Читать книгу Souveräne Impulskontrolle bei Hunden - Benedikt Wittner - Страница 17
ОглавлениеMögliche Ursachen im Überblick
Es gibt eine Vielzahl möglicher Ursachen, die eine Impulsstörung auslösen oder verstärken können. Häufig bedingen sich mehrere Faktoren wechselseitig, weshalb punktgenaue Diagnosen so schwer zu treffen sind.
Krankheit:
Die Impulsstörung des Hundes kann mit einer Krankheit beginnen, sie kann eine solche aber auch hervorrufen.
Viele Erkrankungen, zum Beispiel hormonelle Störungen, gehen ohne sichtbare Symptomatik einher. Die krankhaften Veränderungen spielen sich im Körperinneren des Hundes ab und sind ohne den geschulten Blick eines fachkundigen Tierarztes nicht zu erkennen.
Eine der häufigsten Hormonerkrankungen, die den Hund in einen Zustand von Nervosität und Dauererregung versetzt, ist die Schilddrüsenüberfunktion (im medizinischen Fachjargon Hyperthyreoidismus).
In Folge einer Schilddrüsenüberfunktion wird der Körper des Hundes mit einem Übermaß an Energie versorgt. Das äußert sich unter anderem an einem gesteigerten Temperament und einer scheinbar grundlosen Aggression sowie einer Gewichtsreduktion und einem verstärkten Hunger- und Durstgefühl, über das der Hund versucht, seine Energiereserven zu füllen.
Die Schilddrüsenüberfunktion ist durch Medikamente gut in den Griff zu bekommen. Je nach Ursache kann ein chirurgischer Eingriff notwendig sein, zum Beispiel dann, wenn die Dysfunktion auf einen Tumor zurückzuführen ist.
Stoffwechsel:
Bereits im vorgeburtlichen Stadium passt sich der Stoffwechsel des ungeborenen Hundes an die Umgebung an. Die Erfahrungen, die die Mutter während der Trächtigkeit macht, beeinflussen ihren Hormonspiegel und damit auch den der Embryone. Stress, Angst, Schmerz, Wetterumschwünge und die Zusammensetzung des Futters werden zu wichtigen Faktoren im Zusammenhang mit der späteren Neigung zu impulsivem Verhalten. Aus evolutionstheoretischer Perspektive erfüllt diese pränatale Prägung vor allem den Zweck, den Hund möglichst gut auf die Umweltbedingungen vorzubereiten, die ihn erwarten werden. Die individuelle Ausprägung des Stoffwechselsystems ist also von überlebenswichtigem Charakter, jedenfalls in der freien Natur.
Eingeschränkte Sinneskraft:
Neben kranken Hunden sind es vor allem ältere Tiere, die auffällig sind. Hunde, die in ihrer Sinneswahrnehmung eingeschränkt sind, also zum Beispiel nicht richtig sehen oder hören können, entwickeln häufig Ängste, denen sie teils unkontrolliert Ausdruck verleihen. Die verminderte Fähigkeit, Impulse angemessen zu kanalisieren, kann deshalb im Alter nachlassen.
Verhaltensstörung als Zuchtresultat:
Überzüchtete Hunde leiden häufig an Erbkrankheiten, die genetisch verankert sind. Der Mensch fokussiert sich in der Zucht gezielt auf die Wesensmerkmale, die der Kunde fordert. Die Genetik ist jedoch multidimensional und in weiten Teilen noch immer nicht erforscht. Einzelne Merkmale stehen in direktem Zusammenhang mit anderen Aspekten, deren plötzliches Fehlen aufgrund von Selektion dazu führen kann, dass es zu neurologischen Fehlschaltungen kommt. Das experimentelle Selektieren geht deshalb zu lasten der daraus entstehenden Bausatzhunde.
Wenn die Hunderasse nicht zum Halter passt:
Die Impulsstörung eines Hundes kann auch damit zusammenhängen, dass das Lebensmodell des Halters nicht zur gewählten Hunderasse passt. Die Kaufentscheidung sollte deshalb alle entscheidenden Rassemerkmale berücksichtigen. Bestenfalls wird sie durch ein Beratungsgespräch abgesichert. “Fehlkäufe” lassen sich später nämlich nicht einfach rückabwickeln, jedenfalls nicht, ohne bleibende Schäden auf der Hundeseele zu hinterlassen.
Traumata im Welpenalter:
Die Tendenz zu aggressivem Verhalten kann neurologische Ursachen haben.
Traumatische Erlebnisse während der Präge- und Sozialisierungsphase eines jungen Hundes können die Hirntätigkeit irreparabel schädigen und spätere Verhaltensabläufe nachteilig beeinflussen. Postnatale Belastungen sind deshalb so folgenschwer, weil dem jungen Hund noch keine Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen. Je einschneidender das Ereignis, desto gravierender der gesundheitliche Schaden: Verknüpfungen innerhalb des Gehirns werden gekappt und das Lernen insgesamt erschwert.
Ernährungs- und Fressgewohnheiten:
Verhaltensauffälligkeiten beim Hund entstehen häufig aus verschiedenen Fragmenten, die ungünstig zusammenwirken. Falsch abgestimmte Futtermittel oder schlechte Fressgewohnheiten können ein solches Fragment sein.
Protein: Je höher der Proteingehalt im Hundefutter, desto aggressiver der Hund. Dieses Ergebnis konnte einer Versuchsreihe zur Verhaltensforschung am Hund1 entnommen werden.
