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2.4 Der Streit in mir: Zur Klage Hartmanns von Aue
ОглавлениеFrüher als Heinrichs Bearbeitung der Visio, doch systematisch aufbauend auf Modelle wie die Streitvision ist die Klage Hartmanns von Aue anzusetzen. Ihr Experiment1 geht dahin, die widerstreitende Innensphäre noch weiter von Außenreferenzen abzukoppeln und gleichzeitig das Verstrickungspotential der Wettkampfform zu vertiefen. Hartmanns unikal im Ambraser Heldenbuch überlieferter Streitdialog entwirft den Menschen im »inneren Kampf« mit sich selbst und hält ihn auf Dauer »auf dem inneren Schauplatz der Wahrnehmung« des Widerstreits.2 Der Streit auf Zeit wird ein êwiger strît (V. 900) des Selbst.3
Voraussetzung dafür schaffen fundamentale Irritationen, welche die nach außen gerichtete Kommunikationsbeziehung erschüttern, nach innen wenden und dort sich selbst gegenübersetzen. Hartmann konfrontiert in Gestalt von Herz und Körper zwei Streitpartner, deren Zusammenspiel grundlegend gestört erscheint:4 wir sîn niht rehte zesamen geweten, so beklagt sich das Herz,
wan wir ziehen niht gelîche.
man solde uns wærlîche
von ein ander scheiden;
daz kæme uns rehte beiden.
(V. 908–912)
Solcher Wunsch, doch besser getrennt zu werden,5 entspringt nicht bloß einem unbalancierten Ordnungsproblem im Nachklang des Sündenfalls, wie die ältere Forschung diskutierte;6 der Dissens zwischen Herz und Körper betrifft nicht bloß die Modellperson des verliebten jungelinc (V. 7), der wenige Verse darauf fiktionsintern als von Ouwe her Hartman konkretisiert wird (V. 29),7 dessen geistig-physische Einheit durch die Erfahrung unerwiderter Liebe aus dem Lot geraten ist. Störungen – gestörte Unterordnungen8 wie gestörte Nebenordnungen – greifen auf allen Ebenen der Klage um sich, wie im Folgenden zu zeigen ist.
Dies setzt bei der Problemschilderung verweigerter Beziehung an, von der Hartmanns Dialog ausgeht. Mit der abweisenden Dame wird, gewissermaßen als Rollenzitat des Minnesangs, zunächst die Dimension des ›alter‹ als unzugänglich erlebt: ich enweiz, konstatiert der Körper, war umb si mir niht ist guot (V. 98). Für den Fall, dass die Umworbene doch noch seinem Willen nachkomme, habe der Jüngling seinen Kummer zu verbergen gesucht. Dies habe ihn in die Latenz eines Selbstgesprächs getrieben:
er klagete sîne swære
in sînem muote
und hete in sîner huote,
sô er beste kunde,
daz ez ieman befunde.
(V. 24–28)
Zum Selbstgespräch wird der Seelenkampf also, weil ›in sich‹ leichter zu artikulieren ist, was nach außen auszusprechen in ungleich höheres Risiko der Verweigerung führen müsste. Liebe als riskante Kommunikation wird zur Artikulation sich selbst gegenüber. Doch verwickelt solches Reden um des Schweigens willen in neue, nämlich paradoxe Anstrengungen (V. 31: durch sus verswigen ungemach). Denn in sich entdeckt sich nun auch das ›ego‹ als unzugänglich, sobald es die Selbstbeziehung dialogisiert, also die bloße Artikulation in eine Auto-Kommunikationsbeziehung zu verwandeln sucht.9 Auch voreinander wissen Körper und Herz nicht, was der andere erkennt (z.B. V. 480f.) oder beabsichtigt (z.B. V. 521–524), sie bezichtigen sich der Lüge und Verirrung, herrschen sich gegenseitig an, doch zu schweigen (vgl. 316–319; 654, 804 u.ö.), um dafür jeweils umso ausführlicher das Wort an sich zu reißen. Obgleich eine sêle als »lebensspendende[s] Prinzip« beide vereine (V. 1034f.),10 betont der weitaus häufigere Klammerbegriff psychophysischer Einheit zugleich ihre Trennung: Uns dienet niht gelîcher muot (V. 945, Herv. B.G.). Das Problem äußerer Unerreichbarkeit des Anderen, von dem sich der Jüngling in den inneren Streitdialog zurückzog, schachtelt sich in diesen ein und potenziert Gestalten der Isolation. Aus der Gesellschaft ziehe sich der Körper ganz allein dorthin zurück, dâ nieman ist wan mîn (V. 381); während der Körper schläft, wacht das Herz wiederum einsam in Sorgen (V. 695–701). Intransigenz ermöglicht und stimuliert damit Wechselreden, in denen sich Selbstinstanzen gegenübersetzen und zugleich fortlaufend eng aneinander anschließen. Ihren Höhepunkt findet dies in stichomythischer Rede (V. 1168–1268), die darauf basiert, dass beide engstens miteinander sprechen, doch ohne den Wissenshorizont des anderen zu besitzen.11 Semantisch gipfelt sie in der Kampflogik der Fehde: Statt an ihrer friuntschaft funktionaler Interdependenz festzuhalten (V. 421, vgl. schon ab V. 59), beschreiben sie ihren Konflikt als Blutrache (V. 385–393) und wünschen sich gegenseitig den Tod (V. 41, gemeinsamer Suizid: V. 71; ehrenhafter Freitod: V. 396f.) – doch ohne ihre Kommunikation je zu unterbrechen.
Wie die folgende Analyse in vier Schritten nachzeichnet, liegt darin ein produktives Paradox,12 das die Form der Latenz innovativ ein- und ausfaltet, ohne sich zu blockieren. (1.) Hartmann verstärkt dafür Szenarien kommunikativer Kontingenz, (2.) welche der Streitdialog als Selbstbeziehung im strukturellen Sinne unterläuft. (3.) Formal betrachtet verwandelt solches Erzählen eine geschürte Krisenerfahrung der Kontingenz in eine Kommunikationsbeziehung der Latenz, die zwar Probleme zuspitzt und Lösungsangebote generiert, aber genau genommen weder problematisch noch lösungsorientiert funktioniert. Bis heute begründet dieses Doppelprofil sowohl Reiz wie Schwierigkeiten des kurzen Textes, der einerseits programmatische Aussagen, aber ebenso fortwirkende Dissonanzen bietet. (4.) Statt eines ethischen oder erkenntnistheoretischen Programms13 führt solche latente Verinnerlichung zu keiner festen Position: Wenn die Klage mit einem Lob der stæte schließt, wird dies angestoßen von der Dynamik eines Wettstreits, der statt auf Erkenntnis oder Ordnung auf permanente Fortsetzung zielt.
