Читать книгу Der Chor in den Tragödien des Sophokles - Bastian Reitze - Страница 17
4. Chorische Binnengliederung – dramaturgische Implikationen des Einzelstücks
ОглавлениеVon besonderer Bedeutung wird es bei der Interpretation der Einzeltragödien sein, den Beziehungen zwischen den Chorpartien selbst nachzugehen, d.h. zu fragen, ob gewisse Chorpartien einander ergänzen, aufeinander Bezug nehmen oder hinsichtlich ihrer Motivik, ihrer Reflexionsinhalte und -strategien bzw. der ihnen eigenen dramaturgischen Funktionalisierung miteinander korrelieren. Diese Bezugnahmen der Chorpartien untereinander sollen dabei unter dem Stichwort „chorische Binnengliederung“ zusammengefasst werden.
Von besonderer dramaturgischer Bedeutung ist dabei das strukturierende Potential, das einer so gearteten chorischen Binnengliederung zukommt: Jenseits der rein formalen Gliederung, die die regelmäßige Einschaltung lyrischer Partien mit sich bringt, ist dem Dichter mit den Chorpartien so ein besonders wirksames Mittel gegeben, seine Tragödie auch motivisch-thematisch zu gliedern bzw. zu runden. Um die Bedeutung zu ermessen, die dem strukturellen Potential chorischer Binnengliederung im Fall unseres Autors zukommt, muss ein besonderer Umstand des uns vorliegenden Werks ins Gedächtnis gerufen werden.
Die uns vollständig überlieferten Tragödien des Sophokles waren nicht Bestandteile von Inhaltstetralogien,1 bei denen zumindest die drei zum Wettbewerb eingereichten Tragödien (tragische Trilogie) als eine Folge von Fortsetzungsstücken abschnittsweise und chronologisch aufeinander aufbauend einen Mythos auf die Bühne brachten.2 Mit aller gebotenen Vorsicht lässt sich auf Grund der Quellenlage behaupten, dass gerade Sophokles ab einem gewissen Zeitpunkt3 die Abkehr vom (aischyleisch geprägten) Kompositionsschema der Inhaltstetralogie4 hin zur Komposition von drei (Tragödien) bzw. vier thematisch in sich geschlossenen Stücken propagiert hat.5 Die so zu einer Tetralogie zusammengefassten Stücke waren, wenn überhaupt, nur noch thematisch-motivisch miteinander verknüpft.6 Eine Rekonstruktion der so gearteten sophokleischen Tetralogien ist allerdings bereits auf Grund der mangelnden Zeugnisse sehr schwierig: Bei vielen Stücken ist schlicht nicht bekannt, mit welchen anderen Dramen sie in einer Tetralogie zusammengefasst waren. Dass von einem Großteil der Tragödien einzig die Titel bekannt sind, erschwert eine Gesamtschau zudem. Beginnend mit Aristoteles7 scheint darüber hinaus auch die Tragödienphilologie der späteren Zeit kein besonderes Gewicht mehr auf die Trilogien- bzw. Tetralogienkomposition gelegt zu haben (vgl. die uns vorliegende Auswahl von sieben Einzelstücken sowie der darin enthaltenen byzantinischen Trias zu Schulzwecken).
Auch wenn uns so in Sophoklesʼ Fall die Vergleichsmöglichkeiten genommen sind,8 lässt sich schließen, dass sich die Komposition einer in den Verbund einer Inhaltstetralogie eingebundenen Tragödie von der eines als Einzelstück komponierten Dramas unterschieden haben muss: Die Anordnung der einzelnen Formteile, Szenen und Auftritte, die Phasierung des Stücks und demgemäß die poetisch-motivische Arbeit im Einzelnen dienen dem Aufbau eines auf die Dauer eines Stücks bemessenen Spannungsbogens. Dass in diesem Zusammenhang gerade die Gestaltung der Chorpassagen und ihre dramaturgische Funktionalisierung auch diesem Zweck dienen, ist folgerichtig. Konkret gesagt: Die formale Geschlossenheit, gar die durch offensichtliche Bezüge und Spiegelungen inhaltlicher9 oder formaler10 Natur erzeugte Rundung einer der uns überlieferten Tragödien festzustellen, ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen alles andere als banal.