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2.3 Internalisierung auf Zeit: Das Traumodell der Visio Philiberti

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Diese Ausrichtung von Streitkommunikation kehren Erzählungen um, die Seelenkämpfe weniger als Ordnung sondern vielmehr als Verstrickung des Selbst entwerfen. Damit entstehen neue Konsistenzen, aber auch neue Komplexitätsformen, die statt auf Außen- in Innenseiten entwickelt werden. Sie erschließen damit das Wettkampfsubjekt als Raum komplexer Selbstverhältnisse.

Von Entwicklungen zu sprechen, wäre aus mehreren Gründen vorschnell. Zum einen bedarf es weiterer überlieferungs- und diskursgeschichtlicher Grundlagenstudien, um die Traditionsübergänge von lateinischen und volkssprachlichen Seelenkampf-Texten umfassend zu rekonstruieren. Zum anderen scheint die Frage nach Entwicklungslinien problematisch, weil einige der fruchtbarsten Experimente zugleich längste Dauer und größte Verbreitung zeigen.

Das in der lateinischen Literatur des Mittelalters prominenteste, von über 166 Handschriften bezeugte und in zahlreiche Sprachen übersetzte Experiment dieser Art bildet ein kurzer Streitdialog des 12. Jahrhunderts, in dem die Seele eines kürzlich Verstorbenen vor dessen Körper tritt. Nach seinem Erzählrahmen ist der Visionsbericht als Visio Philiberti bekannt.1 Eine Seele beschuldigt darin den mit ihr zeitlebens verbundenen Körper, beide durch üble Neigungen (V. 36: ad scelera)2 drohenden Höllenqualen ausgeliefert zu haben: Per te nobis misera est in inferno sedes (V. 24). Was immer den Körper in der Welt verlockt habe – materieller Besitz, Ansehen bei Freunden und Verwandten –, all dies sei mit dem Tod hinfällig. Der Körper antwortet mit einem Gegenvorwurf: Wenn Gott ihn zur Dienerin der Seele erschaffen habe, weshalb habe diese dann ihre Führungsrolle als domina vernachlässigt und so viele Übertretungen gestattet?3 Nichts vermöge der Körper ohne die belebende Seele (V. 122: Caro sine spiritu nihil operatur); wenn diese ihn zu züchtigen versäumt habe (V. 120: caro nam per spiritum debet edomari), trage sie daher Mitschuld (V. 132f.). Dies räumt die Seele zwar ein (V. 159), doch nicht ohne dem Körper seine Schwäche vorzuhalten: Allen Disziplinierungsversuchen durch die Seele habe er sich widersetzt, um desto bereitwilliger den Verlockungen der Welt nachzugeben (V. 151–154). So lange ringen die Streitpartner um Fragen der (Mit-)Verantwortung und (Teil-)Schuld und verwünschen einander, bis die Seele schließlich von zwei gehörnten Dämonen gefangen und in die Hölle gezerrt wird. Verspätete Reue verfängt nicht – schreckerfüllt erwacht das Ich aus seiner Traumvision und schwört allen materiellen und sozialen Verlockungen der vergänglichen Welt ab (V. 305–312).

Wie die Zusammenfassung spiegelt, ist der Dialog einfach strukturiert. Innerhalb der Rahmenverse des Visionsberichts vervielfältigt der Streitdialog die Wettkampfform durch ingesamt fünf Wechsel von Anklage-, Verteidigungs- und Schmeichelreden zwischen Seele und Körper.4 Abgesetzt durch den erzählten Auftritt der Dämonen fügt sich daran ein weiterer einfacher Wechsel von Gebet und Verhöhnung zwischen Seele und Teufeln, bevor sich mit dem Visionsrahmen die gesamte Erzählform schließt. Die Visio Philiberti fügt somit in eine Erzählform der einfachen Ein- und Auslagerung (Visionsrahmen – Binnendialog – Visionsrahmen) eine potenzierte Form der Einlagerung (Streitdialog) und eine nebengeordnete Teilform (Invektive von Dämonen und Seele) ein. Vor dem Hintergrund der zuvor betrachteten Fälle besteht somit ein diskursgeschichtlich neuer Schritt darin, den Konflikt vor allem auf der Innenseite der Form des Subjekts zu vervielfältigen.

