Читать книгу Der Chor in den Tragödien des Sophokles - Bastian Reitze - Страница 16

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3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung

3.1 Begriffsklärung

Dass den reflektierenden Chorpartien als Mittel zur Lenkung der Aufmerksamkeit des Zuschauers genuin dramaturgische Funktion zukommt, ist oben bereits angemerkt worden. Diese Arbeit verzichtet bewusst darauf, ein (theaterwissenschaftlich-)theoretisch fundiertes, modernes Konzept von Dramaturgie zu entwerfen. Was mit dem Begriff „Dramaturgie“ und der damit zusammenhängenden dramaturgischen Funktionalisierung bzw. den dramaturgischen Implikationen verstanden werden soll, muss dennoch in aller Kürze umrissen werden.

Dramaturgie meint im Rahmen dieser Arbeit die mit Blick auf die Lenkung der Aufmerksamkeit des Rezipienten vorgenommene Anordnung der einzelnen Formteile der Tragödie sowie ihre absichtsvolle Gestaltung im Einzelnen.1 Ganz vom jeweils dargestellten Mythos, dem Plot der Tragödie ausgehend, fragen die unter dem Schlagwort „Dramaturgie“ subsumierten Ansätze daher sowohl nach der Struktur der Tragödie im Ganzen, der Komposition ihrer Teile sowie der damit einhergehenden bzw. durch sie konstituierten Dramatisierung der eigentlichen Handlung bzw. der mit ihr in Zusammenhang stehenden Phänomene und Momente.

Entscheidende Untersuchungsgegenstände sind dabei unter anderem die Steuerung des dramatischen Tempos, d.h. der bewusste Wechsel von Partien, die die Handlung beschleunigen, und solchen, die den Fluss des Geschehens verlangsamen, sowie der Einsatz bestimmter Formelemente zur Strukturierung des Dramas. Der besondere Fokus dieser Arbeit liegt dabei auf den Chorpartien sowie der chorischen Präsenz im Ganzen. Deren dramaturgischen Wert für das jeweilige Einzelstück herauszustellen sowie den Versuch einer Gesamtschau über die uns überlieferten Tragödien des Sophokles zu umreißen, ist eine Hauptaufgabe der Untersuchung. Um den spezifischen dramaturgischen Wert einer untersuchten Chorpassage zu fassen, sollen dabei die durch ihre Gestaltung im Einzelnen sowie ihre Positionierung innerhalb des Stückganzen gegebenen dramaturgischen Implikationen aufgespürt werden. Konkret wird daher gefragt werden, wie einzelne poetische bzw. reflektierende Momente und Gestaltungsprinzipien dramaturgisch funktionalisiert werden. Im besten Fall lässt sich daraufhin die dramaturgische Funktion einer ganzen Partie möglichst konzise angeben.

Wie bereits bei den Reflexionsstrategien muss auch hier eine grundlegende Einordnung und Kategorisierung vorgenommen werden, die als Leitfaden für die Interpretation der Einzelpassagen dienen kann. Der Fülle an Ansätzen zur Reflexion sowie ihrer konkreten Ausgestaltung in den jeweiligen Chorpassagen steht auch hier eine besonders vielgestaltige und je im Einzelfall zu betrachtende Fülle an dramaturgischen Implikationen gegenüber. Wieder scheint es dabei geraten, von einem breitgefächerten Spektrum auszugehen, das am besten erneut über seine Ränder abgesteckt wird.

Da, wie eben ausgeführt, unter Dramaturgie im Wesentlichen die der jeweiligen Handlung angepasste, ihr entsprechende Komposition der einzelnen Formteile verstanden werden soll, spielt bei der Frage des Spektrums dramaturgischer Funktionalisierung das spezielle Verhältnis von chorischer Reflexion zu dramatischer Handlung eine entscheidende Rolle. Zwei Arten der Nutzbarmachung reflektierender Partien in Relation zur Handlung sollen dabei die Randpunkte des Spektrums bezeichnen. Wieder ist, wie oben, vorauszuschicken, dass diese beiden Punkte Extreme darstellen, die einzig den Rahmen umfassen, innerhalb dessen sich die konkreten, d.h. in den Stücken selbst zu erweisenden Funktionalisierungen und dramaturgischen Implikationen finden lassen. Inwieweit eine Realisierung des einen oder anderen Funktionalisierungskonzepts in Reinform anzutreffen ist, wird die Einzelanalyse ad locum zu ergründen versuchen. Entsprechendes gilt für das Verhältnis der beiden Funktionalisierungskonzepte untereinander und den Übergang von einem zum anderen. Auch diese Entscheidung muss jeweils in der Untersuchung der Einzelstelle bzw. der vorliegenden Tragödie erfolgen; eine Faustregel soll dabei erste Klarheit schaffen und den Blick auf die Problematik öffnen.