(1.) Von Unsicherheit zur Schweigekunst: Kontingenzverstärkung. Noch vor alle Fragen der anthropologischen Organisation und Seelenkonzeption stellt die Klage ambivalente Erfahrungen mit kommunikativer Kontingenz.14 Die Gedanken sind frei (V. 132; vgl. auch 1049) – doch ist damit im Umkehrschluss grundsätzlich zu bezweifeln, je verlässlich auf Absichten und Erfahrungsdimensionen des Kommunikationspartners schließen zu können. Nicht bloß an Zurückweisung leide das Rahmen-Ich, so rekapituliert der Körper zu Beginn des Dialogs, sondern vielmehr an den uneinschätzbaren Intentionen seiner Dame: ir muot ze fremder wîse stât (V. 112) – ouwê daz sî mir niht enseite / wes sî von mir geruochte (V. 194f.). Unverhoffte Widerstände der Dame gehören selbstverständlich zum topischen Argumentationsschatz des Liebesdiskurses, den die höfische Lyrik des Hochmittelalters kultiviert (und bes. V. 88f. und 113 zitieren). Und dass Innen- und Außenreferenzen sich weder kommunikativ noch ästhetisch decken müssen, weist weit über die höfische Literatur des Mittelalters hinaus.15 Aber Hartmann verdoppelt diese grundsätzliche Kontingenz zu einem komplexeren Kalkül, das der Körper zu einem allgemeinen Krisenszenario der ungewisheit ausweitet (V. 227, insgesamt V. 217–286).16 Es umfasst sämtliche Akteure des Kommunikationsspiels Liebe, nämlich auch die Frau könne grundsätzlich nicht wissen, ob der Wahrheit entspreche, was Männer mit eiden (V. 223) beschwörten. Schlecht sei es denjenigen Frauen ergangen, die im Vertrauen auf Liebeserklärungen (V. 231: ûf stæter minne wân) den Wünschen von treulosen Männern mit schlechten Absichten folgten, welche sie nach erreichtem Ziel lieblos fallen ließen, während diese sich öffentlich ihres Erfolgs rühmten. Exempel solchen Betrugs (bilde, V. 267) verstärkten leit (V. 228), indem sie allseits um sich greifen: einerseits als schlechter Anreiz für Männer, auf den Spuren des Teufels ebenfalls Frauen zu betrügen (V. 250f.;17 V. 265–271); andererseits als warnendes Beispiel für Frauen, jeder Aussage als lügelicheit (V. 282) zu misstrauen und sich aller Interaktion zu entziehen. Das Leitwort der stæte bringt diese Krisengeschichte von enttäuschtem kommunikativen Vertrauen (V. 231) zu permanenter Täuschungsfurcht in Kommunikation auf den Begriff.18 Liebeserfahrung liefert somit zwar den Anlass, nicht aber den Problemgrund solch allgemeiner »Erkenntnisunsicherheit«, die im Anspruch von Intimkommunikation allenfalls besonders intensiv erfahrbar ist.19
Entscheidend für das Wettkampferzählen der Klage sind die Verstärkungseffekte dieses Kreislaufs. Sie gehen von der Stimme des Körpers aus, der die kommunikative Unerreichbarkeit der Dame als Kontigenz für beide Seiten reflektiert. Wie nimmt die Dame meine Äußerungen wahr, wenn grundsätzlich zu bezweifeln ist, ob solchen Äußerungen innere Einstellungen entsprechen?20 Was kann ich dann überhaupt sagen (V. 301)? Doch läuft der Zweifel nicht nur vom ›ego‹ zum ›alter‹. Schon die Eingangsverse der Klage leiten daraus auch umgekehrt ab: Wenn Frauen artikuliertes Begehren als lügelicheit betrachten, d.h. als prinzipiell kontingent misstrauen, und sich infolgedessen zurückziehen, wie lassen sich dann noch Chancen zum Gelingen wahren? Das Exempel der Anderen inkorporiert Hartmann im wahrsten Sinne des Wortes als eigene Sorge (vom ›alter‹ ins ›ego‹):21 des kreftigônt die sorgen mîn, / wan so fürht ich daz sî [= meine Dame, B.G.] mirz ouch tuo (V. 290f.). Jeder Versuch, die Dame der eigenen Absichten zu versichern – nach innen zu bringen, wie der Körper sagt (V. 106) – riskiert neuerliches Scheitern: dâ mite hân ich sî verlorn (V. 110). Um dieses Risiko zu entschärfen, entscheidet sich das Rahmen-Ich zu schweigen und stattdessen in sinem muote zu klagen.22 Im Unterschied zur öffentlich artikulierten herzeklage (V. 288), die den Kreislauf des Misstrauens nur wiederholen würde, wählt die Klage den Weg in narrative Latenz, die paradoxerweise ausstellen kann, was sie als verborgen erklärt.
Hartmann bezeichnet diese Redeform als list (V. 307), weil sie dadurch neue Komplexitäten kommunikativer Selbstbeziehung bahnt – »Unerreichbarkeit« der Dame und Vertiefung des Ich sind zu Textbeginn interdependent.23 Das Narrativ vom Kampf in der Seele wird damit zu einer autokommunikativen Latenzform zweiter Stufe, welche die Kontingenz der täuschungsanfälligen äußeren Rede zur Kontingenz verborgener Gedankenrede verpuppt.24 Dass dieses Erzählen unter den Bedingungen doppelter Kontingenz einem einzigen Kalkül entspringt, unterstreicht Hartmann mit einem polysemen Einheitsbegriff,25 der schon zu Beginn des Streitdialogs unübersteigbare Differenz markiert: Der muot der Dame sei ze fremder wîse entzogen (V. 112; vgl. auch V. 97), wie auch der Körper den muot seines Begehrens vor ihr verheimlicht (V. 99; vgl. auch V. 134 u.ö.).
Doch weder steht damit ein bloß theoretisches Kommunikationsproblem in Rede noch eine bloß negative Fassung von Ungewissheit menschlicher Existenz, wie sie die Seelenkampfliteratur vom Früh- bis zum Spätmittelalter durchspielt,26 sondern eine dialogische Produktionsform im erzählerischen Rahmen. Ihre Produktivität zeigt sich nicht nur daran, dass die Reflexionen über kommunikative ungewisheit den Übergang vom Rahmen-Ich zum Streitdialog von Körper und Herz herstellen. Auch systematisch lässt sich von hier aus der experimentelle Zug der Klage genauer rekonstruieren. Wenn höfische Kommunikation um 1200 in besonderer Weise von doppelter Kontingenz fasziniert und belastet ist, so wird die Form der inneren Klage als Ausweg lesbar, die radikale Kontingenz des Anderen zu respektieren, ohne auf Kommunikation verzichten zu müssen.27 Grundlage bieten Gestaltungsfreiräume der literarischen Adressierung und erzähltechnischen Konventionen: An die Stelle des / der Anderen als Adressat von Kommunikation setzt die Klage Selbstinstanzen, die bald synekdochisch das Gesamtselbst repräsentieren, bald als partikulare Streitpartner von begrenztem Eigenhorizont argumentieren;28 statt den Weg der Kommunikation über die ungewisheit epistemischer Diastase laufen zu lassen, eröffnet literarische Psychonarration den Blick in den vermeintlich unerreichbaren muot.29 Beides ist paradox: Inszeniert werden sowohl der »Ausfall der Kommunikation« als auch der »Prozess der unmittelbaren Artikulation des muotes«.30 Diskursgeschichtlich betrachtet verändert sich damit das Herz von einer Gesamtrepräsentation des inneren Menschen zu einem Du, zum ›alter‹ im ›ego‹, mit dem sich autokommunizieren lässt.31 Formal betrachtet entwirft Hartmann mit dem Herzen eine Differenz, die sich selbst ausschaltet, indem sie in ihrem eigenen Raum wieder auftaucht – Herz und Körper verstehen einander und reden zugleich aneinander vorbei.