Gleichwohl steigert die Visio wirkungsvoll ihre Komplexität, indem sie die Teile ihrer Wettkampfform sowohl miteinander koppelt als auch voneinander löst. Die Abfolge von Schlafen, Träumen und Erwachen ruft ein psychonarratives Leitmodell auf, das diese Dynamisierung des Selbst paradox rahmt: Wer schläft, wird zum inaktiven Objekt der Wahrnehmung, doch wer dabei träumt, ist als mentales Subjekt der Imaginationsarbeit aktiv gefordert.5 Gerade dadurch begünstigt der Traum eine »Vielfalt imaginativer Variationen«: Zwar bleibt der Schläfer derselbe, doch entwirft er sich selbst als ein anderer.6

Dieses Widerspiel und seine produktiven Effekte möchte ich anhand einer Bearbeitung der Visio näher beleuchten, die der Wiener Arzt und Dichter Heinrich von Neustadt um die Wende zum 14. Jahrhundert anfertigte.7 Sie belegt nicht nur die Resonanz des Visionstextes in der deutschsprachigen Literatur des Spätmittelalters, sondern verstärkt insbesondere durch erweiternde Bearbeitung das Verstrickungspotential des inneren Wettkampfs.

(1.) Entkopplungen. Einerseits berichtet die Visio Philiberti von zahlreichen Ablösungen. Zu Beginn löst sich der Geist geradezu sprunghaft aus dem schlafenden Körper: Der geist wart im verzuecket, / Daz er quam in einen twalm (V. 8f.). Im Traum wiederum hört dieser einen geist, der sich vom Körper gelöst hat und wider kehrt (V. 17).8 Auch im Streitdialog steht diese Trennung zur Debatte, wenn die Seele nach ihrer ersten Rede mit Aufbruch droht und der Körper dies bekräftigt:

[Seele zum Körper:]9

Ich mag niht lenger mich gesparn,

Ich m uo z ietze von hinnen varn.

(V. 171f.)

[Körper zur Seele:]

Ich wil nit reden me mit dir:

Sele min, nuo var von mir!

(V. 247f.)

Auch die Bezeichnungen der Wahrnehmungs- bzw. Sprecherinstanzen tragen dazu bei, Erzählrahmen und Binnendialog tendenziell zu entkoppeln und in ein unbestimmtes Schwebeverhältnis zu bringen. Berichtet der narrative Visionsrahmen zunächst, wie ein geist (lat. spiritus) die Klage eines geistes beobachtet habe, so löst sich der Streitdialog von seinem Rahmenbegriff: Ab der Doppelformel lip und sele (V. 163) adressieren sich die Konfliktpartner als sele (lat. anima) und lip, corper und fleisch (für lat. corpus).10 Auch den anthropologischen Entwurf prägt in seinem thematischen Kern ein Problem der Ablösung. Körper und Seele sind zwar in Schuld verbunden, aber nicht in der drohenden Strafe. Anders als bei Tieren habe Gott die menschliche Seele gerade nicht unlöslich mit dem Körper verbunden, wodurch sie auch mit diesem zusammen vergehen müsste, sondern vielmehr ablösbar geschaffen, weshalb sie Qualen in der helle loch (V. 430) zu fürchten habe. Das Argument der Unabhängigkeit der Seele richtet sich damit in provokanter Weise gegen deren Schöpfer: Nu we mir, daz ich ie wart / Gotes geschepfede nach der art / Daz ich mensche bin gewesen! (V. 415–417). Ablösung befördern, inhaltlich wie formal, schließlich auch die intervenierenden Teufel am Ende des Dialogs, indem sie die Streitpartner, zuvor in mehrfachen Wiederholungen verstrickt, jäh trennen und den Streitdialog begrenzen.