Im Bereich der möglichen Funktionalisierung chorischer Reflexion im Verhältnis zur Handlung sollen im Folgenden Fokussierung und Kontextualisierung2 als Eckpunkte des Spektrums unterschieden werden.3 Von der in diesem Spektrum verorteten dramaturgischen Funktionalisierung ist der jeweilige Rezeptionsansatz – thematisch-begrifflich oder imaginativ-visualisierend – dabei zunächst unabhängig. Das heißt, dass theoretisch eine thematisch-begriffliche Reflexion sowohl im Sinne einer Fokussierung als auch einer Kontextualisierung funktionalisiert sein kann; Entsprechendes gilt für imaginativ-visualisierende Reflexionen. Es ist die Aufgabe der Gesamtschau am Ende dieser Arbeit, auf Basis der Einzelanalysen das Verhältnis dieser beiden Spektren zueinander näher zu bestimmen; für den Moment, d.h. die theoretische Erarbeitung der als Instrumentarium der Analyse verstandenen Begriffe, interessiert diese Relation noch nicht.

3.2 Fokussierung

Eine chorische Reflexion kann dazu dienen, auf ein bestimmtes Moment der Handlung dezidiert hinzuweisen und so die Aufmerksamkeit des Rezipienten darauf zu bündeln.1 Der Begriff „Moment“ ist dabei besonders weit gefasst: das Handeln eines Akteurs, die momentane oder generelle Situation eines Akteurs (gegebenenfalls des Chors selbst), eine Einwirkung von außen, der Ort des Geschehens, ein bestimmter Gegenstand, ein im Bühnengespräch aufgeworfenes Problem oder Thema – kurz: alles, was einen konkreten Bezug zur Handlung, zur Bühnensituation oder zum Bühnengespräch hat oder aus ihnen hervorgeht.

Eine Fokussierung auf ein so geartetes Moment der Handlung verortet die chorische Reflexion und damit den Chor als ihren Sprecher dabei punktgenau im dramatischen Kontext; der konkrete Anknüpfungspunkt zwischen Chorpartie und Kontext ist in der Regel explizit bezeichnet: Stellt ein Akteur den Fokus der chorischen Reflexion dar, so kann er durch ein Demonstrativum2 oder eine andere Benennung3 bezeichnet, namentlich genannt4 oder auch angeredet werden.5 Den Bezug auf ein konkretes, womöglich der direkt vorausgehenden Szene entsprungenes Vorkommnis oder einen Gegenstand leisten entweder die konkrete Bezeichnung6 oder ein rückblickendes Demonstrativum.7

Den eigentlichen Rahmen der Handlung und einiger mit ihr zusammenhän­gender Phänomene verlässt eine fokussierende Reflexion dabei kaum; allenfalls bündelt sie eine Situation exemplarisch in der Fokussierung auf ein spezielles Moment derselben und entwirft so ein Panorama der jeweiligen Verhältnisse, wie sie sich aus Sicht der Choreuten darstellen. Als Faustregel kann zunächst gelten: Solange dabei der unmittelbare Bezugsrahmen der der Handlung immanenten Gegebenheiten nicht verlassen wird, ist die Grenze zur Kontextualisierung noch nicht überschritten.

Dramaturgisch gesehen entspringt eine fokussierende Reflexion nicht nur konkret dem Geschehen, sondern wirkt im Gegenzug auch in besonders direkter Weise auf dieses zurück. Sie kann gerade hinsichtlich des dramatischen Tempos sowohl zu einer Steigerung als auch zu einer Drosselung desselben beitragen: Die konkrete, auf ein (innerdramatisch) problematisches Moment der Handlung fokussierende Reflexion reizt dabei die Erwartung einer (Auf-) Lösung, ist also im Wesentlichen dynamisch,8 wohingegen die auf einen erreichten Zustand fokussierende Reflexion eine eher statische Konstatierung und Bekräftigung darstellt9 – die möglicherweise als Folie einer plötzlich hereinbrechenden Wendung dienen kann.10 Wird diese Wendung durch den Rezipienten bereits antizipiert, so ist die entsprechende Chorpartie ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung dramatischer Ironie und damit klar dramaturgisch funktionalisiert. Die Analysen des Hauptteils werden zeigen, inwieweit darin ein geradezu standardisierter Einsatz der chorischen Reflexion vorliegt.