Es ist also im Prinzip zutreffend, der Klage eine gezielte Komplexitätssteigerung zu attestieren, aber wenig erhellend, dies hermeneutisch als »zunehmende Vertiefung der Einsicht in das Problem [der höfischen Liebe]« zu verstehen.32 Denn der Problemkreislauf – doppelte Kontingenz von Kommunikation, Differenz und Einheit des Selbst – wird nicht eingesehen, sondern nur ein- und ausgefaltet. Latenz verdoppelt sich und »vertieft« dadurch die Form des Erzählens.
(2.) Konsistenz aus Kontingenz: zur Wettkampfform des Dialogs. Der Streitdialog faltet dieses Problem zunächst in die mentale Innensphäre des Rahmen-Ich hinein (›in‹ den muot) und häuft auf diesem Weg paradoxe Binnendifferenzen an, was sowohl für die Modellperson als auch für die Struktur des Gesamttextes gilt. Für die Streitpartner heißt dies konkret, dass sich Herz und Körper nicht argumentativ ausweichen, sondern in wechselseitigen Anklagen, Zuschreibungen und Forderungen ineinander verwickeln und unterlaufen.33 Für den Textaufbau heißt dies: Achtmal lässt Hartmann ausgedehntere Reden von Körper und Herz alternieren, wobei dieser Raum in seinem strukturellen Zentrum nochmals durch weitere 53 (hemi-)stichomythische Redewechsel untergliedert wird (V. 1168–1268).34 Korrespondierend zum Prolog und zum Erzählrahmen (V. 1–16; 17–32) beschließt die Klage eine strophische Ich-Rede (V. 1645–1914), die sich als Werbungsrede eines Unglücklichen (V. 1739) an seine Frouwe (V. 1845) mit deutlichen Rückbezügen zum ersten Rahmenteil ausweist, aber ebenso Bezeichnungen35 und Bilder36 der Latenz aus dem Streitdialog aufgreift.37 Insgesamt setzt Hartmann also die dreiteilige umschließende Form fort, wie sie von der Psychomachia bis zur Visio Philiberti die Erzähltradition des Seelenkampfes prägt, überträgt jedoch erstens Wettkampfdifferenzen der erzählten bzw. beschriebenen Interaktion in das Kommunikationsmedium des Dialogs. Zweitens staffelt sich dieser Streitdialog höchst differenziert in die Form des muot hinein.
Der Widerstreit entwickelt zugleich Strukturen, um die Konsistenz dieser komplexeren Form zu erhöhen, indem er propositionale Äußerungen und phatische Signale überkreuzt.38 Symmetrieachse dieser Struktur bildet die erste stichomythische Passage der Klage (ab V. 1168). In einer ersten Serie von Anklagen werfen Körper und Herz einander vor, ihre Aufgabenbereiche verletzt zu haben: Durch Fehlurteile und trügerische Zukunftshoffnungen habe das Herz als Ratgeber versagt (V. 75–86), während der Körper auf eigene Faust handle und unbelehrbar nur kurzwîle (V. 673) und Bequemlichkeiten suche (V. 860), statt beharrliche Mühen des Minnedienstes auf sich zu nehmen. Im Rahmen der Rechtsfiktion, die Hartmanns (An-)Klagedialog mit aufruft,39 verstricken sich beide in Vorwürfen und Schuldzurechnungen: Ob der Körper grundsätzlich auf die Urteilskraft des Herzens angewiesen und damit verleitet worden sei oder ob umgekehrt die Weisungskompetenz des Herzens von der Vitalität, den Sinnesdaten und der physischen Handlungsmacht des Körpers abhänge – darüber besteht gründlicher Dissens. Dennoch wird ihr Streit von phatischem Konsens getragen: Trotz aller Vorwürfe reden sich Herz und Körper mit partnerschaftlichen Zueignungsformeln an,40 demonstrieren einander ihr Interesse, Dialog und Kooperation fortzusetzen.41 Selbst Beschimpfungen und Rachephantasien erweisen sich als symmetrisch, wenn nicht nur der Körper androht, mit einem Messerstich beider Leben zu beenden (V. 67–71), sondern sich auch das Herz wünscht, sein Recht in einem Faustkampf gewaltsam durchzusetzen:
wære ich gewaltic über dich
sô dû bist über mich,
daz ich hende hæte,
dîn leben wære unstæte;
ich tæte dir vil schiere schîn
daz ich unschuldic welle sîn
des kumbers den ich von dir hân.
der müese dir ze leide ergân.
(V. 527–534)
Hartmann verstärkt Anreden und Appelle, bis ihr phatischer Konsens auf die propositionale Ebene durchzugreifen beginnt: Überraschend erinnert der Körper an das Band der Seele als gottgeschaffenem Grund unauflöslicher Einheit (V. 1025–1060, wiederum gipfelnd in einer Zueignungsformel: wan mîn dinc ist daz dîn), wofür das Herz im Gegenzug die vil guote wandelunge (V. 1154) des zuvor als unbelehrbar Gescholtenen lobt. Herz und Körper, Richter und Vollstrecker, scheinen sich damit »auf einen Konsens einzupendeln«,42 der den Wettkampf beendet.43
Bei diesem Einverständnis über wechselseitige funktionale Angewiesenheit von Körper und Herz bleibt die Klage indes nicht stehen. Vielmehr »entzündet sich die Diskussion aufs Neue«.44 Wurde der thematische Dissens der Auftaktreden von Kooperations- und Konsenssignalen getragen, so stülpt das stichomythische Wechselspiel von Frage und Antwort nun Aussage- und Äußerungsbeziehung um. Statt eines harmonischen Musterdialogs replizieren Herz und Körper einander bissig, z.B.
[Körper:] herze, waz gap dir den gewalt?
[Herz:] ›lîp, dîn üppic frâge tuot mich alt.‹
(V. 1175f.)
[Herz:] ›waz ist daz dir unsanfte tuot?‹
[Körper:] dû maht wol selbe wizzen waz.
(V. 1178f.)
[Herz:] ›kunde ich, lîp, ich hulfe dir.‹
[Körper:] dû solt âne dige helfen mir.
(V. 1185f.)
Konsens im Sachproblem – körperlichem Liebesleiden ist durch Rat des Herzens abzuhelfen – wird also in einer Redeform verhandelt, die wiederum ihren phatischen Dissens bewusst inszeniert. In chiastischer Umkehrung von propositionalem Zusammenspiel und kommunikativem Gegenspiel bildet der Dialog neuerlich Streitkonsistenz.
