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2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie

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Die früheste uns fassbare literarische Ausprägung der griechischen Chortradition stellen im Wesentlichen die überlieferten Reste der Dichtungen von Alkman, Stesichoros und Ibykos aus dem siebten bzw. sechsten Jahrhundert v. Chr. dar.1 Die für die frühe griechische Lyrik ohnehin typische schlechte Überlieferungslage erlaubt es nicht, sich ein wirklich umfassendes Bild von den einzelnen Dichtern, den Gattungen oder dem literarischen Umfeld zu machen. Am greifbarsten ist uns das Genre der Chorlyrik daher erst in Form der beiden herausragenden Dichter Pindar2 (geb. 522 bzw. 518, gest. nach 446) und Bakchylides3 (Lebensdaten umstritten), die als geringfügig jüngere Zeitgenossen des Aischylos (525/24–456/55) parallel zum attischen Tragödienschaffen wirkten.

Als literarisch geformte Gebrauchsdichtung im besten Sinne war die Chor­lyrik geprägt von einer Vielzahl verschiedener Gattungen und Formen, die je nach Anlass, religiös-kultischer Verortung, Darbietungsweise sowie Inhalt und Grad der Emotionalisierung des Liedes differenziert waren. Für uns sind diese vielfältigen Gattungen der Chorlyrik (z.B. Linos, Paian, Threnos, Hymenaios, Hyporchema, Embaterion, Hormos, Hymnos, Prosodion, Dithyrambos, Parthenion) nur noch in Ansätzen trennscharf zu greifen; das klarste Bild lässt sich auf Basis der Werke der beiden Dichter Pindar und Bakchylides vom Genos des Epinikions entwerfen, wohingegen andere Genera für uns reine Namen bleiben. Wir dürfen allerdings davon ausgehen, dass sowohl Dichter als auch Publikum der attischen Tragödie des fünften Jahrhunderts mit den verschiedenen Charakteristika der einzelnen Gattungen auf Grund ihrer Verortung in der kulturellen Lebensrealität vertraut waren.

Die attische Tragödie ist sowohl kultisch, gattungstechnisch als auch hinsichtlich ihrer Stellung innerhalb des sozialen Gefüges der Polis aufs Engste mit der Chorlyrik verknüpft – mehr noch: Sie ist selbst für Aristoteles eine genuin chorische Gattung.4 Dass sich die dramatischen Formen in Griechenland auf Grundlage der chorischen (Dionysos-)Dichtung entwickelt und von der Gegenüberstellung eines Vorsängers und des zugehörigen Chors ihren Anfang genommen hat, galt bereits Aristoteles als gesichert.5 Auch wenn dabei die genaue Rekonstruktion möglicher „protodramatischer“ Gattungen sowie die Zwischenstufen zwischen reiner Chorlyrik und bereits etablierter dramatischer Form im Einzelnen schwer nachzuvollziehen sind,6 ist es auch heute noch communis opinio, in kultischen, ursprünglich narrativen Dionysos-Gesängen, im Besonderen in den Dithyramben, die Keimzelle der attischen Tragödie zu sehen.7

Dabei spielt für das Anliegen dieser Untersuchungen weniger die detaillierte Entwicklung dieser Gattung eine Rolle. Festzuhalten bleibt, dass spätestens mit Thespis in den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts8 der tragödientypische Dualismus von (Chor-)Gesang und Sprechpartien etabliert wurde.9 Der Übergang vom narrativ-reflektierenden Gestus der (frühen) Chorlyrik zu einer nachahmenden, dramatischen Form der Darstellung, in der dem Chor selbst eine gewisse Rolle zukommt, war damit geleistet.10

In der weiteren Entwicklung der Tragödie hat dann – vor allem durch Aischylos als erste zentrale Figur – die Ausweitung der Sprechpartien, die Einführung eines zweiten Schauspielers11 und die damit verbundene Kürzung der Chorpassagen das (für uns nach Aristoteles) charakteristische Profil der Tragödie als einer durch die Nachahmung von Handlungen bestimmten Bühnenform geprägt.12 Das fünfte Jahrhundert markiert dabei mit den Eckdaten 499/98 (erste Teilnahme des Aischylos am Agon) und 405 (Tod des Sophokles) bzw. 401 (posthume Aufführung des Oidipus auf Kolonos) den chronologischen Rahmen dieser Entwicklung und zugleich ihre Blütezeit. Ihren Sitz hatte diese neue Kunstform – komponiert in Tetralogien, bestehend aus drei Tragödien und einem Satyrspiel13 – innerhalb der Agone an bestimmten Dionysosfesten Athens: den Lenäen sowie den Großen (Städtischen) und den Kleinen (Ländlichen) Dionysien.14 Die tragischen Agone blieben nichtsdestoweniger im offiziellen Verständnis chorische Aufführungen, was sich an der Nomenklatur der entsprechenden Vorgänge zeigt.15

Dabei hat die Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik diese keineswegs vollständig absorbiert. Gerade im angesprochenen und anderenorts16 wesentlich ausführlicher beleuchteten institutionellen Rahmen der mit den attischen Dionysosfesten verbundenen Wettkämpfe hatte die Chorlyrik weiterhin ihren festen Platz: Am ersten Festtag der Großen Dionysien, also am Vortag des Tragödienagons,17 fand die Dithyrambenkonkurrenz der die Phylen repräsentierenden Chöre statt. Zudem fällt, wie bereits angesprochen, das Wirken der beiden herausragenden Lyriker Pindar und Bakchylides zum Teil mit der Schaffenszeit des Aischylos zusammen; die uns greifbarste Ausprägung der auftragsgebundenen Chorlyrik fällt dementsprechend in die Blütezeit der attischen Tragödie.

