Читать книгу Der Chor in den Tragödien des Sophokles - Bastian Reitze - Страница 12

3. Der Chor als Formteil der Tragödie 3.1 Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona

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Den tragischen Chor unterscheidet ein zentraler Umstand vom realen Chor, wie er zentraler Bestandteil der Lebenswirklichkeit der attischen Bürger war: Dem Chor kommt in jeder Tragödie eine je eigene, im Personenspektrum des Stücks verortete Rolle zu. Innerhalb der dramatischen Fiktion tritt der Chor demnach nicht als anonymer (dionysischer) Ritualchor auf, sondern nimmt an der Nachahmung der Handlung als (kollektive) dramatis persona teil.1 Als solche kann er klar benannt werden, steht zu den übrigen Personen des Stücks in einem konkret zu bestimmenden Verhältnis, kann über sich selbst sprechen und sich innerhalb seiner Ausdeutung der Situation verorten.2

Bereits in seiner Poetik formuliert so auch Aristoteles die Forderung, dass der tragische Chor ein den Schauspielern analoger Bestandteil des Dramenganzen sein soll:

καὶ τὸν χορὸν δὲ ἕνα δεῖ ὑπολαμβάνειν τῶν ὑποκριτῶν καὶ μόριον εἶναι τοῦ ὅλου καὶ συναγωνίζεσθαι μὴ ὥσπερ Εὐριπίδῃ ἀλλ’ ὥσπερ Σοφοκλεῖ. τοῖς δὲ λοιποῖς τὰ ᾀδόμενα οὐδὲν μᾶλλον τοῦ μύθου ἢ ἄλλης τραγῳδίας ἐστίν· διὸ ἐμβόλιμα ᾄδουσιν πρώτου ἄρξαντος Ἀγάθωνος τοῦ τοιούτου. (1456 a 25f.)

Den Chor aber muss man wie einen der Schauspieler behandeln, er muss Teil des Ganzen sein und an der Handlung beteiligt sein, nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles. Bei den übrigen Dichtern gehören die gesungenen Partien um nichts mehr zur jeweiligen Handlung als zu irgendeiner anderen Tragödie. Daher sind die gesungenen Partien bei ihnen <bloße> Einlagen. Der erste, der damit begann, war Agathon. 3

Die geradezu vorbildliche Verwirklichung seiner Forderung sieht Aristoteles so in besonderem Maß bei Sophokles gegeben, dessen Chortechnik er nicht nur einerseits von der des Euripides, andererseits von der Praxis „anderer Dichter“ abgesetzt, sondern damit implizit empfiehlt und so zur nachahmenswerten Norm erhebt.

Damit ist das Spannungsfeld des tragischen Chors eröffnet, wie es sich hinsichtlich seiner Genese sowie seiner Verortung in der Tragödie selbst ergibt: Das aus der Lebenswirklichkeit sowie der an ihr orientierten (Gebrauchs-)Dichtung stammende Phänomen Chor bildet als konstitutiver Bestandteil der Gattung Tragödie nicht nur ihren literarischer Ursprung, sondern ist gänzlich in die dramatische Struktur eingepasst, selbst dramatisiert und somit in einer übergrei­fenden Ordnung geradezu aufgehoben.

Was lässt sich im Rahmen der hier zu gebenden Einführung zur Einbindung des Chors als einer kollektiven dramatis persona in den darzustellenden Mythos und die jeweilige Einzeltragödie festhalten?4

Im Bereich der mythologischen Tragödie, die den Anteil der tragischen Dichtungen mit zeitgeschichtlichem5 oder frei erfundenem Inhalt6 überwogen haben wird, bietet die Besetzung des Chors dem Dichter die nahezu größten Gestaltungsmöglichkeiten.7 So sind die zentralen Figuren der Handlung bei einem mythologischen Stoff bereits mehr oder minder vorgegeben, die Rollenzuweisung an den Chor jedoch unterliegt ausschließlich der dichterischen Gestaltung. Zwei grundlegende Möglichkeiten, den Chor einer Tragödie mythischen Inhalts zu besetzen, führt HOSE auf:8 Entweder stelle der Chor die Verkörperung einer vom Mythos bereits gegebenen und in ihm notwendigerweise handelnden Gruppe dar (z.B. die Freier der Penelope in einer Tragödie, die Odysseusʼ Heimkehr und Rache inszeniert), oder er bestehe aus Personen, „die in der jeweiligen Sage nicht explizit erscheinen, jedoch leicht aus dem Bereich, in dem die Sage angesiedelt ist, ergänzt werden können“.9 Dass in den überlieferten Tragödien die auf die zweite Art gebildeten Chöre weitaus überwiegen, ist auf Grund der von HOSE aufgeführten dramaturgischen Schwierigkeiten eines dem Mythos bereits immanenten Chors nachvollziehbar.