Umgekehrt zur früheren Umschlagsbewegung verstärkt sich auch dieser kommunikative Dissens wieder und durchdringt Konsenssignale (V. 1264–1268), bis das zuvor Erreichte aufgelöst wird. Dies veranschaulicht die allegorische zouberlist (V. 1275), zu der das Herz unmittelbar im Anschluss ermuntert.45 Beliebt bei Gott und der ganzen Welt (V. 1346) könne sich der Körper machen, wenn er acht Kräuterarten in einem Gefäß mische – nämlich die Tugenden der Freigebigkeit, Beherrschung, Bescheidenheit, Treue und Beständigkeit, Sanftmut und Zurückhaltung sowie Tapferkeit, die ohne jeden Vorbehalt oder Zwietracht (V. 1322: âne haz) ›innen‹ im Herzen zu tragen seien.46 Gezielt greift der Kräuterzauber des Herzens also zu jenem vaz, das auch Hartmanns Iwein zum zentralen metaphorischen Modell latenter Differenz erhebt. Doch in der Klage scheitert eine Latenz-Metapher, die jegliche Differenz auszuräumen sucht. Kaum ausgesprochen, wird sie sogleich kassiert. Da sie Seelenheil und Leben gefährdeten, seien Zauber grundsätzlich abzulehnen –
durch daz suln wir in lâzen;
daz er sî verwâzen!
und sül dir gelingen,
daz erwirp mit rehten dingen.
(V. 1367–1370)
Zurecht hat die Forschung über den Sinn eines Tugendrezepts gerätselt, das mit großem ernest (V. 1263) vorgetragen, doch in seiner semiotischen Konstruktion entwertet wird.47 Entscheidend scheint mir, dass die ›revocatio‹ nicht bei der vermeintlichen Zauberempfehlung Halt macht. An den Grenzen des Sagbaren lässt sie nämlich selbst den beredten Ratgeber verstummen: ich enweiz waz ich dir sagen sol, schließt das Herz, wan dû tuo rehte unde wol (V. 1372). An keiner anderen Stelle wendet sich der sonst so selbstbezügliche Text vom Dialog zur »Ethisierung«: Wo der Streit zu enden scheint, verweist er, in ehrwürdigem Vokabular, doch angesichts seines anfänglichen Problembewusstseins fast naiv, auf tugendgeleitete Praxis. Will man darin keine Ironie hören, sondern diese Schlusswendung ernst nehmen, kann man darin eine potenzierte, nun positivierte Stufe des Schweigens erkennen, die den gesamten Streitdialog auf das Anfangsproblem zurückführt: Was kann man nach einer solchen Tugendempfehlung noch sagen? Negativ zeichnet sich mit dem Kräuterzauber jedoch auch ab: Die Form der Latenz gräbt sich so tief in ihre Problemverhandlung ein, bis sie an die Grenzen auch der latenten Kommunikationsform stößt. Wie mit Blick auf die strophischen Schlusspassagen zu zeigen sein wird, bereitet die Klage gerade damit ihren Ausstieg aus der Form der Latenz vor.
Der Dialog von Herz und Körper hält sich vorerst in der Form des Wettkampfs. Ausführlich bekräftigt das Herz seine Empfehlung, den muot durch Zurückhaltung und beständigen Abstand gegenüber der Dame zu beherten (V. 1543). Jede Übereilung schade: Wer allzu rasch Neues begehre, den strecke der Beständige im ritterlichen Zweikampf mit bluotigen sporn nieder (V. 1564). Vertieft sich das Lob der stæte in einem Wettkampfvergleich, so verfängt sich das Herz erneut in der Klage über das, was von Anfang an durch Argumente nicht zu überwältigen war – die Zurückhaltung der Damen gegenüber Latenz:48 Ohne ersichtlichen Grund zögerten Frauen oft gegenüber denjenigen, die sie zu Liebhabern wählten, so lange, bis nicht mehr zweifelsfrei zu erkennen sei, was tatsächlich geschehen oder nicht geschehen sei.49 Während das Herz also im Anschluss an das Tugendrezept wortreich über der wîbe muot (V. 1572) aufzuklären versucht, demonstriert es doch nur, wie vergeblich alle Ratschläge bleiben. Verfolgt man allein die propositionale Struktur des Dialogs, so steht das Ausgangsproblem doppelter Kontingenz, dass der muot des Anderen nicht einsehbar sei, so offen wie zu Beginn – allen anthropologischen Grenzziehungen und Aufgabenverteilungen zum Trotz. Entsprechend kontert auch der Körper wie eingangs mit antagonistischen Signalen: Herze, ich hœre dich klagen / daz dû wol möhtest verdagen (V. 1593f.) – si [= die Frauen, B.G.] ennement dich niht ze râtgeben, / jâ bist dû ze rihtære / in vil unmære (V. 1606–1608). Ein letztes Mal vertieft sich der Streitdialog, der mit guoter lêre (V. 1612) allein nicht auszuräumen ist: wis stæte, daz der beste list (V. 1615). Den letzten Anlauf, den die Klage zur Verfestigung von stæte unternimmt, fällt daher nicht argumentativ, sondern performativ aus.
Für den Streitdialog bedeutet dies, dass Wettkampf zwar als Lösungsverfahren für ein Problem latenter Differenz anläuft, ja sogar auf ethische Lösungsempfehlungen zuläuft, sich jedoch sogleich wieder perpetuiert, sobald diese argumentativ ausgeräumt scheint. Wettkampf bildet dadurch Konsistenz, dass Propositionen und phatische Akte sich chiastisch überkreuzen. Insgesamt vertieft die Klage damit eine Paradoxierungsstruktur. Auf konzeptueller Ebene entwirft sie Herz und Körper als »problematisch differenzierte Einheit«, die das Leitmodell des anthropologischen Dualismus weit hinter sich lässt;50 das Selbst als Streitordnung wird ungleich komplexer entfaltet als die Allegorie der Psychomachia. Zu dieser Überkreuzung trägt bei, dass Herz und Körper in ihrem Redeverhalten insbesondere jene Eigenschaften in Anspruch nehmen, die sie ihrem Gegenüber als distinktiv zuschreiben – das Herz argumentiert hoch affektiv, der Körper denkt und geht mit sich selbst zu Rate (z.B. V. 140–142, 1490),51 beide reklamieren für sich die Besinnungsinstanz des muotes.52
All dies macht Hartmanns Dialog, um es nochmals zu betonen, zu einem schwierigen, wenn nicht gar widersprüchlichen Text, wenn man seine Aussage- und Kommunikationsstruktur gegeneinander ausspielt. Trotz ihres argumentativ-disputativen Redecharakters verweigert die Klage jegliche systematisch durchgehaltene Lösung.53 Ihr dialogisches Selbstverhöltnis entwirft keinen normativen Entwurf anthropologischer Ordnung,54 der die Unsicherheitserfahrungen kommunikativer Kontingenz ausräumen könnte. Stattdessen unterläuft und wiederholt das Streitgespräch fortgesetzt Differenz:
Jeder Argumentationsversuch der Gesprächspartner, jede Entwicklungsstufe des Dialogs ist geprägt von der Ambivalenz des herze-lîp-Verhältnisses, das problematischer Zwiespalt und einstudiertes Zusammenspiel zugleich ist. […] Der Dialog von herze und lîp bringt aus diesem Grund zu keinem Moment der Rede zwei klar trennbare, miteinander konkurrierende Standpunkte hervor, sondern immer eine Verschränkung der Positionen.55
Statt Ordnung oder Balance bewirkt solcher Streit fortgesetzte Verwerfungen der Selbstbeziehung: »In Hartmanns Klage erweisen sich Innen-Ich und Außen-Ich allen eleganten allegorischen und sentenziösen, geistlichen Lösungsangeboten zum Trotz als nicht aufeinander abbildbar.«56 Gerade dadurch, dass Hartmann Semantiken des Seelenkampfes und religiöser Anthropologie allusorisch ausbeutet, lockt die Klage mit Lösungen, die sich kaum isolieren, nur im Widerstreit propositionaler, formaler und kommunikativer Ebenen greifen lassen. Ergebnis dieses Arrangements ist eine Gesprächsform, welche die Streitpartner mit jeder Schleife komplexer, d.h. auf immer tieferen Ebenen verbindet.57 Sie ist nicht zuletzt deshalb als innovativ in der Diskurstradition von Seelenkämpfen zu betrachten, weil sie diese Paradoxien keineswegs verschleiert, sondern gezielt anspricht und ausspielt. Körper und Herz verwickeln sich mittels Reden immer tiefer in die Problemstellung offener Rede, der mit Argumenten nicht mehr beizukommen ist.