Auch hinsichtlich der Aufführungsbedingungen greifen Chorlyrik und Dramatik eng ineinander: Die Tragödien- und Dithyrambenchöre wurden in klassischer Zeit nicht durch professionelle Sänger, sondern von Bürgern (bzw. angehenden Bürgern) der Polis Athen gestellt;18 ein fester Schauspieler- bzw. Choreutenberuf bildete sich erst gegen Ende des fünften Jahrhunderts heraus, während Sophokles der Überlieferung zufolge in seinen frühen Stücken noch selbst mitgespielt haben soll.19

Mit Chorlyrik und Dramatik haben wir es demnach mit zwei Ausprägungen der kultisch und politisch fest institutionalisierten (Gebrauchs-)Literatur zu tun, die miteinander in engstem Zusammenhang stehen. Das mit der Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik begründete generische Verhältnis der beiden Großgattungen erschöpft sich nicht in einem Nacheinander in sich abgeschlossener literarischer Phänomene. In geradezu sublimierter Weise hat die Gattung der Tragödie vielmehr mit dem für sie konstitutiven Chor ihre Keimzelle in sich integriert und, wie noch zu zeigen sein wird, transformiert. Gerade das institutionalisierte Nebeneinander der beiden Genres konstituiert dabei einen Rahmen gegenseitiger Beeinflussung und Nutzbarmachung. So verwundert es einerseits nicht, dass tragische Dichter auch Chorlyrik verfasst haben sollen (Sophokles wird die Autorschaft von Paianen zugeschrieben), andererseits ist ein Reflex der „Neuen Musik“, wie sie die Komposition der Dithyramben ab einem gewissen Zeitpunkt geprägt hat, in den Tragödien des Euripides zu finden.20

Auch dem tragischen Chor haften so trotz seiner Überführung und Implementierung in eine andere Gattung entscheidende Charakteristika der selbstständigen Chorlyrik und damit des kulturellen Phänomens „Chor“ an. Anders gesagt: Mit dem Chor ist ein den Zuschauern zutiefst vertrautes Moment der sie umgebenden und ihren Alltag maßgeblich prägenden song-and-dance-culture konstitutiver Bestandteil der Tragödie. Für den Rezipienten erfahrbar wird dieser Umstand in der eigentlichen Performativität des tragischen Chors, die in vielen Punkten der eines realen, d.h. der Lebenswirklichkeit entstammenden Chors entspricht: Der tragische Chor singt Lieder, die hinsichtlich ihres Inhalts oder ihrer (musikalischen) Form an real existierende Gattungen und Genres der Chorlyrik angelehnt sein können, er tritt als homogenes Kollektiv auf,21 seiner Performanz haftet im Rahmen des darzustellenden Mythos das Moment der Öffentlichkeit an, er ist mit einiger Regelmäßigkeit Träger gewisser angedeuteter oder ausgeführter Rituale (im Besonderen: Anrufung von Gottheiten) und hat „Zugang zum Bereich der Erinnerung“,22 d.h. kann sich gegebenenfalls Einsichten des kulturellen und gemeinschaftlichen Gedächtnisses der Polis bzw. der Gesellschaft zu eigen machen.23

Für das ursprüngliche Publikum war das Phänomen Chor also sowohl in seiner rituell-lebensweltlichen Ausprägung als auch in seinen literarischen Formen (und demnach auch innerhalb der Tragödie) kein den Seh- und Lebensgewohnheiten fremdes Phänomen; vielmehr lässt sich mit LEY formulieren: „For Athenians, the tragic chorus was a part of their lives“.24 Als der Alltagskultur entspringendes Moment ist der Chor für GRUBER ein besonderes Identifikationsmoment, das geradezu eine Brücke zwischen der den tragischen Mythos zeigenden Heroenwelt und dem Erfahrungsbereich der Rezipienten darstellt;25 zwischen Chor und Zuschauer bestehe dementsprechend eine „natürliche Nahbeziehung“.26

Mit dieser performativen Ähnlichkeit bzw. Verwandtschaft zum (dionysischen) Chor der song-and-dance-culture ist ein Pol der von ZIMMERMANN sogenannten „janusköpfigen Natur“27 des tragischen Chors bezeichnet. Inwieweit der so verstandene Chor nun innerhalb der Tragödie selbst verankert ist, wird der folgende Abschnitt zeigen.

Der Chor in den Tragödien des Sophokles

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