz“ geholt wurde. Und das war immer in Begleitung von Lola. Es stellte sich heraus, dass sich Maria bisher aufgrund ihrer deutschsprachigen Herkunft kaum mit ihren Mitgefangenen austauschen konnte. Nun offenbarte sie ein unbändiges Bedürfnis, sich mir mitzuteilen.

Sie erzählte mir von ihrem Onkel Jakub. „Er und meine Mutter hatten eines Tages beschlossen, dass er einen Holzunterstand für die Räder von uns Kindern aufstellen solle. Am nächsten Tag beschloss Onkel Jakub, nach Breslau zu fahren, um das benötigte Material zu beschaffen. Kurz vor seiner Abfahrt entschied er, mich zum Einkauf mitzunehmen. Nach einer Dreiviertelstunde Fahrt kamen wir in Breslau an und fuhren direkt zum Baumarkt Castorama. Innerhalb einer knappen Stunde hatten wir alles, was er brauchte. Als wir vor der Kasse warten mussten, fiel mir ein Wühlkorb mit neonfarbenen Taschenlampen auf. Sie waren als Sonderangebot zu haben. Jakub beobachtete mich und legte, ohne etwas zu sagen, ein Stück der lustigen Lampen auf das Förderband, sah mich an, meinte: „Die ist für dich", und witzelte weiter: „Damit du auch im Dunklen den Weg findest“. Wir setzten uns in sein Auto und fuhren los. Auf dem Rückweg kamen wir zu einem langen, geraden Strassenabschnitt. Links und rechts standen Bäume in Reih' und Glied. Ich fragte mich, warum sie alle leicht auf ein und derselben Seite geneigt waren, alle genau gleich schräg. Ich versuchte, mir daraus einen Reim zu machen und neigte meinen Kopf so, dass die Bäume gerade waren. Jetzt war die Strasse abschüssig und die Felder hingen schief. In Gedanken versunken bemerkte ich nicht, dass am Ende der Geraden eine langgestreckte Rechtskurve uns durch bewaldetes Gebiet führte. Mitten im Wald bremste Onkel Jakub und bog rechts in einen Waldweg ab. Nach wenigen Hundert Metern stieg er aus, begab sich hastig auf meine Autoseite und öffnete die Autotür. Leicht genervt wies er mich an, ich solle aussteigen. Kaum hatte ich mich vom Sitz gelöst, zerrte mich Jakub aus dem Wagen. Ich bekam Angst, schrie und wehrte mich. Doch es nützte nichts. Er hielt mich fest und drückte mich bäuchlings gegen den Kühler und auf die Motorhaube. Onkel Jakub vergewaltigte mich. Nach zwei Minuten liess er mich los, gürtete seinen Hosenbund und ging zur Fahrertür. Dabei liess er keinen Moment den Blick von mir und rief mir zu: „Worauf wartest du? Steig ein!“ Auf der Fahrt sprach er nicht über den Akt der Vergewaltigung, sondern drohte mir. Sollte ich je jemandem davon erzählen, würde er mich weit weg bringen. Von da an betrachtete mich mein Onkel als sein Eigentum und setzte seine Schandtaten regelmässig fort“.

SCOUT

„Eines Tages kreuzte er mit einem fein gekleideten Mann zu Hause auf. Mutter rief mich in die Küche und stellte mich förmlich vor dem Fremden auf. Er stellte sich als „Scout“ vor, der auf der Suche nach schönen Frauen mit Potential sei. Er bezirzte Mama und Jakub und pries meine weibliche Schönheit. Sie tranken Tee. Jakub holte eine Flasche Wodka und zwei Gläser aus dem Schrank. Er stellte die Gläser auf den Tisch und schenkte ein. Derweil zog der Fremde ein Papier aus seiner Brusttasche, das er auf dem Tisch ausbreitete. Onkel Jakub zögerte nicht und unterschrieb den Wisch, ohne ihn zu lesen. Mutter reagierte nicht. Der Fremde nahm das Papier zur Hand, faltete es und schob es in die Aussentasche seines Saccos. Dann griff er in die andere Brusttasche und holte einen dicken Umschlag heraus, den er Jakub überreichte. Jakub wandte allen den Rücken zu und zählte das Geld. Dann kam Mutter mit mir ins Schlafzimmer, um den roten, einzigen Koffer zu packen, den wir hatten. Eine Stunde später sass ich auf der Rückbank des fremden schwarzen Autos. Ich war noch nie in einem derart schönen Auto gesessen. Die Sitze waren mit hellem Leder bezogen, die Innentüren, das Armaturenbrett und die Konsole mit Edelholz belegt. Ich sass auf dem Rücksitz hinter dem Fahrer. Nun waren wir also wieder zu zweit in einem Auto. Ich alleine mit einem Mann – einem fremden Mann. Von hinten sah er aus, als wäre er ein zu gross geratener Schuljunge. Während der ganzen Zeit sprachen wir kein Wort. Er rauchte. Er rauchte die ganze Zeit.