Besonders sensibel haben Susanne Köbele und Ellen Strittmatter den Spannungen nachgespürt, die ein solches »gesteuertes und zugleich unkalkulierbares Wechselspiel« aufwirft.58 Sie machen gleichermaßen fraglich, die Strukturbildung der Klage auf ein normatives Erkenntnismodell zu reduzieren oder Diskursen anzuhängen, die Hartmann vage und wie aus weitem Abstand zitiert. Weder dürfte es den Unordnungen gerecht werden, den Streitdialog als Plädoyer für geordnete Wahrnehmungsvorgänge zu lesen.59 Noch dürfte es das paradoxe Wechselspiel von Kongruenz und Differenz erklären, wenn man die Reden von Herz und Körper als »Konfliktsituation« betrachtet, »die das Denken an seine Grenzen führt«,60 aber in scheinbar »vollständige[r] Restituierung der personalen Einheit« im Schlussgedicht mündet.61 Ist die Frage nach Makroproposition oder Intention des Textes dann überhaupt geeignet, den windungsreichen Redewettkampf der Klage zu erfassen? Entfaltet werden Redeformen, die nie letztgültig fixiert, sondern nur abgelöst scheinen, befördert vom »ständige[n] Umstülpen« jeglicher Position.62 Selbst affirmative Partien, die wie Ordnungsappelle, Ratschläge oder Tugendspiegel ausgeprägt intentionalistisch und auktoriell anmuten, werden von affektiven Entgleisungen und Umschwüngen gebrochen, die den Streitdialog eher emergent als kontrolliert vorantreiben.63
Näher kommt es diesem Textbefund, wenn man die Dynamisierung der Form des Wettkampfs selbst als produktives Ergebnis betrachtet. Natürlich wird damit weder die Ordnung des Ich gesichert noch ein Minneproblem gelöst.64 Doch die Klage lenkt wiederholt den Blick auf diese Produktivität, wenn etwa das Herz empfiehlt, die innere Einstellung einerseits zu verfestigen (V. 1543: beherten), andererseits aber zu bewegen (V. 1154: wandelunge, V. 1248: wandel).65 Konsistenz gewinnt diese Wettkampfform, indem sie nicht nur Reden fortgesetzt alternieren lässt, sondern damit zugleich Wechsel zwischen propositionaler, kommunikativer oder sprecherbezogener Fokussierung verbindet. Nachdrücklich hat die jüngere Forschung auf die Differenzierungsdynamik hingewiesen, die dadurch wächst: Herz und Körper treten sowohl körperlich als auch unkörperlich hervor, bezeichnen sich als zusammengehörig und unterschieden, artikulieren die Möglichkeit wie auch die Unmöglichkeit ihrer Trennung.66 Bezieht man dies auf das Rahmenproblem der Klage zurück, kann man somit festhalten: Intern kann sich der kommunikative Formenaufbau fortsetzen, den die nach außen gerichtete Unsicherheitsvermutung abzuschnüren drohte; fortsetzen kann sich damit aber auch die Differenz des strît, die im muot des Rahmen-Ich ihren äußeren Halt findet.
Vielfältige Formen der Koordination und Subordination spielen die Streitpartner metaphorisch durch:67 Herz und Körper beschreiben sich interdependent, indem sie einander als Partner und friunt (z.B. V. 121, 421, 978), als Ratgeber (z.B. V. 1253) und ausführendes Organ (z.B. V. 1010f.), als Nuss mit Schale und Kern (V. 449–464)68 oder als Haus und Bewohner (V. 57f.) beschreiben. Andererseits suchen sie ihre Differenz zu hierarchisieren, indem sie sich als Richter (V. 417, 1607) und Rächer (V. 69–71), als Herr und Diener (z.B. V. 82, 425, 1061–1074), als Wasser im Feuerkessel (V. 465–484), als Lehrer und Schüler (V. 1252) und generell als gewaltsam (V. 527f.) oder abhängig (V. 535–570) voneinander behaupten. In rascher Folge verketten sich damit horizontale und vertikale Ordnungsoptionen, die auf keinen stabilen Nenner zu bringen sind. Gerade ihre Instabilität aber ermöglicht, Latenz nicht bloß zunehmend zu vertiefen, sondern auch wieder auszufalten.
(3.) Der Streit in mir: Einfaltung und Entfaltung von Latenz. Auch für ihre latente Beziehung finden die Streitpartner der Klage traditionsreiche Bilder. So vergleicht der Körper seine insgeheimen Sorgen mit gefährlichen Tiefenströmungen, die verborgen unter dem Meeresspiegel ze bœsem wehsel für daz leben aufsteigen (V. 364–376); das Herz wohne im Körper wie in einem Haus (V. 57), liege in der Brust physisch eingeschlossen (V. 64f., 448), geschützt wie der Kern in der Schale der Nuss (V. 451–464). Ohne Hilfe des Körpers könne sich das Herz weniger Hoffnungen machen als Blumen unter der Schneedecke im März, die wenigstens die Mittagssonne am Leben erhalte (V. 821–849). Viele der metaphorischen Kerne legen poetologisch-hermeneutische Spuren (z.B. Schale / Nuss;69 Hoffnung der Blumen auf den Mai) und führen zu Diskursen, die ebenfalls mittels Wettkampflogiken strukturiert sind.70 Der Wettkampf der Klage indes scheint keine Lösung zu erreichen. Kaum dass beide Streitinstanzen ihre Kooperationsbereitschaft signalisiert haben – [›]nû solt dû, lîp, hin ze ir / unser fürspreche sîn.‹ / das tuon ich gerne, herze mîn (V. 1642–1644) –, wiederholt der anschließende strophische Frauenpreis jene Klagen und Aporien, von denen der Streitdialog ausging. Mag der Dialog also zumindest rudimentär an das Argumentationsverfahren der disputatio anknüpfen,71 so lässt er die zu erwartende determinatio gerade offen.72 Welchen Sinn hat dann die betonte Arbeit an Differenzen des Verbergens und Einschließens?
