Читать книгу Wettkampfkulturen - Bent Gebert - Страница 52
3.1 Ein kompliziertes Herz
ОглавлениеWettkämpfen kommt für diese Perspektiven besondere Bedeutung zu, scheinen sie doch erzählerische Linearität und Reflexion zu begünstigen, gleichzeitig aber zu brechen. Dies veranschaulichen besonders deutlich Zweikampfszenen wie der Gerichtskampf zwischen Iwein und Gawein, in dem die soziale (Re-)Integrationsgeschichte des Helden ihren Höhepunkt und der Roman ein selbstbezügliches Muster findet.1 Schon seine Ausgangslage ist verwickelt, denn die verwandten Ritter treffen stellvertretend für zwei in Erbstreitigkeiten verfeindete Schwestern aufeinander. Trotz größter Nähe erkennen sich die Zweikämpfer nicht, da Iwein nach geraumer Abwesenheit von der Hofgesellschaft inkognito als Löwenritter auftritt, Gawein aber in fremder Rüstung verborgen erscheint, um seine Parteinahme vor der Artusgesellschaft zu verbergen (V. 6884–6894). Verwandte bekämpfen sich, Freunde prallen im Rechtsstreit als Feinde aufeinander, beide verhüllen sich in fremder ritterlicher Identität – Hartmanns Erzähler reizen solche Verflechtungen, um das Wettkampferzählen im wahrsten Sinne des Wortes doppelbödig werden zu lassen.2 Tief im Herzen der Freunde wohnten zugleich Zuneigung und Feindschaft auf engstem Raum in einem Gefäß:3
[E]z dunchet die andern unde mich
lîhte unmugelich
daz iemer minne unde haz
ensamt sô besitzen ein vaz,
daz minne bî hazze
belîbe in dem vazze
zwâre ob minne unde haz
nie mê besâzen ein vaz,
doch wonte in disem vazze
minne bî hazze
sô daz minne noch haz
gerûmden gâhes daz vaz.
(V. 7015–7026)
Zuneigung und Aggression, minne unde haz (V. 7021) bleiben somit nicht an der Oberfläche des Figurenbewusstseins, sondern nisten sich in den Innenraum des Herzens ein. Den impliziten Rezipienten des Romans provoziert dies prompt zum Widerspruch, dem Hartmann ebenfalls eine agonale Stimme verleiht:4 ich wæne, friunt Hartman, / dû missedenchest daran (V. 7027f.) – ein Irrtum, denn zu eng sei ein Herz für solches Beieinander, Zuneigung und Feindschaft müssten sich ausschließen. Der Erzähler kontert daher mit einer zweiten Unterscheidung:
ir herze was ein gnuoc engez vaz,
dâ wonte ensamt inne
haz unde minne.
si hât aber underslagen
ein want, als ich iu wil sagen,
daz haz der minne niene weiz.
si tæte im anders als heiz
daz nâch schanden der haz
muese rûmen daz vaz;
und rûmet ez doch froun minnen,
wirt er ir bî im innen.
(V. 7044–7054)
Hartmann formuliert eine Doppelhypothese: Zuneigung und Feindschaft müssten sich ›einheizen‹, bis eine das Chaos im Herzen verließe – wenn nicht eine dünne Trennwand ihr Beisammensein in der Einheit des Herzens durch Differenz ihrer Kammern verbürgte.