(2.) Kopplungen. Andererseits verstärkt der Text verschiedene Kopplungen, welche Erzählform und Instanzen durchgängig verbinden. Dies zeigt gleich zu Beginn die Rahmenerzählung, die erzählendes Ich und Selbstinstanzen des Streitdialogs aufeinander bezieht. Gleitend verschiebt sich die Referenz: Im Traum werde der geist eines schlafenden Mannes entrückt (V. 5–9), der eine Stimme klagen hört (V. 10–15), die zunächst different klingt (V. 14: fremede). Umstandslos fährt der Bericht fort, wie der geist zu einem jüngst verstorbenen Körper zurückkehre (V. 16–20). Erst mit der belauschten Klage erschließt sich diese Differenz, die gleichwohl rückbezogen bleibt: Der Alterität akustischer Wahrnehmungsbeschreibung treten Pronomina zur Seite, die Identität des grammatischen Subjekts nahelegen. Hört der Geist des Träumenden also im Traum sich selbst oder einen anderen? Die gleitende Referenz der Anfangspartien verwischt diese Unterscheidung strategisch. Träumendes und streitendes Subjekt werden auf diese Weise lose gekoppelt.11 Darauf greifen auch die schließende Rahmenpartien zurück, die das Ich des Träumers als beobachtenden Geist re-identifizieren und die Vision als eigenes Widerfahrnis des Subjekts werten: Wie ist mir suender geschehen / Daz ich diz wuonder han gesehen! (V. 567f.)12

Auch innerhalb des Streitdialogs bleibt die Seele trotz angedrohtem Aufbruch fortgesetzt beim Körper und verwickelt sich in das gemeinsame Streitgespräch: Est gut daz ich noch blibe / Umb diese rede schiere / Und mit dir dispuotiere (V. 250–252). Die Form der disputatio,13 reduziert auf die Grundgestalt argumentativer Wechselrede, koppelt so die Gegner performativ umso fester aneinander, je entschiedener sich diese voneinander abzusetzen behaupten. Obgleich Gott die Seele zur Herrscherin (V. 202: frauwe) über den Körper als ihrem diener (V. 200) bestimmt habe, seien beide im Leben aufeinander angewiesen, wie der Körper mehrfach unterstreicht. Nicht nur Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsvermögen habe Gott der Seele verliehen, sondern auch die Kraft der Belebung (V. 345–348); ohne die Seele sei der Körper also zu keinerlei Tätigkeit in der Lage, nicht einmal überlebensfähig (V. 223–226). Wenn beide miteinander nach dem Tod leiden müssten (so erwartet es die Seele: V. 160–163), dann deshalb, weil beide schon im Lebenszusammenhang als organische Einheit verbunden gewesen seien (so bestätigt es der Körper: V. 387f.). Gegenläufig zu den Entkopplungswünschen der Seele betont somit der Körper eher die funktionale Kopplung und Interdependenz beider.14

Solcher Kopplung verleihen die Teufel am Ende der Vision im wahrsten Sinne des Wortes Substanz. Sie schlagen Eisenhaken ›tief in die Seele‹ (V. 501), zerren sie zu einem Höllenfeuer, wo sie ihr Haut und Bauch aufschlitzen, kochendes Blei und Kot einflößen und die Augen verätzen:

Sie warn an der martel snel:

Sie zarten ir abe daz fel

Die siten und den r ue cke,

Daz ir nirgen st ue cke

Bi einander bliben waz.