Kohlenhydrate: Kohlenhydrate wirken auf den Hund beruhigend, weil sie den Transport von L-Tryptophan unterstützen, welches sich im Gehirn zum Neurotransmitter Serotonin verändert.
Fette: Als natürlicher Energielieferant sind Fette unabdinglich. Doch auch sie können zur Synthese von Serotonin beitragen und dadurch ein Stück weit die Kohlenhydrate ersetzen bzw. ergänzen.
Futterzeiten: Gestaffelte Mahlzeiten verteilt über den Tag beugen Verhaltensauffälligkeiten vor und sorgen dafür, dass biologische Prozesse kontinuierlich ablaufen, anstatt im Laufe des Tages einzubrechen und bei der nächsten Fütterung schlagartig wieder hochzufahren.
Territorialverhalten:
Hunde in freier Wildbahn haben ein Territorium und verteidigen diesen Bereich durch Drohgebärden vor Fremdlingen.
Das Miteinander in einem Sozialverbund funktioniert aber nur, wenn der Hund seine Revieransprüche, entgegen seiner Veranlagung, nicht geltend macht. Jedenfalls in keiner Form, die gefährlich werden kann. Spätestens beim Anspringen und bei Beißereien muss der Hund zugunsten der Allgemeinheit gemaßregelt werden. Vor allem, weil nicht nur die eigenen vier Wände geschützt werden, sondern auch der Außenbereich (Parks, Wanderroute, einzelne Objekte außerhalb der Wohnung, etc.) partiell in Anspruch genommen wird.
Störverhalten bei Stress:
Stress ist ein körpereigenes Instrumentarium der Überlebenssicherung. Wird Stress empfunden setzt der Körper Stresshormone frei, die die Reaktions- und Leistungsfähigkeit optimieren (positiver Stress).
Dadurch, dass der Fokus dem Überleben gilt, stehen dem Hund aber keine weiteren Ressourcen mehr zur Verfügung, die er braucht, um sich sozialkonform zu verhalten und etwaige Leistungsanforderungen zu erfüllen. Der Zugang zu bereits erlernten Lösungsansätzen ist bei lang anhaltendem Stress blockiert, das Denken funktioniert insgesamt nur noch rudimentär und auch die Konzentrationsfähigkeit ist vorübergehend beeinträchtigt (negativer Stress).
Stress kann im Äußeren entstehen, sich also zum Beispiel aus den konkreten Haltungsbedingungen ergeben (äußerer Stress). Er kann sich aber auch unmittelbar auf den Organismus des Hundes beziehen, zum Beispiel durch Schlaflosigkeit oder Mangelernährung (innerer Stress).
Ärger mit dem jagenden Hund:
Die Jagd wird durch bestimmte Reize eingeleitet. Das können Sichtreize sein, zum Beispiel ein Eichhörnchen, das über den Boden huscht und dabei vom Hund erblickt wird. Es können aber auch Sinneseindrücke wie tierische Gerüche oder Geräusche sein, die den Hund in seinen Bann ziehen.
Die Jagd ist eine Verkettung einzelner Teilelemente. Zu ihnen zählen das Ausschauhalten, das Aufnehmen von Fährten und das Aufstöbern von Wild gefolgt vom Treiben und Hetzen, dem Packen und Apportieren sowie dem Töten und Fressen. Der letzte Punkt schließt die natürliche Jagdsequenz ab, ist in der Arbeit mit geschulten Jagdhunden aber strikt verboten.
Im Alltag sind besonders die Jagdaspekte Ausschauhalten und Hetzen ein Problem. Befindet sich der Hund tief in einem der beiden Modi, ist er kaum noch abrufbar. Er entfernt sich aus dem Sicht- und Handlungsbereich seiner menschlichen Bezugsperson und widmet seine ganze Aufmerksamkeit dem Jagdprozess.
Der Hund jagt normalerweise nicht, weil er einen Ernährungsmangel kompensieren muss. Häufig ist es ganz einfach die Freude, die ihn währenddessen überkommt.
Ein Großteil der jagdlichen Ambition wird aber auch vererbt. Unabhängig von der Jagdbereitschaft, die dem Hund seit Anbeginn der Zeit in den Knochen steckt, weil er vom Wolf abstammt und nur durch das Erlegen von Wildtieren überdauern konnte, entscheidet die Veranlagung darüber, wie intensiv das Jagdverhalten zutage tritt.
Jagdrassen reagieren verstärkt auf Jagdreize. Sie können ihre Emotionen weitaus schlechter zügeln, als Hunde, denen dieses genetische Gepräge fehlt.
Zu den Hunderassen, die jagdlich besonders ambitioniert sind, gehören unter anderem die Weimaraner, die Setter, die Magyar Vizslas, Dackel, Bracken oder die Deutschen Wachtelhunde.
Es gibt Jagdhunde, die in enger räumlicher und kommunikativer Abhängigkeit zum Jäger arbeiten und andere, die in Eigenregie tätig sind. Hunde, die der ersten Gruppe angehören, sind in der Regel umgänglicher und weniger problematisch.
Wer Jagd- oder Hütehunde favorisiert, aber selbst in einem familiären Zusammenschluss lebt, den Hund also nicht beruflich entsprechend dessen Jagdkompetenz einspannen will, muss sich darauf einstellen, die Erziehung mit einer Menge Durchhaltevermögen betreiben zu müssen. Wichtig ist es, die Triebe des Hundes nicht ins Leere laufen zu lassen oder vollständig zu unterbinden, sondern alternative Beschäftigungen zu finden.