Wie die Forschung unterstrichen hat, hebt die umständliche Digression des Erzählers auch die Kampfschilderung auf eine eigentümlich »formale Ebene« der Reflexion.5 Aber was leistet diese metaphorische Konstruktion? Einerseits lässt das Bild der Herzkammern jenen Widerstreit von persönlicher Affinität und Rivalität für die Figuren latent werden, der beide von Romanbeginn spannungsvoll als Partner und Konkurrenten am Hof verbunden hatte (vgl. V. 907–918). Während andere Artusromane wie etwa der Parzival Wolframs von Eschenbach derartige Ambiguitäten von Musterrittern durch narrative Neben- oder Nacheinanderordnung gleichsam horizontal aus dem Weg räumen oder zumindest distanzieren, arrangiert sie Hartmann mit der Geheimkammer des Herzens verborgen ineinander. Voraussetzung dafür ist eine Wand des Un-Wissens, wie der Erzähler herausstreicht: [D]iu unkunde was diu want / diu ir herce underbant (V. 7055f.).6 Für den Fortgang der Erzählung ist dies unmittelbar relevant. Denn die Herzkammern sichern zumindest für die nächsten Schritte die Erzählbarkeit des Gerichtsfalls, indem sie paradoxe Verflechtungen der Figuren tieferlegen und ihnen Chaos verbergen: »Der Erzähler bewältigt das Paradox«, wie Klaus Grubmüller konstatiert.7 Auf der Oberfläche des Kampfes stürzen Iwein und Gawein nun als Feinde, nicht aber zugleich als Freunde aufeinander. Erzählerisch kann der Zweikampf damit ohne Ambivalenzen für die Figuren anlaufen (ab V. 7075).8
Umgekehrt sieht es für den Rezipienten aus, für den Irritationen und Handlungsspannung wachsen.9 Denn die Metapher der Herzkammern speichern genau genommen die Paradoxie von Sympathie und Gewalt, die der Wettkampf aufwarf, nur umso tiefer in sich ein. Nicht nur klanglich drängt Hartmanns fünfmaliger Reim von haz / vaz darauf, sich für diesen Innenraum zu interessieren. Auch semantisch verdichtet das Herz zahlreiche Konflikte von minne und haz, die über den Erbstreit der Schwarzdorn-Schwestern und die Freund-Feinde im Stellvertreterkampf aus sämtlichen Teilen der Erzählung zusammengeführt werden: von Iweins Beziehung zu Gawein im Distinktionsmilieu des Artushofs (das gleichermaßen Bewunderung und Ehrkonkurrenz hervortreibt) über die Ambivalenz der ›leicht getrösteten Witwe‹ Laudine gegenüber dem Mörder ihres Mannes (die von Rachewünschen zur opportunen Liebeszusage umschwenkt) bis zu Lunetes jähem Umschlag von Anerkennung zur Anklage Iweins und schließlich dem Aventiureweg des Helden (der aggressiven Selbsthass in solidarisch ausgeübte Gewalt überführt). In unterschiedlichem Grad der Übereinstimmung kann der Rezipient solche und weitere Handlungsbezüge mit der übercodierten Leitunterscheidung von minne und haz im abschließenden Zweikampf verbinden, die tief im Herzen eng beieinanderliegen. Und selbst der metaphorische Raum des Herzens führt frühere Figurenbeziehungen des Romans zusammen, die wie z.B. Iwein und Laudine über die Minnesemantik des Herztauschs verbunden waren.
Doch verdeutlicht das erzählerische Arrangement ebenso deutlich, dass eine Metapher derartige ambivalente Figurenbeziehung allenfalls temporär verdichten und einlagern kann. Indem der Erzähler besonders ihre explosive Nähe (ensamt, bî) und labile Architektur problematisiert,10 potenziert sich die Spannung widerstreitender Affekte – bis sie schließlich gewaltvoll aus dem Herzen hervorbricht. Je länger die Kämpfer einander Widerstand leisten, desto größer wächst ihr Wunsch zu wissen, wer der andere sei (V. 7374f.). Anfangs eingelagert im Herzen, bricht solche Latenz des Nichtwissens schließlich auf. Zwei Schleifen dehnen daraufhin den Zweikampf – man kämpft vom Morgen bis zum Mittag und pausiert, nimmt den Kampf vom Nachmittag bis zur Nacht auf und pausiert erneut11 –, bis die Aggression versiegt (V. 7365). Am zweiten Zweikampftag fühlen sich die Ritter im wahrsten Sinne des Wortes ›überlastet‹. Und dies nicht nur durch die gleichrangige Kampfkraft des Gegenübers, sondern ebenso durch die latente Sorge, einander als Feinde begegnen zu müssen, wie Gawein gesteht:
wir sîn in gelîchen sorgen.
mîn herce ist leides uberladen,
daz ich ûf iuwern schaden
iemer sol gedenchen.
