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1.6 Vereinfachung
ОглавлениеWie in einer Art Miniaturszenario experimentiert das Hildebrandslied mit grundlegenden Optionen, die für die Erzählgeschichte des Wettkampfs im Mittelalter leitend werden: Latenzen und Transzendenzen, Ein- und Auslagerungsstrategien, aber auch semantische Konzepte von List und Fügung prägen maßgeblich die Versuche, Differenz mit narrativen Mitteln zu vervielfältigen. Was das Heldenlied des 9. Jahrhunderts gleichsam als Vorspiel aufscheinen lässt, etabliert sich in Erzähltexten des Hochmittelalters zu stabileren und umfangreicheren Typen.
Im älteren Hildebrandslied jedoch ist dieser Moment flüchtig, denn rasch löst sich die Konstellation in eine weitaus einfachere Form auf. Während der Verkennensdialog die Komplexität der Anerkennung steigert, bringt sie Hildebrands Reizrede (ab V. 50) auf das ungleich simplere Muster eines Rechtskampfes zwischen Alt und Jung.1 Dem sekundiert schließlich auch die Erzählinstanz, indem sie Akteure und Vorgänge im Kollektivplural verschmelzen lässt (V. 63–68): Lanzen und Schwerter fliegen, Schilde bersten. Der verwickelte Streitdialog weicht einer schematischen Handlungssequenz, die nichts mehr kontingent lässt: Unbestimmte Differenzen von Kalkülen und Kontexten werden gelöscht, Figuren kondensiert. Solcher Kampf experimentiert nicht länger mit Vielfalt, sondern kriecht in die formularische Poetik traditioneller Heldenepik zurück,2 welche die Grundform des Wettkampfs auf den gemeinsamen Rhythmus von Angriff und Verteidigung beschränkt.3 Hier, am Nullpunkt der Vereinfachung, bricht das Fragment denn auch ab. Offen bleibt zwar der Ausgang des Waffengangs, aber seine Möglichkeiten sind einfach strukturiert, wenn nicht sogar von Sagenerwartungen eindeutig bestimmt: Das ›sowohl – als auch‹ zwischen den Heeren wird zum ›entweder – oder‹ der Entscheidung.4 Die Erzählliteratur des hohen Mittelalters wird ihre Kampferzählungen zu längeren Formen ausbauen, in denen solche Zwischenräume wachsen, bevor Reduktionen greifen oder Entscheidungen fallen.