Nach einer guten Stunde Fahrt kamen wir in eine mir unbekannte Stadt. Der Fahrer fuhr sein Auto zwischen zwei graue Industriehallen, links vier-, rechts fünfstöckig. In der Mitte der rechten Halle bog er rechts ab durch ein offenes Industrietor und hielt nach circa zwanzig Metern in der Halle an. Er stieg aus und öffnete meine Autotür: „Aussteigen“. Ich rutschte von meinem Sitz nach draussen. Alsdann stand ich neben dem Wagen auf dem ölverschmutzten Betonboden. Der Mann bückte sich ins Fahrzeug, nahm meinen roten Koffer vom Sitz, stellte ihn neben mir ab und schloss die Türe. Danach setzte er sich wortlos ans Steuer, schmiss seine Fahrertüre zu und fuhr los.

Kaum war er weg, hörte ich Stimmen, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Als ich mich umdrehte, erblickte ich eine Gruppe Mädchen im Halbschatten. Zwei davon unterhielten sich in einer mir fremden Sprache. Die meisten sassen auf ihrem Gepäck. Eines kauerte daneben auf einer herumliegenden Holzpalette, zwei standen herum. Es vergingen wenige Minuten. Dann fuhr ein blauer Kleinbus in die Halle bis vor die Gruppe, der ich mich inzwischen angeschlossen hatte. Der Fahrer stieg aus und öffnete die Schiebetür, die den Zugang zum Laderaum – in unserem Fall zu den Sitzen – im Bus frei gab. Er sah uns an, und ohne ein Wort zu sagen deutete er uns mit einem Nicken, in den Minibus einzusteigen. Dann stiess er die Tür zu ins Schloss. Der Bus wendete in der Halle und fuhr los“.

VERKAUFT

„Die Stimmung im Bus schwankte zwischen Trennungsschmerz und Stolz auf eine bevorstehende Karriere. Nach wenigen Minuten war die Trauer ob dem Verlust unserer Familien bei den meisten verflogen. Es stellten sich angeregte Gespräche ein. Die Älteren (sie waren etwa dreizehn) bauten auf Rumänisch Luftschlösser von zauberhaften Kleidern, grellen Catwalks oder freuten sich auf Ukrainisch auf all diese lieben Menschen, die ihnen den Sprung ins Glitzerleben ermöglichen würden. Währenddessen rieben sich die Jüngeren (Dana war eben erst sieben geworden) ihre Tränen aus den geröteten Augen. Mit jeder Minute steigerte sich die Euphorie. Nach einer Stunde Fahrt war die Stimmung auf ihrem Höhepunkt. Von den Erwartungen überwältigt, verhielten sich einige von uns, als wären sie unter Drogen gesetzt worden. Wir waren neun Kinder. Der Minibus bot acht Sitzplätze. Eines von uns musste abwechslungsweise zwischen den Sitzen hocken. Es war Nacht. Die Fahrt dauerte knappe zwei Stunden. Wir wurden hierher gebracht.“

KALIBRIERUNG

Maria fuhr fort. „Kaum angekommen, wurden wir in den ersten Stock, in dieses Zimmer gebracht. Da wir überzählig waren, mussten sich die zwei kleinsten mit einem Bett zufriedengeben. Todmüde schliefen wir ein“.