(V. 7454–7457)
Als beide ihre Namen aufdecken (nicht nur Gawein [V. 7471], sondern auch Iwein weiß sich überraschend unkompliziert zu nennen [V. 7483]), muss die Feindschaft das Herz verlassen, wie der Erzähler herausstreicht (V. 7491–7494). Doch wuchern die strukturellen Verflechtungen des latenten Wettkampfs weiter fort, wird die Herzmetapher von Nähe und Trennung fortgeführt. Von wessen Herz ist eigentlich die Rede – Iweins, Gaweins oder, verstanden als eine Art übergreifender Modellrede, beider? Der Erzählerexkurs lässt dies in der Schwebe;12 zwar spricht Gawein von gemeinsam geteilter Sorge, doch nur von seinem Herzen (min herce). Auch die Handlungen der Kämpfer werden stets nur im Plural geschildert, »so dass ein vages Bild des Kampfes entsteht«.13
Auf Handlungsebene sind die latenten Paradoxien des Kampfes trotzdem keineswegs getilgt. Im Kampf hatten sich die Gegner ihre absolute Gleichrangigkeit bewiesen, doch ein Gerichtskampf verlangt Entscheidung – aller Freundschaftsgesten zum Trotz.14 Und so bietet Iwein wortreich seine Unterwerfung an: Da Gawein ihm stets zuvor Ehre erwiesen habe, wolle nun er sich freiwillig zu Dienst verpflichten (V. 7523–7566). Gawein aber hält dagegen: Ein derart großmütiges Freundschaftsangebot könne er nicht annehmen, vielmehr wolle er sich als sigelôse[n] ergeben (V. 7567–7578). Iwein legt nach und insistiert – selbst wenn Gawein ein gänzlich Fremder wäre, sei es an ihm, sich zu unterwerfen (V. 7579–7587)! –, was Gawein abermals verweigert (V. 7588–7590). Vom Kampf mit Lanzen und Schwert wechseln beide zum strît mit Worten. Noch bevor König Artus den Ausgang des Gerichtskampfes festsetzen kann, verfangen sich Gawein und Iwein wieder in paradoxen Stricken von affektiver Zuneigung und symbolischer Konkurrenz, wem scham und êre zuzuschieben seien.15 Wieder werden dadurch soziale Bezüge durch schwierige Negationen vervielfältigt: hie was zorn âne haz (V. 7642).16 Trotz solcher Beteuerung aber spiegelt das Wortgefecht zwischen Iwein und Gawein, wie das Wissen um Nähe nur neuerlich befeuert. Und wie in zahlreichen Zweikämpfen zieht auch Hartmanns Freundschaftskampf noch in seinem Nachgefecht auffällig lange Schleifen, wie der Erzähler hervorhebt: sus werte under in zwein / âne lôsen lange zît / dirre friuntlîche strît (V. 7590–7592). Betrachtet die Iwein-Forschung den Kampf gemeinhin als beendet,17 könnte man also geradezu umgekehrt sagen: Sobald sich die Freund-Feinde erkennen, wächst der Streit über den regulierenden Rahmen des rituellen Waffengangs hinaus.