Ihre Leistung wird ersichtlich, wenn man Latenz als formale Struktur der Vervielfältigung analysiert, die nicht nur entzieht, sondern dabei spezifische Spielräume eröffnet. Kurz sei daher an die eingangs skizzierten Vorüberlegung erinnert. Latenzbeziehungen enstehen demnach durch doppelte Funktionszusammenhänge, die alternierende Unterscheidungen sowohl aufdecken als auch verbergen können.73 Auch Hartmanns Klage macht von beiden Möglichkeiten Gebrauch. Vor allem die erste Hälfte des Streitdialogs deckt auf, dass der Kampf im muot nicht bloß von einfacher Differenz oder Einschachtelung ausgeht (die etwa das Herz im Körper verortet), sondern ihre Unterscheidung fortlaufend rekursiv wiederholt. Diese Formbildung erfolgt insgesamt im Kontext des Körpers, der zu Beginn des Dialogs die Stimme des jungen Mannes übernimmt. Zu ihrer Einfaltung trägt bei, dass sowohl Herz als auch Körper für sich ebenfalls Innenseiten produzieren, wie sie der muot für die Rahmenperson eröffnet. Mit der Metapher der Tiefenströmung reklamiert etwa der Körper eine verborgene Eigensphäre, die ebenfalls als muot bezeichnet wird. Umgekehrt sieht sich auch das Herz noch weiter verborgen als nur unter körperlicher Oberfläche, wenn es sich mit Blumen unter der Schneedecke vergleicht und dabei dem Körper die Rolle der Sonne zuweist. So kurz derartige metaphorische Operationen aufleuchten, in allen Fällen vervielfältigen Körper und Herz dadurch Innenseiten, in welche wiederum die Reden und Bezeichnungen des Streitpartners eintreten können. Auch dies zielt weniger auf stabile Ordnung als auf fortlaufende Reorganisation, die Innenseiten vertieft.
Zwar wird also der Kampf als unbeobachtbar im Innern postuliert (V. 31: verswigen ungemach), doch verschreibt sich der Dialog genau dieser Beobachtung des Unbeobachtbaren. Als »Ort einer intellektuellen Auseinandersetzung« schlechthin trägt der Begriff des muot diese paradoxe Einschachtelung.74 Er bezeichnet einerseits die gesamte Form, indem er den gesamten Gesprächsraum konstituiert (V. 25). Andererseits bezeichnet er die uneinsehbaren Grenzen, die Herz und Körper fortlaufend ziehen, unterlaufen und nachziehen; indem Hartmann vom muot im muot erzählt (V. 140, 208, 662, 916 u.ö.), bringt er somit die mentale Einheit von Opposition und Zusammengehörigkeit auf den paradoxen Begriff.
In formalem Sinne wird damit das Selbst als Kulturierungsraum entworfen – als Serie ineinander gestaffelter Räume, die einander bedingen, aber sich kommunikativ zugleich autark abgrenzen (bis hin zu Rückzugsphantasien, V. 380f., oder zur Komik unmöglicher Tötungswünsche), die füreinander intransparent sind, obgleich sie sich als interdependent begreifen. Angesichts solcher paradoxen Innengrenzen überrascht es nicht, dass auch der für die Latenzarchitektur zentrale Begriff des muot ebenfalls ambivalent konnotiert ist. Einerseits betrachtet das Herz den muot ganz allgemein als eigene Domäne, über die es herrsche (V. 916); andererseits muss es anerkennen, dass dem Körper nicht einfach rehte[r] muot (V. 580) aufzudiktieren ist, sondern dieser sich auch selbst orientiert (wenn auch zum Schlechten, V. 243: bœser muot), dass der Körper unbeweglich in Bequemlichkeit verharren (V. 860) oder unbelehrbar bleiben kann (V. 815: vil lêre ich an dir verlôs). Auch das Herz konstatiert daher: Uns dienet niht gelîcher muot (V. 945). In verwirrend dichter Abfolge reiht der Dialog somit muot als Gesamtmedium, als rationales Vermögen des Menschen und als variabel auszuprägende Haltungen (vgl. insbes. V. 1130–1144). Während der Begriff der Seele nur sporadisch fällt und keinen nennenswerten Beitrag zur Organisation von Latenz leistet, setzen Bezugnahmen auf den muot umso größere Unterscheidungsleistungen in Gang; den muot aufrecht zu erhalten, erfordert Mühen (vgl. V. 781–800 u.ö.) – dâ hœret arbeit zuo (V. 613) – und dies gilt auch für den Rezipienten. Gemessen an diesem Anspruch wird verständlich, dass ein vergleichsweise differenzarmes Modell der Selbsthaltung, wie es der Kräuterzauber âne haz im Herzen anbietet (V. 1322), letztlich folgenlos verworfen wird.
Sofern sie nicht blockieren, erzeugen Paradoxien Bewegung – »Kippkalküle« prägen daher besonders die Argumentationsstruktur des Streitdialogs.75 Trotzdem vertieft Hartmann diese Dynamik nicht grenzenlos, sondern nimmt schließlich auch Differenzen zurück; wie jeder Dialog einmal enden muss,76 schließt auch der Streitdialog von Herz und Körper. Ab der stichomythischen Mittelachse beginnt die Klage, ihre Paradoxien zu restabilisieren. Äußerlich weist darauf schon der Verfahrenswechsel hin, der die Autokommunikation zwischen Herz und Körper zu einem äußeren Kommunikationsakt vereinfacht, der sich an die Dame richtet. Die Gelenkstelle bezeichnet der Streitdialog explizit mit einem letzten stichomythischen Wechsel: [›]nû solt dû, lîp, hin ze ir [= der Dame] / unser fürspreche sîn.‹ / daz tuon ich gerne, herze mîn. (V. 1642–1644). Aber wer spricht nun? Ohne Frage der Körper, der somit die Latenzform zu einer Stimme verdichtet.77 Und doch ist nicht so einfach anzugeben, wer spricht.78 Denn die Rede speichert zugleich Metaphern und Differenzen, die aus dem Streit mit dem Herzen gewonnen wurden bzw. direkt auf diesen zurückgehen. Betont werden innere Haltungen und Intentionen (V. 1729), das Herz als ›brennender Abgrund‹ des Begehrens (V. 1656, 1809), als Innenraum der Klage (V. 1740), der Sorge (V. 1787) und der Zweifel (V. 1829). Aufgerufen werden ebenso jene Bilder der Latenz, mit denen Herz und Körper den Streitdialog vertieft hatten. Das Ich schwimme gleichsam tief im Meer, weit vom Ufer entfernt, und wolle wegen seiner Sorgen tief in die Fluten gehen:
jâ lebe ich sam ich swande
über tiefen sê dan man hât
verre unz ze sande
(V. 1762–1764)
wan des tiefen meres fluot
mit sîner breiten flüete,
swie in vil selten ieman wuot,
für disen kumber ich in wüete.