Die geplante Aussageabsicht der Tragödie, das intendierte Verhältnis der Personen zum Chor und die gesamte dramaturgische Komposition fließen so bei der Konzeption des Chors zusammen. Konkret gesagt: Indem Sophokles beispielsweise seinen Philoktet – im Gegensatz zu Aischylos und Euripides – auf einer völlig unbewohnten Insel sein Dasein fristen lässt, prägt er den Mythos gemäß seiner Konzeption der Tragödie und muss daher auch dem Chor eine speziell für diese Komposition passende Rolle zuweisen.10 Im Gegenzug kann man sich vorstellen, dass die Antigone eine völlig andere Tragödie wäre, wenn der Chor nicht aus dem politisch und religiös in das Leben der Polis eingebundenen Rat der Alten, sondern zum Beispiel aus den Frauen der Stadt Theben bestünde (vgl. die Konstruktion in der Elektra). Nicht nur das Verhältnis der Choreuten zur Prot­agonistin und zu Kreon, sondern auch die Gedankenwelt der chorischen Reflexion, ja sogar die Sprache innerhalb der Chorlieder und damit die ganze dramaturgische Komposition wären andersartig.11 Eine ähnliche Überlegung ergibt sich, wenn wir uns eine Aiastragödie vorstellen, in der nicht wie bei Sophokles die Schiffsleute des Prot­agonisten, sondern die des Odysseus oder sonstige griechische Soldaten den Chor bildeten.12

Im uns überlieferten Werk des Sophokles lassen sich hinsichtlich der Rollenidentität der Chöre zweckmäßiger Weise drei Kategorien bilden, die sozusagen das Spektrum der vom Chor dargestellten dramatis personae umfassen: So stellt der Chor in zwei Tragödien wehrfähige Männer13 dar (Philoktet14 und Aias), ebenfalls in zwei Tragödien Frauen (Trachinierinnen und Elektra) sowie in drei Stücken Greise (Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos und Antigone). Diese drei Gruppen eignen sich besonders gut dazu, als Kategorisierungsmoment die Reihenfolge der Einzelinterpretationen im Hauptteil zu bestimmen.15

In der Regel hat der Chor zudem zu einer (oder mehreren) Person(en) eine herausgehobene Beziehung: Während dabei in einigen Fällen ein emotionales Nah- bzw. Abhängigkeitsverhältnis zwischen Chor und dem entsprechenden Akteur vorliegt (vgl. das Verhältnis von Aias zu seinen Schiffsleuten), stehen sich andernorts Chor und Bezugsperson in unausgesprochener oder gar betonter Distanz gegenüber. Gerade der Gesprächssituation Chor-Bezugsperson kommt so bei der Interpretation der Tragödie besondere Bedeutung zu (vgl. im Besonderen die Gesprächssituation Prot­agonistin-Chor in der Elektra). Nicht in allen Fällen ist dabei die primäre Bezugsperson des Chors auch der Prot­agonist der Tragödie: Von besonderem Interesse ist in diesen Fällen die Verortung des Chors in seiner gegebenen Rollenidentität zwischen zwei (oder mehreren) Akteuren des Stücks (vgl. Philoktet oder Antigone).

Die Interpretationen des Hauptteils werden versuchen, auf Grundlage der jeweiligen Rollenidentität bestimmte für die einzelne Tragödie prägende Muster innerhalb der sprachlichen Gestaltung der Chorpartien, der Gesprächssituationen zwischen Chor und Akteuren und der Verortung des Chors im Personenspektrum herauszustellen. Im Folgenden soll daher ein rascher Überblick einige formale Gegebenheiten der chorischen Präsenz in Erinnerung rufen, um die jeweils konkrete Ausgestaltung des Wechselspiels von Chor und Akteuren im Einzelstück genauer untersuchen zu können.

Der Chor in den Tragödien des Sophokles

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