Die ausgeprägten Metakommentare der gesamten Passage unterstreichen, dass es dem Roman gezielt auf diese Schleifenkonstruktion von Innerem und Äußerem, erzählter Interaktion und Wettkampfkommunikation ankommt. Hartmann nutzt dabei das mehrfache Strukturierungspotential der Herzmetapher zwischen religiöser und körperlicher Semantik, um konträre Emotionen in räumliches Nebeneinander zu überführen (in Hartmanns Worten: minne bî hazze zu lagern, V. 7019 und 7024). Oder formal zugespitzt: Einschluss wird möglich, der doch Differenz garantiert; Subordination im Innenraum und Koordination im Nebeneinander werden kombinierbar.
Die Mikropoetologie der Herzmetapher eröffnet einen besonderen Zugang zur Wettkampfstruktur des Iwein, weil sie eine besondere Arbeit an interner Differenz zu erkennen gibt. Dies bestätigt auch ein kurzer Blick auf Hartmanns Vorlage. Zwar prägt schon Chrétiens de Troyes Yvain die Behältermetaphorik vor: Beim Kampf der Freunde fänden Liebe und Hass wundersamerweise in einem Gefäß (veissel) zusammen wie in einer Herberge (ostel) mit vielen Räumen und Geheimkammern (chanbre celee).18 Chrétiens Raumvergleich ordnet die Oppositionsbeziehung so zwar nebeneinander und unzugänglich, doch erst Hartmann deklariert diesen Raum als Innenraum des Herzens und modelliert damit Einlagerung, die als labil ausgewiesen wird. Entsprechend stärker prägen die deutsche Bearbeitung dynamische Wechsel von Ein- und Auslagerung: Während Chrétien die Paradoxie des Widerstreits in der Erzählerstimme bündelt und argumentativ entfaltet,19 lässt sie Hartmann von der Außenhandlung (Rechtsstreit der Schwestern, Gerichtskampf der unerkannten Freunde) ins Subjektinnere (Herzmodell) und wieder zurück in den Raum äußerer Wahrnehmung wandern (Unterwerfungsdialog). Auch Chrétien erzählt vom Waffen- und Rededuell der Freunde in Schleifen. Doch Hartmann ergänzt, dass dabei Aggressionen aus dem verborgenen Gefäß wieder heraufsteigen (V. 7491–7494). Erzählt der französische Roman vom Ehrproblem verwandter, gleichrangiger Artusritter mittels Wiederholungsstrukturen, so könnte man also zusammenfassen, zieht Hartmann diese Probleme in bzw. aus der Latenz. In beiden Fällen erhält die Episode sowohl dank ihres Umfangs wie ihrer erzählerischen Gestaltung große Aufmerksamkeit. Sie kann daher als eine Schlüsselszene gelten, die dreierlei offenlegt:
(1.) In erster Linie verdeutlicht sie die fortgesetzte Komplexitätsbildung des Wettkampferzählens: Zwar geben Rechtsstreit und Gerichtskampf die Unterscheidungslogik von Sieg und Niederlage und damit den Bedarf einer asymmetrischen Entscheidung vor, doch stößt dies allenfalls die Dynamik eines Zweikampfs an, der gleichsam unbegrenzt fortläuft und dabei Innen- und Außenrelationen ineinander übersetzt. Dass sich dieser Prozess nur unter größtem Aufwand und nur durch äußere Faktoren, nicht aber aus seiner eigenen Logik heraus unterbrechen lässt, zeigt der befremdliche Ausgang der Kampfzyklen. Gegliedert werden sie nur von Erschöpfungspausen, nicht durch ein formales Ende.20 Wie kann König Artus dann als Gerichtsherr jene Entscheidung herbeiführen, die der Rechtsfall der Schwarzdornschwestern nun einmal braucht (V. 7649–7652)? Artus stellt bekanntlich eine simple Falle, indem er jene Klägerin aufruft, die durch ir ubermuot das Erbteil ihrer Schwester unterschlage – und die Schuldige tappt prompt hinein, indem sie dem Aufruf folgt (V. 7660: ich bin hie). Auf den gesamten Roman betrachtet, fügt sich dieses Manöver in die Reihe sprachlicher Listen ein, die auf vorschnellen Zusagen beruhen. Was liegt also näher, als die Beweiskraft unbedachter Worte zu