(V. 1803–1806)
Die Preisstrophen zitieren den Bildbereich der Tiefe und variieren gleichzeitig seine Aussagerichtung – Latenz wird nun programmatisch bejaht. Gleiches gilt für den Jahreszeitentopos der Blüte: Klagte das Herz im Streitdialog, wie eine Blume unter einer Schneedecke zu leiden, die vor der sumerzît (V. 825) aufgehe, so behauptet das Ich im Frauenpreis ungleich selbstbewusster, nichts auf des sumers bluot zu geben (V. 1789), wenn sich die Dame nicht ihm zuwenden wolle. Die Schlussstrophen kondensieren somit ein »Gesamt-Ich«79 im Rückgriff auf Bezeichnungen und Bilder der Latenz, die neu akzentuiert werden. Auch den Wettstreit im Innern bezieht dieses Ich als ganzes auf sich (V. 1655).
Damit lässt sich die funktionale Leistung des Streitdialogs genauer ermessen. Um es deutlich zu sagen: Hartmann bietet keinerlei Lösung an für die thematische Aporie,80 die der strophische Schluss nochmals in Erinnerung ruft: Weshalb sollte die Dame gelouben mînem munde, der beteuert, von grunde des Herzens zu lieben (V. 1657–1660)? Obwohl sich Herz und Körper explizit auf gemeinsame Lösungsstrategien zu annehmbarer Minnekommunikation einigen, setzen die Schlussstrophen davon nichts um – sondern fallen im Gegenteil auf jene Werbungsrhetorik zurück, deren Glaubwürdigkeitsdefizite eingangs entlarvt wurden.81 Auch der erklärte Eid verschafft dem Frauenpreis keinen neuen Rückhalt, sondern die Dynamik eines latenten Wettkampfs, der zunächst eingefaltet, d.h. potenziert wird, bevor er wieder ausgefaltet, d.h. in seiner Differenzordnung zurückgenommen wird. Negativ gesagt zielt die Latenzstrategie der Klage darauf, ein Kommunikationsproblem temporär zu blockieren, indem es internalisiert wird; das Streitgespräch liefert dafür seit der Antike ein etabliertes ›kryptisches‹ Verfahren, das empfiehlt, Absichten und Ziele zeitweise zu verbergen.82 Der strophische Schluss bietet in dieser Sicht umso weniger eine inhaltlich überzeugende Lösung, als er lediglich nach innen gestaute, vervielfältigte Differenzen nach außen wendet und vereinfacht.83
Positiv betrachtet aber bietet der Text eine Transformationsdynamik an, die zwei Bewegungsrichtungen einschlägt: Beginnt die Klage damit, den muot der Modellperson als Differenzordnung aufzudecken, so verbergen die Schlussstrophen diese Differenz, ohne sie zu löschen. Als Wechselform erhöht Latenz somit die Komplexität der Stimme gerade dadurch, dass Innen- und Außenkommunikation der Klage nur als labile Transformationsdynamik, nicht aber als Bestimmungsverhältnis aufeinander bezogen sind. Dies könnte erklären, weshalb Forschungsversuche letztlich erfolglos blieben, die Problemlösung des Binnendialogs oder die Sprecherinstanz des Dialograhmens zu identifizieren. Verleiht dies den Preisstrophen etwas Unentscheidbares, so ist ihre Stimme keineswegs nebulös: Der, der am Ende spricht, erweist sich anschließend als komplexer;84 auf dieses Wahrnehmungsangebot zielt die Vervielfältigung durch inneren Streit.
Dazu ist nötig, Differenz zu verdecken, ohne sie zu annullieren. Deshalb führt der Weg der Schlussstrophen nicht über Negationen, um etwa die Unterscheidung von Herz und Körper zu widerrufen, sondern führt zu ihrer Externalisierung. Dies leisten insbesondere religiöse Diskurszitate, die in der ersten Hälfte des Streitdialogs den Konflikt von Herz und Körper als Orientierungsproblem zwischen Gott und Teufel einordnen: Betrügerische Männer wünscht der Körper zum Teufel (V. 250), denn Frauen zu verführen, sei eine werltwünne, die Gott bestrafen möge (V. 277f.); formelhaft bittet der Körper das Herz um Nachsicht durch got (V. 407, 413); umgekehrt mahnt auch das Herz zu Gottvertrauen und warnt vor Gottes Strafen und der Verführungskraft des Teufels (V. 807–820);85 Gott habe beiden eine gemeinsame Seele verliehen, die zum Heil zu bewahren sei, um nicht dem Teufel überantwortet zu werden (V. 1034–1060). Je tiefer sich der Streitdialog eingräbt, desto seltener fallen derartige Bezüge. Nach dem stichomythischen Wortgefecht sind sie nahezu verschwunden.86 Die Schlussstrophen jedoch greifen wieder verstärkt auf solche Referenzen zurück, die sie auf geringem Versumfang verdichten: Während der Teufel nach Schaden trachte, halte sich das Ich in seiner Rede an Gott (V. 1683–1687) und bittet die Dame um ihres Schöpfers willen um Zärtlichkeiten (V. 1721–1725) – Verweigerung aber wäre Sünde (V. 1783, so auch V. 1875f.); Gott möge das Ich vor Sorgen behüten (V. 1788). Mit der Schlussformel unterstellt das Ich seine Seele und seinen Körper ganz der Verfügung der Dame (V. 1911f.). All dies verbindet die Klage mit prominenten Modellen von Seelenkämpfen – von Tugendkatalogen (Psychomachia) über Anklage- bzw. Gerichtsordnungen zwischen Gott und Teufel (Vorauer Sündenklage) bis zu Spaltungsphantasmen, die wieder auf die traditionelle Doppelformel von anima und corpus zurückgreifen (Visio Philiberti). Doch tragen derartige Bezüge kaum so weit, den gesamten Text in einen moraltheologischen Kontext zu transportieren,87 so punktuell und unverbunden bleiben sie gegenüber der Diskussionsstruktur des Wettkampfdialogs. Auch untereinander scheinen Verweise auf die Seele – vom gotteslästerlichen Schwur bis zur orthodoxen Ermahnung – auffällig unabgestimmt: »Die Seele ist daher ohne weiteres ambivalent einsetzbar, als ironieverdächtige Hyperbel ebenso wie als theologisch gewichtiges Argument«.88
Religiöse Diskurszitate liefern dadurch allenfalls bewegliche Bruchstücke, keinesfalls aber feste Ankerpunkte, um den Kampf im Menschen nach außen zu stülpen.89 Dennoch tragen sie dazu bei, Differenz zurückzunehmen, genauer: die Differenz der Streitpartner insgesamt wieder in äußere Kontexte zu befördern. Noch als semantische Spurenelemente verhelfen Bezüge auf Gott, den Teufel oder die Seele dazu, die Schlussstrophen in strukturellem Sinne zu externalisieren: Sie bringen die Form, die der Streitdialog intern vervielfältigt hatte, in den Kontext von Redeordnungen zurück, welche die gesamte Modellperson umgreifen.