(V. 521–525)

Das Folterprogramm verleiht der Seele auf diese Weise einen metaphorischen Körper,15 den auch die lateinische Visio explizit benennt (V. 286: a toto corpore pellem abstraxerunt). Umgekehrt hatte auch die Seele zuvor dem Körper basale Fähigkeiten zur Selbstlenkung zugesprochen: Stets sei dessen sin (V. 276) auf irdische Angelegenheiten gerichtet gewesen, weshalb er nun [u]z bitterlichem hertzen (V. 358) bereue.

Dies führt in Ansätzen zu paradoxen Überkreuzungen von Körper und Seele, wie sie Seelenkämpfe wie die Klage Hartmanns von Aue in den Mittelpunkt rücken. Als entscheidende Neuerung gegenüber externalisierenden Modellen der Seelenkampf-Tradition sucht die Visio Philiberti die Streitpartner nicht einfach zu scheiden. Systematisch zielt der Text vielmehr auf ein Selbstverhältnis loser Kopplung, das zwischen funktionaler Differenz und Einheit, hierarchischer Subordination und reziproker Koordination fortgesetzt oszilliert – bis auch hier Teufelsfiguren den Abbruch erzwingen.

(3.) Verstrickungen – Konsistenzgewinne im Widerstreit. Das Selbst des exemplarischen Menschen, das sich im Traum kurzzeitig vervielfacht, sieht sich damit als Widerstreit von eigenständigen und abhängigen Instanzen. Der mittelhochdeutsche Text bringt diese Kommunikationsbeziehung der Selbstbegegnung auf den Begriff: Ich han die wort verstricket dir (V. 173, Herv. B.G.) – im Streitdialog markieren Geist, Seele und Körper nicht bloß gegenstrebige Positionen, sondern verflechten diese miteinander. Wenn Streit generell kommunikative Verbindlichkeit schafft, so verschiebt sie das Kampfmodell des Selbst in zweifacher Weise. Er führt einerseits zu Verlusten von externer Rückversicherung und Feedback: Statt auf imaginative, heilsgeschichtliche oder soziale Außenräume auszugreifen,16 schließen sich Selbstbezüge als Kommunikationskreislauf ein und destabilisieren ihre Fremdreferenz. Dementsprechend sieht sich die Seele von ihrem Schöpfer verlassen, während sie mit dem verfluchten Streitpartner des Körpers umso enger verbunden ist (V. 413–430).

Dies eröffnet andererseits neue Gewinne an interner Konsistenz. Statt disjunktive Ordnung im Menschen vorzustellen, wie es das Leitmodell der Psychomachia unternimmt, kostet der Visionsdialog umgekehrt aus, den rehten orden (V. 288) anthropologischer Grenzziehungen zu verwirren. Die Rahmenerzählung der Traumvision wie auch der Streitdialog produzieren Übergriffe, die formal gesehen Eingriffe in die Gegenseite der Unterscheidung bedeuten und die Form des Selbstverhältnisses in sich fortlaufend überkreuzen. Seele und Körper klagen einander an und gehen aufeinander ein, betrachten sich als Gegner und Partner zugleich, als geselle in der Hölle (V. 51), die gemeinsames Leiden teilen (wir beide: V. 68, 77, 292; vgl. auch V. 160: mit mir liden); während jeder dem anderen Übertretung ankreidet, erkennen sie einander als zugehörig an (V. 142: armer corper; V. 433: arme sele min); bald beschimpfen sie wüst die Verfehlungen des anderen, dann überhäufen sie sich – im deutschen Text konsequent fortgeführt – mit performativen Höflichkeitssignalen (während der Körper die Seele als ›Herrin‹ adressiert, siezt diese zurück: Ir lip [V. 253], Her lip [V. 443]). Rasch kommen beide überein, dass statt pauschaler Schuldzuweisungen beide Seiten als belastet, beide als ›teilweise‹ miteinander verstrickt zu betrachten sind und daher beide ›teilweise‹ im Recht sind:

[Körper:]

Ein teil mag sin wol wesen war,

Daz ander nit als umb ein har

(V. 185f.)