bestreiten, wie es die ältere sogleich Schwester tut?21 Artus aber verweist auf die Faktenlage des Gerichtskampfes: ez giht mîn neve Gâwein / daz er den sic verlorn habe (V. 7696f.), was alle anerkennen müssten. Ein eigenartiger Urteilsspruch: Hatte nicht Iwein dasselbe zuerst von sich behauptet? Und weshalb muss der Richter dafür an den Konsens der Verurteilten appellieren? Wenn Fangfrage und Verplappern der Beschuldigten den Gerichtskampf durch ein Trickmuster zu umgehen versuchen, indem sie sein Ergebnis völlig überflüssig machen, so legt die willkürliche Urteilsbegründung offen, dass der Gerichtskampf selbst gerade kein Ergebnis förderte. Seine Komplexität löst sich stattdessen in unscharfen Enden auf, die durch Taschenspielertricks nur kurz zu überdecken, nicht aber endgültig zu fassen oder festzustellen sind.22 Solche ›unscharfen‹ Enden prägen den Roman über den Gerichtskampf hinaus.23 Sie sind für die höfischen Ordnungsgaranten des Romans von größter Bedeutung, weil Artus aufgrund ihrer Unschärfe den Gerichtskampf zwischen Iwein und Gawein zugleich als überflüssig behandeln und als entscheidungsrelevant erklären kann.
(2.) Reflektiert wird dieser Umstand nicht. So eindringlich Erzähler und Figuren auch wünschen, aufzudecken und zu erkennen (V. 7370–7375, 7427 etc.), so lebt die Szene vor allem von Verdeckung und Verkennen – eine Zumutung für die Praxis öffentlicher Konfliktführung.24 Motivlich setzt dies ein, wenn Rüstungen und Emotionen der Kämpfer dafür sorgen, daz sî dâ wâren unerchant (V. 7517–7522), und setzt sich diskursiv fort, wenn Iwein die Nacht dafür lobt, Sieg und Niederlage aufzuschieben.25 Strukturgewinne spielt der Zweikampf frei, indem er zunächst gerade nicht offen legt, sondern verbirgt; und selbst als die Zweikämpfer sich namentlich zu erkennen geben, hindert sie dies nicht, den Wettkampf in dialogischer Form fortzusetzen. Mit seiner Herzmetapher vertieft der Erzähler somit ein Wettkampfmuster des latenten Nicht-Wissens, das Abgrenzungen zunächst zu sichern scheint, aber im nächsten Schritt nur umso tiefer verwirrt. Diese Dynamik bleibt natürlich nicht verborgen, weder für die intradiegetischen Zuschauer noch für den Rezipienten. Trotzdem erscheint der Zweikampf wie ein Emergenzphänomen. Ein tapferer Mann hasst keinen tapferen Gegner, wenn dieser ihm auch Schaden zufügt – Daz wart an in zwein wol schîn, bekräftigt Hartmann das Wettkampfparadox (V. 7369), unmittelbar bevor Iwein und Gawein ihre Identität enthüllen. Das aber heißt: Keiner der Figuren für sich genommen ist diese paradoxe Form in vollem Maß bewusst oder verfügbar. Vielmehr zeigt sich im literarischen Zweikampf (schîn), was mehr ist als die Summe der Akteure. Das wirft im wahrsten Sinne des Wortes narratives Kapital ab, wie sich wiederum im Vergleich zu Chrétien zeigt. Dass gleiche Gegner wie Iwein und Gawein einander nichts schuldig bleiben, ihr Kampf aber trotzdem Überschüsse produziert, vergleicht Hartmann (sechsfach ausgedehnter als seine Vorlage26) mit Leihen und Schulden, Rückzahlungen und Zinserträgen (V. 7143–7227). Was als lebensweltlicher Scherz befremden könnte (Artusritter als Kaufleute?), ist ein komplexitätstheoretisch sensibler Vergleich: Wie die Form des Zweikampfs allgemein ihre Gegner einander zurechnet, so lassen sich latente Wettkämpfe im Besonderen nur durch weitere formale Investitionen aufdecken, nicht aber in einem punktuellen Zustand oder Bewusstseinsakt bündeln. Dies ist für den gesamten Roman von Bedeutung, dessen Protagonist zu keinem Erzählzeitpunkt soziale Motive, Verpflichtungen oder Identität zu bündeln und bewusst zu halten vermag.