Die Interpretation der Chorpartien wird dementsprechend zu zeigen versuchen, inwieweit die Reflexion auf ein bestimmtes Moment der Handlung fokussiert, wie sich diese Fokussierung zum Rahmen der innerdramatischen Gegebenheiten verhält und welche (gegebenenfalls standardisierten) dramaturgischen Implikationen sich gerade hinsichtlich des dramatischen Tempos daraus ergeben.

3.3 Kontextualisierung

Eine kontextualisierende Reflexion bezieht sich ebenfalls auf ein bestimmtes Moment der Handlung (worunter der oben gegebenen Definition entsprechend auch die momentane Gesamtlage der am Geschehen beteiligten Akteure verstanden werden kann); anstatt dieses allerdings fokussiert zu betrachten und hinsichtlich einiger ihm immanenter Facetten auszuleuchten, sucht diese Reflexion vielmehr, es in einen größeren Rahmen einzuordnen, der den unmittelbaren Bezugsrahmen des dramatischen Geschehens übersteigt.1 Dieses Kontextualisieren eines Moments dient dabei dazu, eine weitere Deutungsebene einzublenden, vor der das dramatische Moment selbst bzw. auch die gesamte Handlung neu oder anders ausgedeutet werden können.

Welche umfassenderen, den Rahmen des unmittelbaren dramatischen Geschehens übersteigende Kontexte kommen dabei in Frage? Eine reflektierende Partie kann das Geschehen bzw. einen Aspekt desselben in einen theologisch-religiösen oder einen allgemeinphilosophisch-gnomischen Kontext einordnen und dabei entweder nur das Wirken (quasi-)göttlicher,2 abstrakter3 Mächte bzw. menschlicher Grundkonstanten4 feststellen, oder – in einem noch umfassenderen Sinne kontextualisierend – dem Geschehen als Konkretisierung einer allgemeinen Wahrheit geradezu exemplarischen Charakter zusprechen.5 Ähnliches gilt im Fall der Einordnung dramatischer Momente in den Zusammenhang der (Familien-)Geschichte6 oder beim Aufweis mythischer Parallelen,7 die eine Kontextualisierung des Bühnengeschehens ermöglichen bzw. andeuten.

Ob dabei das dramatische Moment den Ausgangspunkt der Partie bildet oder die Reflexion erst konkretisierend auf das dramatische Moment zuläuft, bleibt im Wesentlichen der bewussten Komposition des Dichters überlassen, der damit je eigene dramaturgische Absichten verfolgt: Ein zu Beginn einer kontextualisierenden Partie gesetzter Bezug zum dramatischen Kontext holt die Rezipienten geradezu in der Handlung ab und öffnet das Geschehen in Richtung einer weiteren Deutungsebene,8 womit – über die gesamte Partie gesehen – grundsätzlich eine Entschleunigung des dramatischen Tempos gegeben sein wird. Dagegen bewirkt die entgegengesetzte Struktur, d.h. die Nennung des Anknüpfungspunkts erst am Ende der kontextualisierenden Partie, über alles gesehen eine beschleunigende Rückführung in die dramatische Realität, nachdem sich der Beginn der Passage zunächst vom unmittelbaren Kontext abgehoben haben wird.9 Näheres muss dabei die Einzelinterpretation ad locum zeigen; auch inwiefern eine der beiden Kompositionsformen für kontextualisierende (und andere) Chorpassagen typisch ist, wird sich erst nach Auswertung der Einzelergebnisse feststellen lassen.

Die Interpretation solchermaßen kontextualisierender Passagen hat dementsprechend im Besonderen den jeweiligen Anknüpfungspunkt zum dramatischen Geschehen herauszustellen und den Rahmen zu umreißen, in den das Geschehen durch den Chor gestellt wird. Auf der Basis dieser durch die Reflexion entworfenen Deutungsebene(n) müssen darüber hinaus die dramaturgischen Implikationen der entsprechenden Partie sowie ihre motivische Verankerung innerhalb des Dramenganzen untersucht werden.

Der Chor in den Tragödien des Sophokles

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