[Seele:]

Du hast ein teil doch war gesagt:

Ez ist der warheit auch wol glich,

Schuldig bin ein teil ich.

(V. 262–264)

Auch dies verstärkt paradoxe Verschränkungen der Wettkampfform: Trennung fordert abwägende Perspektiven, die Anthropologie der Hierarchie (Herrschen und Dienen) betont zugleich Momente der Koordination.

Komplexität erhöht diese Überkreuzungsstruktur, indem sie Grenzverletzungen in verschiedene semantische Räume einzeichnet. Unter Vorzeichen der Macht erscheint das Selbst dadurch als Herrschaftsverband mit unscharfer Abgrenzung von Kompetenzen und Gewalt,17 in rechtlicher Perspektive als Komplizenschaft mit beiderseitiger Teil-Schuld. Die mittelhochdeutsche Bearbeitung geht über die lateinische Vorlage noch hinaus, indem sie außerdem Konnotationen erotischer Verführung verstärkt: Der Seele hält der Körper vor, ihm wie eine Herrin dem Diener nach dez fleisches site (V. 232–234) nachgegeben zu haben. Auch die Seele konzediert Verführbarkeit: doch zuge mich / Mit suezzer truegenheit an dich (V. 289f.). Macht, Recht und Begehren stellen damit drei semantische Felder, um das Selbst als Unterschiedenheit in Einheit zu dynamisieren.

Der Dialog stellt diese Dynamik des Widerstreits in seinen strukturellen Mittelpunkt. Weder geht es strenggenommen um die psycho-physische Konstitution des Menschen (der Visionstext ist weder medizinischer noch theologischer Traktat), noch etwa darum, nach dem Muster des Prudentius Ordnung herzustellen. Unordnung menschlicher art (V. 416) wird vielmehr verhandelt und dadurch ausgeformt.18 Verschiedene Meta-Signale bezeichnen diesen Wettstreit. So eröffnet den Streitdialog etwa die etablierte Wettkampfmetapher des Schachspiels;19 provokant klagt die Seele über das widerstrebige Arrangement mit dem Körper; auch die Wirkungsabsicht des gesamten Textes zielt primär auf mentale Beunruhigung, die erst sekundär zur Ruhe führe:20

Ich han ez darumb furbraht:

Vil lihte git ez andaht.

Wer es in gnaden lesen h oe rt,

Sin gemuete wirt zerstort

Und gewinnet da von ruwe

Und lihte dugent n ue we.

(V. 587–592, Herv. B.G.)

Was die Vision für den Rezipienten als mentalen Ruhezustand anpeilt, ist textintern der Konsistenzgewinn einer unruhigen Modellperson. Während der lateinische Text am Ende nur knapp mit einem Konversionsgebet auf das Rahmen-Ich zurückschließt (V. 305–312), weitet Heinrichs Bearbeitung die Reaktion des erwachenden Ich auf vierfachen Versumfang aus (V. 563–592) und gestaltet über die Redewiedergabe des Stoßgebets hinaus aus, wie die Traumvision zur Gedankenrede verarbeitet wird. Die Streitpartnerschaft verflochtener Gegner verfestigt somit auf narrativer Ebene des Traumberichts das Selbstverhältnis zu einem Ich, das dem unbestimmten Schläfer des Textauftakts (V. 5: ein selig man) konkretere Kontur verleiht. Wenn die Heidelberger Handschrift inseriert, der abschließende Rahmenbericht sei Dez meisters rede (fol. 56), greift dies eine Personalsemantik auf, mit der die Streitpartner ihre schwankende Ordnung absteckten: meisterschaft (V. 277) hatte die Seele reklamiert, um ihre Dominanzansprüche zu bezeichnen, die am Körper scheiterten, wie sich umgekehrt der Leib auf gelehrte meister (V. 339) der Herrschaftstheorie beruft, um seine Sicht zu untermauern. Meisterschaft bezeichnet damit eine paradoxe Streitbeziehung, die sich schließlich in der Rahmenperson des ›Meisters‹ bündelt – die lateinische Überlieferung der Visio verwendet an dieser Stelle den Begriff des auctor. Seine Identität erwächst aus der Turbulenz des Wettstreits.21