„Am anderen Morgen wurden wir um sieben von Emma geweckt. Alle Mädchen wurden in den Kleidern, die wir seit dem Vortag nie mehr ausgezogen hatten, in den zweiten Stock, in das grosse Badezimmer geführt. Dort befahl uns Emma mit dezidierter Stimme, uns auszuziehen. Jeweils zu zweit wurden wir in die Dusche gestellt. Jede von uns bekam der Reihe nach einen Schwamm und musste die andere abreiben. Am Schluss legte jeweils Emma Hand an. Sie prüfte, ob wir sauber waren. Zwischen den Beinen nahm sie es sehr genau. Danach ging es nackt ins angrenzende Zimmer. Auf der Kommode standen mehrere Stapel mit Kleidern. Fein aufgeteilt in Oberteil, Hosen, Jupes, Slips, Büstenhalter, Socken und Schuhe. Am Boden neben dem Tisch war eine grosse, türkisblaue Baumwolldecke ausgebreitet. Emma befahl: „Setzt euch!“ Vor dem Fenster stand ein Tisch. Darauf lag eine dünne, graue Schaumgummimatratze. Emma zeigte auf das Mädchen, das am nächsten bei ihr sass. Das war ich. Die Aufseherin deutete mit dem gestreckten Zeigefinger: „Du, ja, du, komm her“! Ich stand auf und ging zur Liege. „Leg dich auf den Tisch und spreize deine Beine“. Ich verstand nichtstieg hinauf und legte mich auf den Rücken. Ich lag da, mit fest zugepressten Knien. Emma machte mir mit eindeutigen Gesten klar, dass ich meine Beine auseinandermachen müsse. Ich wusste die Geste richtig zu deuten und begann, mich zaghaft zu entkrampfen. Emma wurde ungeduldig und half mit Kraftanwendung nach. Als der Zugang zum Schritt frei war, prüfte mich Emma auf meine Keuschheit. Der Prozess dauerte nur wenige Sekunden. Ich stieg ab. Emma griff nach einem weissen Laken, das sie auf den Boden neben der türkisblauen Decke ausbreitete. Ich musste mich auf die blaue Decke hocken. Das Prozedere wiederholte sich, bis das letzte Mädchen vor unseren Augen untersucht worden war. Zuletzt fanden sich sechs von ihnen auf dem weissen Laken wieder. Das waren die Keuschen. Diejenigen Mädchen unter uns, die bis dahin der Angst hatten widerstehen können, waren spätestens jetzt gebrochene Wesen. Verängstigt, entwürdigt, alleine waren sie schutz- und erbarmungslos dem Horror ausgesetzt. Niemand von uns ahnte, was wir alle in den nächsten achtundvierzig Stunden bitter erfahren würden. Emma suchte für uns die passenden Kleider aus. Jetzt durften wir uns anziehen. Auch ich wurde eingekleidet. Ich erhielt zwei Garnituren ohne Büstenhalter. Emma brachte uns anschliessend in unser Lager zurück.“

Je länger ich Maria zuhörte, desto weniger Fragen, die ich mir zu Beginn gestellt hatte, blieben übrig. Sie hatte sie mir laufend beantwortet. Maria hielt inne. Wir hörten Schritte im Flur. Sie näherten sich. Sekunden darauf ging die Türe auf. Im Türrahmen stand Emma. Ich wusste, was mich erwartete, war ich doch eben von Maria instruiert worden. „Jetzt wirst du geduscht“, blitzte es durch meinen Kopf. Ich stand auf, ging gedankenleer auf Emma zu, die mich in den zweiten Stock brachte.

CASTING

Als ich von der Untersuchung zurückkam, hielten sich noch drei Kinder im Schlafzimmer auf. Die zwei Buben, Andrei und Marek, sowie die verletzte Andrea. Auch Maria war weg. Bereits wenige Minuten später wurde ich von Lola abgeholt. Sie führte mich ins Hauptgebäude und von der Eingangshalle zu einer der vier Türen. Ich wurde in eines der Zimmer geführt. Emma zog die Türe hinter sich zu. In der Mitte des Zimmers lag eine dicke Matratze. Daneben, auf dem Holzstuhl, sass Kolja. Seine Hose war offen, sein Geschlecht hing schlaff aus dem Hosenschlitz. Ich musste mich vor Kolja hinknien. Lola führte mich in die Kunst des oralen Sexes ein. Sie stand neben mir und gab mir Anweisungen, wie ein Kunde „professionell“ befriedigt werden sollte. Kolja liess sich bedienen, sagte kein Wort. Nach getaner Arbeit wurde ich tränenüberströmt und mit besudeltem Gesicht von Lola aus dem Zimmer in einen WC-Raum mit Lavabo geführt. Dieser befand sich ebenfalls im Erdgeschoss. Dort konnte ich mich von Koljas Hinterlassenschaft freispülen.

Dieser Tag würde ebenso lebenslänglich in meinem Gedächtnis tief eingraviert bleiben, wie die zwei nachfolgenden Tage.

NOTIZEN


BILD 3: „LOST“

100 x 40 cm. Kreide auf Papier, Transponder.(Bastian Oldhouse, 2015)


BILD 4: „WHY“

80 x 120 cm. Öl auf Leinwand/Keilrahmen, Transponder.(Bastian Oldhouse, 2018)

FRIEDE IST UNMÖGLICH,

SOLANGE ES MENSCHEN GIBT.

SALVATION

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