(3.) Paradigmatisch ist der Gerichtskampf zwischen Iwein und Gawein schließlich für ein Wettkampferzählen, dessen untergründige Paradoxien über sich hinaus wuchern.27 Im Widerstreit von Verbergen und Enthüllung entwickelt der Zweikampf zwei Schleifen von je drei Wendungen, bevor Artus eingreift. Gleichzeitig ist die gesamte Episode Teil einer Erzählstruktur, die ebenfalls mehrfach aus- und einlagert. In zwei Gerichtskämpfe – um Lunete und sodann im Erbstreit der Schwarzdorntöchter – werden Aventiuren mit Wettkämpfen gegen Riesen eingelagert. Zweimal taucht Iwein damit in Binnenerzählungen hinein und wieder auf, um sich dem Gerichtskampf abschließend zu stellen. In zeitlicher Hinsicht werden dadurch Handlungsaufschub und Erwartung gedehnt,28 in formaler Hinsicht werden Wettkämpfe in die Kontexte übergeordneter Wettkämpfe komplex eingeordnet.29 Für die ältere Forschung erwuchsen daraus Fragen an die Schemavariationen des Doppelwegs. Entscheidender für die Fragestellung dieser Arbeit ist jedoch die Beobachtung, dass der Iwein-Roman auch in seiner Makrostruktur ähnlich mit Ein- und Auslagerungsbeziehungen experimentiert, wie sich offener Streit der Schwestern zum paradoxen Wettstreit im Herzen der Gerichtskämpfer verpuppt, von wo er wieder zur öffentlichen Konkurrenz um Ehre hervorbricht, die schon zu Romanbeginn die Erzählrunde der Artusritter bestimmte.
Iweins Wettkampf mit Gawein markiert somit Ausgangs- und Schlusspunkt des Aventiurewegs zugleich. Traditionell hatte ihm die Forschung daher ein hohes symbol- und erzählstrukturelles Gewicht beigemessen, ohne seine Entwicklungsrichtung grundlegend infrage zu stellen. Könnte die paradoxe Form des latenten Kampfes, auf die Hartmanns Bearbeitung besonders hinweist, damit den Roman ebenfalls grundlegender prägen, als thematisch orientierte Lektüren zu zeigen vermochten? Mehrfach unternimmt der Iwein-Roman schließlich Versuche, die Unterscheidungskraft von Kämpfen in komplexem Nebeneinander einzulagern und wiederum Differenzen auseinander zu stellen, also koordinativ und subordinativ zu ordnen. Dadurch entsteht eine Reihe experimenteller Relationen, die je nach Zugriff übereinander und nebeneinander erscheinen können: Im Blick auf die Identität des Protagonisten, die sich als ritterlicher Habitus phasenweise über die schmutzige Haut der Wildheit schichtet, Iwein aber ebenso in metonymischer Gestalt seines Löwen zur Seite steht; in den Sphären männlicher bzw. weiblicher Landesherrschaften des Artus- bzw. Laudine-Hofs, die sich nebeneinander behaupten, Iwein jedoch in Priorisierungsprobleme verwickeln; aber auch auf Ebene übergeordneter Erzählschemata, die Iweins Fristversäumnis, Flucht und Rückkehr in die höfische Welt nebeneinander als Rechtsbrecherroman (Volker Mertens), Erlösergeschichte und Feenmärchen lesbar machen (Ralf Simon), die zugleich von der Desintegration und Reintegration der ritterlichen Person in die höfische Kultur handeln (Bruno Quast). Hartmanns zweiter Artusroman scheint an solchen Kombinationen von horizontalen bzw. vertikalen Strukturen zu arbeiten, die ineinandergreifen können, sich aber ebenso nebeneinander stellen lassen. Wie weit trägt es für die Erforschung des Romans, eine dieser Lektürehypothesen zu bevorzugen?