Dieses Konsistenzangebot trägt die Vision schließlich auch an den Rezipienten heran, indem sie diesen in ihre Anredestrukturen zu verstricken sucht. So reiht die erste Anklagerede der Seele anaphorische Vorwürfe, die über den Fiktionsrahmen weit hinausgreifen:

Du bist in den tornen niht

Die man mit quader steinen siht;

Du bist nit in dem palas

Da din wirtschaft inne waz;

Du lijst uf dem blozen bret

Dar uf man dich zu grabe dret.

(V. 33–38 etc.)

Wo ist n uo der wingart berg?

Wo sint n uo die vorwerg?

Wo sint n uo die palast,

Die torne die du gemaht hast?

Wo sint die golt ringelin?

Wo sint die guldin vingerlin?

Wo ist din gut, du veiger sot,

Daz dir lieber waz dann Got?

(V. 87–94 etc.)

Dass diese Kaskaden strategisch auf den Rezipienten zielen, wird an Vorwürfen deutlich, die gegenüber dem fiktionsinternen Körper tendenziell widersinnig, als allgemeine Vergänglichkeitsmahnungen hingegen stimmig zu lesen sind: Du muost vor war ein spise sin / Den maden und den wormen, / Die dir den lip zerstormen (V. 104–106). Nicht dem Körper, sondern dem Menschen (und dies schließt den Modellmenschen der Rahmenerzählung ein!) wird der Körper zerfressen.

(4.) Streit auf ZeitBegrenzungen von Latenz. Diese Konsistenzbildung durch Widerstreit wird dem Innen des Selbst zugerechnet. Explizit vermerkt die lateinische Visio, das träumende Ich wähne sich beim Erwachen wieder außer sich versetzt (V. 306: extra me positus). Wenn Verstrickungen dieses Ich verfestigen, so ist der Streit von vornherein zeitlich begrenzt: Streiten kann die Seele nur, wenn und solange sie Zeit hat (V. 139: dum tempus habeo), das Gespräch muss daher rasch geführt werden (V. 251: schiere). Wenn die plötzlich intervenierenden Teufel diese Begrenzung eintreiben, wird der Streitdialog keineswegs transformiert, sondern krass abgebrochen, das Formergebnis unvermittelt auf die Rahmenperson zurückgespielt.

Die Visio Philiberti verstärkt damit latente Strukturbildung, begrenzt diese jedoch zugleich. Vervielfältigend wirkt dabei weniger ihre thematische Drohkulisse – z.B. dass man weder im Kloster noch auf der Adelsburg vor innerem Konflikt sicher sei (V. 450–457) –, sondern vielmehr die Formperspektive innerer Selbstverstrickung mit temporären Haltepunkten. Die Form des Wettkampfs produziert einen alternierenden Streitdialog, der in den Kontext eines Traumes ein- und schließlich auf die Erzählebene des erwachenden Ich ausgelagert wird. Vorgebildet ist damit eine neue Form von Selbstverhältnissen, die besonders für plurale Personenentwürfe bedeutsam wird, wie sie auch die höfische Epik des 12. Jahrhunderts entdeckt:22 Ihr Ergebnis sind Verhältnisse der Selbstdifferenz durch Wettkampf, die mit Krisen und Konversionen nicht einfach abgelegt sind, sondern Paradoxien in sich speichern, die jederzeit wieder dynamisch hervorbrechen können. Symbolische Innenräume – vom Herz bis zum Traum – stehen dafür in langer diskursgeschichtlicher Tradition. Doch wird im Hochmittelalter ein besonderes Interesse greifbar, diese Innenspeicher als Medien der Vervielfältigung zu nutzen.

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