(4.) Verstetigung. Die Klage bezeichnet diese doppelte Transformation selbst als Stabilisierung. In diesem Sinne rät das Herz zur stæte:
grîf vil stæticlîchen zuo,
als der dâ beherten wil
durch miete ûz unz an daz zil,
und kum niht gâhes an sî,
daz ir dîn gewerp bî
unstæticlîchen wone.
dâ erkennet sî dich vone
in stæticlîchem muote;
des vergiltet dir diu guote.
(V. 1542–1550)90
Auch die Schlussempfehlung der Streitpartner antwortet auf das Ausgangsproblem also paradox: Nicht Lösungsannäherung ermöglicht die Erkennbarkeit des Innen, sondern beständig gehaltene Distanz. Hält man sich an den präskriptiven, unwidersprochenen Gestus solcher Aussagen, könnte man in dieser lêre eine Textintention hören (bes. V. 1614).91 Aber handelt es sich dabei um ein Programm?92 Postuliert die Stimme des Herzens die Leitvokabel eines »ritterlichen Tugendsystems«, wie es Wolf Gewehr durch akribische Rückgriffe auf die lateinische Terminologie geistlicher Tugendlehren nachzuweisen versucht hatte?93
Tatsächlich genießt das Konzept der Stetigkeit metapoetischen Status. Doch bezeichnet es weniger einen »Normbegriff«94 als eine konkrete diskursive Praxis. Die Klage entwirft dazu das aufwändige Arrangement eines latenten Wettkampfs, der interne Konsistenz zwischen Instanzen begünstigt, die sich agonal verstetigen. Je für sich schreiben sich die Streitpartner solche Beständigkeit zu: Permanent sorge sich das Herz und ›schlafe niemals‹ (V. 691–694); trotz Morddrohungen bekennt sich auch der Körper zu unendlicher Qual (V. 398). Wie es für beide unmöglich ist, unvermittelte Einheit zu erzwingen, gelingt es weder praktisch noch argumentativ, Trennlinien zu ziehen. Wie die Metaempfehlung des Herzens treffend benennt, verstetigen sich die Streitpartner also in dieser ›mittleren Distanz‹ des offenen Problems: nah, aber unterschieden. Einen Raum für diese Nahdistanz eröffnet der Dialog im muot.95 Konsistenz gewinnt das Ich also nicht durch eine gefestigte Position – darin liegt, so meine ich, die experimentelle Zumutung der Klage –, sondern durch die Dynamik.
Als ethisches Programmwort tritt stæte damit hinter die diskursive Praxis der Verstetigung zurück. Entsprechend nehmen die Schlussstrophen den Begriff zurück, um an seiner Stelle eher Argumente und Bilder zeitlicher Beständigkeit zu projizieren:
Sît ich dîn künde ie gewan,
sô bist dûz alters eine
der ich mir ze frouwen gan
(V. 1735–1737)
ich wæne ê wazzer unde walt
und diu erde verbrinne
– daz ist zuo dem suontage gezalt –
und uns der tage zerinne,
möhte ich werden alsô alt,
ê ich von dir die sinne
benim, swie lützel ez noch galt,
ich diene umb dîne minne.
(V. 1831–1838)
Ist daz ich mînen langen wân
nâch heile volbringe
den ich nâch dînen minnen hân
[…] (V. 1861–1863)
Aus dem Zusammenhang gerissen klingt dies nach konventionellen Elementen der Minnewerbung. Im Kontext der Transformationsbewegung, die den aufgedeckten Widerstreit in die verbergende Rede des Gesamt-Ich überführt, lässt sich dies jedoch als signifikante Verflüssigung lesen: Nach der Einfaltung des inneren Streitzustandes gewinnt die Klage jene kommunikative Außenrichtung zurück, die zu Beginn durch Zweifel blockiert schien. Man kann dies als Analogon einer Tugendprobe verstehen,96 sollte aber nicht übersehen, dass nicht Zustände, sondern allein der Prozesscharakter des Wettkampfs dieses kommunikative Potenzial regeneriert. Nicht als normativer Bezugspunkt oder vermeintliche Einsicht in richtige ›Werte‹ hilft stæte Kontingenz zu überbrücken, so wäre dann zu folgern, sondern als eine diskursive Praxis fortgesetzten Streits, der seine Konsistenz zusammenfasst. Die Strophenstruktur der Schlussrede hebt in ihren identischen Kreuzreimen dieses Konsistenzinteresse auch formalästhetisch hervor.
Hartmanns Klage spielt damit, diese latente Streitkomplexität nicht bloß ganz allgemein zur Stimme eines jungen Mannes zusammenzufassen, sondern zugleich als Autorperson des Textes zu deklarieren. Schon die Einleitung lässt grammatisch in der Schwebe, Hartmann entweder als Parallelfall oder sogar als Erfahrungsträger der latenten Klage zu identifizieren:97
daz waz von Ouwe her Hartman,
der ouch dirre klage began
durch sus verswigen ungemach.
sîn lîp zuo sînem herzen sprach:
[…] (V. 29–32)
Die Auftaktrede des Körpers greift den Namenszusatz, gleichsam eponym für den Sprechakt des Klagens und durch Initiale im Ambraser Heldenbuch hervorgehoben, unmittelbar auf: Ouwê, herze und dîn sin (V. 33). Auch die Schreibung des Heldenbuchs selbst nähert Klage und Autor lautlich wie graphemisch einander an.98 Ähnlich wie Heinrichs von Neustadt Übertragung der Visio Philiberti oder die Mariendichtung Heinrichs von Mügeln ermöglicht auch die Wettkampfordnung von Hartmanns Klage, ihre Konsistenzgewinne zu einer Autorperson zu kondensieren.
Damit öffnen sich weitere Wirkungsebenen von Wettkampfformen, die bis zur Formung ihrer Autorreflexion ausgreifen. Ein gemeinsamer Zug scheint ihr Verlängerungsinteresse zu sein. Statt auf ewigen Frieden, wie ihn die Erzähltradition der Seelenkämpfe seit Prudentius ersehnte,99 zielt Hartmann auf Ausweitung und Vertiefung des Kampfes. Die Klage demonstriert, dass »Täuschung, Verstellung und Verkennen« nicht bloß »komplexe und vielschichtige Erzählmotive« höfischer Literatur bilden.100 Vielmehr erzeugt und sichert ihre Ein- und Ausfaltungsdynamik eine Komplexität literarischer Kommunikationsinstanzen, die begriffsgeschichtlichen Interessen weitgehend verborgen blieb. Hartmanns vergleichsweise kürzerer Text geht damit über eine komplizierte Minnereflexion weit hinaus, als die man die Klage lange verstand und marginalisierte. Ihre Arbeit zielt vielmehr auf Vervielfältigung des Selbst nach Innen, die unter erhöhtem Kontingenzbewusstsein der Rede neue Redemöglichkeiten generiert.