Die folgende Analyse sucht stattdessen zu erweisen, dass Hartmanns Iwein eine spezielle »Komplexitätstoleranz« gegenüber solchen Strukturfragen auslotet:30 im Erzählen von Wettkämpfen, die zwar nacheinander dargeboten, auch gelegentlich verschachtelt werden, unter formalen und funktionalen Gesichtspunkten jedoch weder auf Linearität noch auf Fixzustände zielen. Vielmehr erlaubt der agonale Erzählmodus der Latenz, zwischen geringeren oder größeren Komplexitätsgraden hin- und herzuwechseln, Vielfalt aufzudecken oder zu verbergen. Für biographisch fundierte Erzählkonzepte wie für Konfliktlösungserwartungen des Artusromans liegt darin zum einen die Zumutung, Identitäten weniger als Fortschritte von Krisenbewältigung, Lernwegen und Einsicht zu betrachten, sondern als komplexe Inkorporierungsdynamiken des Ein- und Ausschließens (von Beginn an verbirgt Iwein seine Pläne und Verpflichtungen in sich, V. 2962, die er nach dem rhetorischen Muster des Selbstgesprächs ausführlich mit dem Rezipienten teilt);31 zum anderen konfrontiert Hartmanns Iwein mit ritterlichen Kämpfen, die soziale Ordnung nicht schärfen und disambiguieren, sondern bis zuletzt verunsichern. Die Form der Latenz macht derartige Komplexität skalierbar: Sie wird erträglich, indem sie Unterscheidungen aufdeckt und vervielfältigt, aber ebenso zu kondensieren, zu verdecken und scheinbar zurückzunehmen vermag. Weil diese Vervielfältigung von Identität auf einer Erzählkunst der Dosierung beruht, bezeichne ich sie im Folgenden als ›höfische Latenz‹.
Ich rekonstruiere dieses Experiment in drei Schritten, indem ich zunächst einen Blick auf Vervielfältigungsstrategien des Romans werfe. Sie prägen verschiedene Motive, Handlungen und Erzählerkommentare, die verborgene Differenzen aufdecken: Sie enthüllen die Schichten von Iweins Körper, öffnen sich geradezu bodenlos in der Frage nach der Identität des Löwenritters; sie werden in öffentlichen Anklageszenen artikuliert und in Gerichtskämpfen inszeniert, aber auch im strît des Erzählers mit frou minne auf Diskursebene verdoppelt, der Iweins latente Doppelverpflichtung als Artus- und Laudineritter offenlegt. In einem zweiten Schritt ist anschließend zu fragen, welche Gegenbewegungen diese Kämpfe und Differenzen wiederum verbergen. Drittens prägen Aufdecken und Verbergen nicht nur die Ebene der Wahrnehmung, sie erschöpfen sich weder in rhetorischer Imaginationssteuerung noch in der Problematisierung von Erkennensvorgängen, wie sie die Forschung registrierte.32 Ihr Zusammenspiel, so die Synthese, etabliert vielmehr Transformationsbeziehungen der Latenz, die in umfassendem Sinne Figuren und ihre Relationen, erzählte Entwicklungen wie auch den Erzählprozess selbst zwischen Einfachheit und Komplexität changieren lassen.